Weltweit leiden rund 40 Millionen Menschen an Depressionen. In den westlichen Industrieländern sind bis zu 30% der Bevölkerung wenigstens einmal im Leben von dieser psychischen Störung, einschließlich Gefühllosigkeit, betroffen.
Der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace, der im September 2008 mit nur 46 Jahren starb, begann eine Rede, die er im Jahre 2005 bei der Abschlussfeier eines US-Colleges gehalten hatte, mit einer kleinen Geschichte: Zwei junge Fische begegnen schwimmend einem alten Fisch, der in die Gegenrichtung schwimmt. Der alte Fisch fragt im Vorüberschwimmen: „Na, wie gefällt euch das Wasser?" Die jungen Fische schwimmen zunächst noch ein Stück weiter, dann fragt der eine den anderen verwundert: „Was zum Teufel ist Wasser?! Und warum fühlen wir manchmal diese Gefühllosigkeit?"
Nicht nur das Leben als solches, auch der medizinische Fortschritt wird durch solche Paradoxien bestimmt: Viele für den Menschen lebensnotwendige Faktoren wurden erst dadurch erkannt, dass sie nicht vorhanden waren und ihr Mangel zu Krankheit oder Tod geführt hat. Mit dem Sinn verhält es sich ganz ähnlich wie mit dem Wasser bei den jungen Fischen. Wer in seinem Leben nie einen Mangel an Sinn erlebt hat, wer nie die Qual erlebt hat, die ein Mensch erleidet, dem das Gefühl für den Sinn des eigenen Lebens abhandengekommen ist, dem wird die Frage nach dem Sinn wahrscheinlich genauso unbegreiflich erscheinen wie den beiden jungen Fischen die Frage nach dem Wasser. Oft ist es paradoxerweise also erst der Mangel, der uns in die Lage versetzt, die Bedeutung eines Phänomens zu erkennen. Wenn es nun – ähnlich wie im Falle des Skorbut bei einem Mangel an Vitamin C – eine Erkrankung gäbe, die durch Sinnmangel verursacht wäre, könnte uns dies vielleicht helfen, der medizinischen Bedeutung des Sinns auf die Spur zu kommen.
Gibt es eine Sinn-Mangelerkrankung? Ja, es gibt sie. Sie ist eine ernste und in nicht wenigen Fällen sogar tödliche Krankheit. Ihr Name: Depression. Depressive Erkrankungen sind keine Bagatellerkrankungen – sie stellen einen qualvollen, von den Betroffenen weder durch Willensakte noch durch sonstige selbstveranlasste Maßnahmen beeinflussbaren Zustand dar. Kennzeichen der Depression sind ein Gefühl anhaltender innerer Leere, über Wochen und Monate gehender Antriebsverlust, ein andauerndes ‚Gefühl der Gefühllosigkeit' und eine qualvolle Empfindung völliger Sinnlosigkeit des eigenen Daseins. Dieser peinigende Zustand ist es, der nicht wenige depressiv Erkrankte suizidal werden lässt.
David Foster Wallace, der Autor der kleinen Geschichte mit den Fischen, litt an der Gemütserkrankung und nahm sich deshalb das Leben. Auch der Freitod des Fußballers Robert Enke aus Hannover im November letzten Jahres hat viele Menschen ganz besonders berührt, denn er war keiner dieser Aufschneider, wie man sie im Spitzensport heute häufig findet. Er war ein ganz ‚normaler' Mensch, ein Mensch wie viele unter uns: bescheiden im Auftreten, pflichtbewusst und voller Hingabe an seine Arbeit.
Anzeichen einer Depression
Haupt-Symptome:
- Depressive Stimmung
- Verlust von Interesse und Freude
- Erhöhte Ermüdbarkeit
Zusatz-Symptome:
- Defizite bei Konzentration, Aufmerksamkeit und Gedächtnis
- Reduktion von Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
- Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit
- Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven
- Suizidgedanken oder Suizidhandlungen
- Schlafstörungen
- Verminderter Appetit
- Gefühl der Gefühllosigkeit
Wenn wir in Bezug auf die oben angeschnittene Sinnfrage noch einen Schritt weitergehen, können wir uns eine Frage stellen, die im Falle des Skorbut so lauten würde: Wenn der Skorbut eine Vitamin C-Mangelerkrankung ist, welche Nahrungsmittel müssen Menschen zu sich nehmen, um ihren Vitamin C-Bedarf zu stillen? Wie jedermann weiß, lautet die Antwort: frisches Obst und Gemüse. Man könnte nun analog dazu fragen: Wenn die Depression eine Sinn-Mangelerkrankung ist, welche Bedürfnisse müssen befriedigt werden, welche ‚Nahrung' ist erforderlich, um den Sinnbedarf des Menschen zu stillen? Vermutungen und Hypothesen darüber, um welche Bedürfnisse es sich handelt, gibt es schon lange, sowohl seitens der Philosophie als auch der Psychologie. Doch viele Menschen geben sich mit Vermutungen und Hypothesen nur ungern zufrieden. Um diese Skeptiker zu überzeugen, bedurfte es der Erkenntnisse der modernen Neurobiologie. Sie hat in den letzten Jahren tatsächlich Antworten auf die Frage gefunden, welche Bedürfnisse zu befriedigen sind, welcher ‚Nahrung' es bedarf, um den menschlichen Organismus vor einer Sinn-Mangelerkrankung wie der Depression, einschließlich Gefühllosigkeit, zu schützen.
Die Antwort der modernen Neurobiologie lautet: Der Mensch braucht, um keinen Sinnmangel zu erleiden und nicht in Depression zu verfallen, zwischenmenschliche Anerkennung, Zuwendung und Sympathie. Wir benötigen, um Sinn zu erleben, andere Menschen, für die wir Bedeutung haben. Menschen brauchen, um gesund zu bleiben, Bindungen. Das Bedürfnis nach Bedeutung, Wertschätzung und Anerkennung ist also keineswegs nur ein psychologisches Bedürfnis, sondern es handelt sich – wie neurobiologische Studien zeigen – um ein biologisches Bedürfnis! Menschen, die den Verlust einer Bindung oder einen schwerwiegenden und lang anhaltenden Mangel an Wertschätzung durch andere erleiden, erleben eine messbare Veränderung ihres neurobiologischen Substrats: Die sogenannten Motivationssysteme des Gehirns stellen die Synthese von lebenswichtigen Botenstoffen wie dem Glückshormon Dopamin ein, gleichzeitig kommt es zu einer Aktivierung der neurobiologischen Stress- und Angstsysteme (mit einem Anstieg der Stressbotenstoffe Cortisol und Noradrenalin). Das psychische Korrelat dieser neurobiologischen Veränderungen sind Gefühle der Sinnlosigkeit, der Leere, der Angst, des Selbstzweifels und des Lebensüberdrusses.
David Foster Wallace
Einteilung der Depression: Diverse Formen?
Depressive Episode:
Hierbei handelt es sich um eine Depression mit meist phasenhaftem Verlauf. Außerdem wird zwischen Schwere und Verlaufsart unterschieden:
- Leichte depressive Episode
- Mittelgradige depressive Episode
- Schwere depressive Episode
Dysthyme Störung:
Sie ist die chronische Form einer depressiven Verstimmung, die nicht alle diagnostischen Kriterien für das Vollbild der Depression erfüllt. Die Symptome müssen mindestens zwei Jahre lang anhalten. Ein Patient, der an Dysthymie leidet, kann zwischendurch zusätzlich noch depressive Episoden durchleben – in diesem Fall verwendet man im englischen Sprachraum den Ausdruck ‚double depression'.
Die Depression ist eine komplexe Erkrankung. Das Problem von Menschen, die zu depressiven Erkrankungen neigen, besteht nicht etwa einfach ‚nur' darin, dass sie von anderen Menschen nicht genügend Wertschätzung erhalten haben. Zwar können externe, also von außen kommende Faktoren für die Auslösung einer depressiven Erkrankung eine sehr bedeutende Rolle spielen, z.B. übergroßer Leistungsdruck am Arbeitsplatz bei gleichzeitig fehlender Wertschätzung – eine Situation, wie sie derzeit sehr viele Menschen erleben. Diesen äußeren Faktoren ist durchaus Gewicht beizumessen. Bei Menschen, die depressiv erkranken, kommt jedoch ein weiterer, nämlich ein innerer Faktor zum Tragen: Personen mit erhöhtem Depressionsrisiko können die liebevolle Unterstützung oder Zuwendung anderer schlecht an sich heranlassen. Der Grund dafür ist, dass viele Depressive in den frühen Jahren ihres Lebens einen mehr oder weniger starken Mangel an bedingungsloser Liebe erfahren haben. Viele, die später depressiv erkranken, standen bereits als Kinder unter hohem Leistungs- oder Anpassungsdruck und mussten sich die ersehnte liebevolle Zuwendung sozusagen ‚hart erarbeiten'. Erfahrungen dieser Art prägen einen Menschen, sie lassen eine besondere innere Haltung entstehen – die psychotherapeutische Medizin spricht hier von einem inneren ‚Schema', das bei zur Depression neigenden Menschen mit einem tiefen Gefühl verbunden ist: „Wenn ich keine besonderen Leistungen erbringe, bin ich nichts wert. Bin ich nicht besonders gut, dann können mich andere nicht lieben. Wenn ich keine Leistungen erbringe und andere mich nicht lieben, kann auch ich selbst mich nicht lieben."
Leistung ist der Dreh- und Angelpunkt, an dem sich für Menschen mit erhöhtem Depressionsrisiko entscheidet, ob sie sich als liebenswert empfinden und ob ihr Leben einen Sinn hat. Wir alle tragen eine Spur dieses inneren Schemas in uns. Bei Menschen, bei denen das depressive Schema besonders ausgeprägt ist, kann die vorbehaltlose Liebe eines anderen Menschen, selbst dann, wenn sie angeboten wird, nicht mehr ins eigene Innere hineingelassen werden: Depressive fühlen sich wie durch eine unsichtbare Wand von anderen emotional abgetrennt. Etwas Weiteres kommt hinzu: Wie von unsichtbarer Hand gesteuert, geraten Menschen mit einem depressiven inneren Schema immer wieder in berufliche oder private Milieus bzw. Situationen, wo sie zwar wenig Zuwendung finden, dafür aber ihren Leistungshunger ausleben können, an dem sie dann aber – früher oder später – erkranken.
Das Gefühl der Gefühllosigkeit
Die Depression ist also eine Erkrankung, bei der innere und äußere Faktoren zusammenwirken. Die Therapie einer Depression besteht daher nicht nur darin, auf die äußeren Faktoren zu achten, die eine Depression begünstigen, sondern mit den betroffenen Patienten vor allem auch nach innen zu schauen und das eigene ‚depressive Schema' zu verändern. Angehörige sollten hier auf keinen Fall ‚Do it yourself'-Therapieversuche starten. Die Arbeit an inneren Schemata gehört in die Hand von guten Psychotherapeuten. Im Falle eines ernsten depressiven Einbruchs sollte die Behandlung in einer psychosomatischen Klinik erfolgen.
Wissenschaftliche Studien der letzten Jahre zeigen, dass bei der Behandlung die Psychotherapie erste Wahl sein sollte. Nur im Falle einer schweren Depression sind, zusätzlich zur Psychotherapie, antidepressive Psychopharmaka angezeigt. Bei der leichten oder mittelschweren Depression sind Antidepressiva nur dann sinnvoll, wenn eine Psychotherapie nicht möglich ist oder von Patientenseite abgelehnt wird. Wichtig ist zu wissen: Nur die Psychotherapie – nicht aber die Pharmakotherapie – schützt, wie Studien eindrucksvoll zeigen, den Patienten vor wiederkehrenden depressiven Schüben.
Selbst-Check: Ab wann brauch ich Hilfe?
- Leide ich unter gedrückter Stimmung?
- Bemerke ich, dass ich allgemein weniger Interesse habe?
- Fühle ich mich freudlos?
- Ist bei mir der Antrieb herabgesetzt?
- Werde ich rasch müde oder fehlt mir die Energie?
- Kann ich mich schlecht konzentrieren?
- Habe ich wenig Selbstbewusstsein?
- Habe ich ständig Schuldgefühle oder das Gefühl, wertlos zu sein?
- Sehe ich meine Zukunft eher negativ und pessimistisch?
- Denke ich manchmal an Selbstmord?
- Leide ich an Schlafstörungen?
- Habe ich weniger Appetit als früher?
Sollten Sie mehr als 4x mit Ja geantwortet haben und die Symptome länger als zwei Wochen andauern, nehmen Sie bitte professionelle Hilfe in Anspruch.
Folgende Konzepte haben sich in der Behandlung von Depressionen gut bewährt:
Psychodynamische bzw. tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie:
Diese Kurzzeit-Psychotherapie (in der Regel 25 bis 50 Sitzungen) bearbeitet die derzeitigen zwischenmenschlichen Beziehungen des/der Patienten/in und die Frage, inwieweit die emotionalen Bedürfnisse der Betroffenen (z.B. nach zwischenmenschlicher Anerkennung, nach Abgrenzung, nach kreativer Selbstverwirklichung oder nach sexueller Zärtlichkeit) befriedigt werden können. Depressive neigen zu einem hohen Maß an Pflichterfüllung, können sich gegen Überforderungen schlecht abgrenzen und gestehen sich selbst kein Recht auf die angenehmen Seiten des Lebens zu. Ziel der Behandlung ist die Bearbeitung von Hemmungen bzw. Konflikten. Die Behandlung ist auf die aktuellen Probleme des Patienten/der Patientin im ‚Hier und Jetzt' fokussiert.
Interpersonelle Psychotherapie:
Hierbei handelt es sich um eine in zahlreichen neueren US-Studien gut evaluierte manualgestützte Kurzzeit-Therapie von etwa 16 bis zu 20 Sitzungen. Die Interpersonelle Psychotherapie (IPT) hat sich aus dem neo-psychonalytischen Ansatz von Harry Stack Sullivan entwickelt. Die besondere Kürze der Therapie ist dem US-amerikanischen Gesundheitssystem geschuldet. Bearbeitet wird in der IPT eine Auswahl aus insgesamt vier vom Manual vorgegebenen Problembereichen (Trauer, Rollenwechsel, interpersonelle Konflikte, soziale Hemmungen oder Defizite). Die Auswahl der Problembereiche richtet sich nach der individuellen Situation des/der Patienten/in.
Kognitiv-behaviorale Psychotherapie (CBT):
Auch hier handelt es sich um eine Kurzzeit-Psychotherapie (in der Regel ca. 25 Sitzungen). Ziel der kognitiven Verhaltenstherapie ist die Erkennung und Beeinflussung von depressionstypischen Gedanken, auch Kognitionen genannt. Depressive Menschen interpretieren die Welt nach einem durch überstarke Normorientierung, hohe Leistungsstandards und Selbstentwertungen gekennzeichneten Muster, nach dem sie auch ihr Verhalten ausrichten. Durch die Veränderung der zu diesem Muster gehörenden (überwiegend automatisch bzw. unbewusst ablaufenden) Gedankenketten, Überzeugungen und Handlungsweisen lässt sich die Depression wirksam behandeln.
Psychoanalytische Psychotherapie:
Psychoanalytische Psychotherapie geht davon aus, dass sich depressionstypische Strukturen des Erlebens und Verhaltens in der Beziehung zwischen Patient/in und Therapeut/in (aber auch in den sonstigen aktuellen Beziehungen des Patienten/der Patientin) wiederholen. Die therapeutische Beziehung wird so zu einer Art Beobachtungsfeld: Patient/in und Therapeut/in können herausfinden, nach welchen Schemata die Betroffenen fühlen und handeln. Das Ziel der Behandlung ist, dass nicht nur Einsichtsprozesse, sondern vor allem neue, gute Beziehungserfahrungen, die der Patient/die Patientin innerhalb (und außerhalb) der therapeutischen Beziehung machen sollte, zur Heilung führen. Die besondere, an der therapeutischen Beziehung orientierte Arbeitsweise bedingt eine längere Therapiedauer (in der Regel ca. 80 Sitzungen, in schwereren Fällen bis zu 240 Stunden)
Foto David Foster Wallace © Wiki Commons
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