Ist die pessimistische Weltsicht eines Depressiven der buddhistischen Weltsicht zu ähnlich und deshalb nicht als Heilsweg geeignet?
Der deutsche Dichter Christoph Martin Wieland (1768) schreibt in einem Vers:
Verdrossenheit und Trübsinn malte sich
In Blick und Gang und Stellung sichtbarlich.
Diese Zeilen machen deutlich, wie ein an Depressionen Erkrankter von seiner Mitwelt wahrgenommen wird. Wie anders hingegen der Buddha kurz vor seinem Dahinscheiden: Da humpelt ein altes, runzliges Männlein durch Nordindien, hat alle üblichen Altersbeschwerden und – wie es einer meiner Studenten metaphorisch so schön ausgedrückt hat – singt: „Schön ist es auf der Welt zu sein!" Nicht: „Halleluja, bald ist alles vorbei!", sondern: „Schön ist es auf der Welt zu sein!" Das ist der Zustand des Erlösten, der wirklich sagen kann: „Tod, wo ist dein Sieg, Tod, wo ist dein Stachel?!" (1. Korinther 15,55). Wäre also Buddhismus nicht die ideale Behandlung von Depressionen?
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich spreche hier von der furchtbaren Krankheit Depression, die oft tödlich ist, weil sie zur Selbsttötung führt. Ich habe den Eindruck, dass man heute oft von Depression spricht, wo es sich um – sehr schwere – Traurigkeit, Frustration und Leiden handelt, wie sie Bestandteil unerlösten menschlichen Daseins sind, die in der ersten edlen Wahrheit beschrieben werden: „Geburt ist leidvoll; Altern ist leidvoll; Krankheit ist leidvoll; Sterben ist leidvoll; mit Unlieben vereint sein, ist leidvoll; von Lieben getrennt sein, ist leidvoll; und wenn man etwas, das man sich wünscht, nicht erlangt, ist das leidvoll." Von dem ist hier nicht die Rede, sondern von echter endogener Depression.
Diese schwere Krankheit wird von den Betroffenen und ihren Angehörigen häufig nicht als solche erkannt. Deswegen reagiert die Umwelt oft völlig falsch mit moralischen Appellen und dergleichen. Ich gebe darum die sehr anschauliche Beschreibung auffälliger Symptome wieder, die Oswald Bumke 1929 in seinem ‚Lehrbuch der Geisteskrankheiten' dargelegt hat (Bumke nennt Depression noch Melancholie):
„In schweren Fällen von Melancholie lässt sich die Zustandsdiagnose oft schon nach dem ersten Eindruck stellen. Die Kranken zeigen einen traurig-gedrückten, in sich gekehrten Gesichtsausdruck, an dem besonders das tränenlose Weinen, d.h. das Fehlen der Tränen bei einem Gesichtsausdruck, der dem Weinen entspricht, auffällt; alle Bewegungen sind gehemmt, das Auftreten ist schüchtern oder wenigstens übertrieben bescheiden. Der Kranke drückt sich mit gesenktem Kopf an den Wänden entlang, geht seinen Bekannten aus dem Wege und gönnt sich kaum einen Platz auf dem angebotenen Stuhl. Wer ihn von früher kennt, bemerkt sein gealtertes, ungepflegtes Aussehen, den müden, schleppenden Gang, das wortkarge, stille, befangene Wesen. Seine Antworten erfolgen langsam und zögernd; die Sprache ist leise, monoton und gepresst; der Kranke ist mit allem einverstanden, ängstlich bemüht, nicht aufzufallen, und meist außerstande, eine eigene Meinung zu äußern. Jeder Entschluss wird ihm schwer, selbst die gewohnte Arbeit geht ihm nicht von der Hand, seine Lebensführung wird sparsam oder selbst geizig. Erreicht die Störung höhere Grade, so werden die Patienten ganz still oder bewegungsarm – bis zum Stupor [Körperstarre] – oder sie jammern laut, rennen aufgeregt hin und her und suchen in unruhigen Bewegungen und manchmal sogar in Gewalttaten eine Entladung für ihre innere Spannung."
Bumke beschreibt auf weiteren sieben Seiten die unterschiedlichen Symptome verschiedener Arten von Depression sehr verständlich.
Doch zurück zu unserem Thema ‚Buddhismus und Depression'. Ist nicht die pessimistische Weltsicht eines Depressiven ähnlich der buddhistischen Weltsicht?
Die Gedanken Depressiver sind ja oft nicht Wahnideen, sondern haben unter Umständen eine reale Grundlage. Auch vom Buddhismus sagen viele, er sei eine pessimistische Weltanschauung. Ich will hier keinen Wortstreit über den angeblichen Pessimismus des Buddhismus führen. Ich weise nur darauf hin, dass man genauso gut sagen könnte, dass der Buddhismus außerordentlich optimistisch ist, besteht doch die buddhistische Grundüberzeugung darin, dass Erlösung und Beendigung des Leidens eine Option für uns Menschen ist. Wir sind also nicht einfach nur durch die Evolution und unsere Geburt ins Leiden geworfen; wir haben auch die Möglichkeit, dieses Leiden durch ein sittliches Leben zu vermindern und durch die Verwirklichung des achtfachen Pfades zu beenden. Ein solcher Optimismus muss Pessimisten als Illusionismus erscheinen. Dieser Optimismus ist es, der Depressiven abgeht und wohl das Scheitern vorprogrammiert, sollten Depressive versuchen, zur Heilung ihrer Krankheit den buddhistischen Heilsweg zu wählen.
Buddhisten sollten keine Miesmacher sein, die ihren Mitmenschen ständig eine falsch verstandene erste edle Wahrheit vorhalten, um ihnen den letzten Rest an Lebensfreude auszutreiben. Im Gegenteil: Das dritte Vergehen, wodurch sich ein Mönch durch die Tat selbst aus dem Orden ausschließt (pārājika), lautet unter anderem: „Wenn ein Mönch ... den Tod verherrlicht oder jemanden zum Selbstmord ermuntert, indem er sagt: ‚Mein Lieber, was hast du von diesem üblen Leben?! Der Tod ist für dich besser als Leben.' – Ein solcher Mönch ist ipso facto kein Mönch mehr, er ist aus der Gemeinschaft der Mönche ausgestoßen."
Im Grunde ist der ganze von Buddha gelehrte Heilsweg so, dass ihn ein Depressiver kaum erfolgreich gehen kann. In der U&W-Ausgabe 70, S. 56 wurden die sieben ‚Glieder der erlösenden Erkenntnis' (bojjhaṅga) vorgestellt. Viele dieser Glieder sind das Gegenteil dessen, was die Schulmedizin als Symptome einer ‚depressiven Episode' nennt:
- Das Interesse und die Konzentration sind vermindert (ICD) – volle Aufmerksamkeit und Achtsamkeit (sati) (1. Glied)
- Gegenvorstellungen werden nicht zugelassen (Bumke, 1929) – klares und kritisches Erfassen der Lehre (dhammavicaya) (2. Glied)
- Verminderung von Antrieb und Aktivität, ausgeprägte Müdigkeit (ICD) – ausdauernde Energie (viriya) (3. Glied)
- Gedrückte Stimmung, verminderte Fähigkeit zur Freude (ICD) – begeisterte Freude (pīti) (4. Glied)
- Gedrückte Stimmung (ICD) – besonnene Ruhe (pasaddhi) (5. Glied)
- Verminderte Konzentration (ICD) – Sammlung (samādhi) (6. Glied)
- Schuldgefühle oder Gedanken über eigene Wertlosigkeit (ICD) – Gelassenheit und Gleichmut (upekkhā) (7. Glied)
Man könnte das alles noch viel weiter ausführen. Das Gesagte genügt aber, um zu sehen, dass bei einem Depressionskranken die – wohl biologisch bedingten – Voraussetzungen für den buddhistischen Heilsweg nicht gegeben sind.
Wer an Depressionen erkrankt ist, sollte sich nicht irgendjemandem oder irgendeiner Weltanschauung anvertrauen, sondern gehört in die Hand eines kompetenten Arztes, der die Möglichkeiten der Behandlung kennt. Wieweit ein solcher Arzt auch Aspekte buddhistischer Meditation in die Therapie einbauen kann, weiß ich nicht. Nicht-Ärzte sollten die Finger von solchen Versuchen lassen! Buddha hatte eine hohe Meinung von Ärzten und pfuschte ihnen nicht ins Handwerk. Ich will es ebenso unterlassen, stümperhaft buddhistische ‚Rezepte' gegen Depression zu geben.
Ich selbst litt an Depression. Sie machte mir und meinen Nächsten oft das Leben zur Hölle. Da verschrieb mir eine Ärztin das rechte Medikament und die depressiven Perioden verschwanden. Erst ohne Depression konnte ich auf dem Weg Buddhas erste Schritte versuchen.
Ich wünsche allen an Depression Erkrankten, dass sie einen guten Arzt, eine gute Ärztin finden, der/die sie von den für sie und ihre Angehörigen schrecklichen Krankheitssymptomen befreit, so dass sie sich nicht mehr in der Strophe von Anna Louisa Karsch (1792) wiedererkennen müssen:
Unter dem Tumult der Sorgen
Werd ich jetzt die Sonne nicht gewahr!
Mir erscheint kein heitrer Morgen
Und für mich bekränzt sich nicht das Jahr!
Blumen, Lenz und Lieder
Sind mir nur zuwider,
Und das grüne Tal ergötzt mich nie,
Selbst die Nachtigallen singen
Mir Melancholie!
Möge es vielen von uns gelingen, trotz Enttäuschungen und Verlusten, mit dem greisen Buddha sagen zu können: „Schön ist es auf der Welt zu sein!"