Vom Glück vom Wandern: Gehen regt den Geist zum Denken an. Wer wandert, wandelt sich.
Wandern und Denken haben etwas Gemeinsames, das wir als das Meditative beschreiben können. Das lateinische Wort meditatio heißt Nachdenken. Das Wandern als gleichförmiges, rhythmisches Voranschreiten über einen längeren Zeitraum aber ist eine Art Gehmeditation. Beides sind Formen des Unterwegsseins, Ausdruck und Abbild unseres Lebens, der Wegstrecke zwischen Geburt und Tod. Jeder Schritt auf diesem Weg eröffnet neue Perspektiven: Mit jedem Schritt verlassen wir einen Ort und betreten einen neuen, schreiten fort ins Unbekannte. Schritt für Schritt atmen wir die göttliche Kraft der Natur, des Werdens, des Seins ein. Auch wenn wir dieselben bleiben, verändert uns das ständige Fortschreiten, mag die Veränderung auch noch so unscheinbar sein. Das Leben ist ein tägliches Sterben, meinte Seneca. Irgendetwas fällt von uns ab, verlässt uns, vergeht. Neues entsteht, tritt an seine Stelle, nimmt unsere Aufmerksamkeit ein. Das Wandern wie das Leben stehen für Wandel und Vergänglichkeit, für Entstehen, Wachsen, Blühen und Vergehen. „Das Vergehen also und Werden wählt derjenige, der dieses Leben wählt“, sagt Platon.
Wie eng die Verbindung von Wandern und praktischer Philosophie ist, zeigt bereits die Sprache. Wandern heißt Wege begehen. In allen Kulturen und Weisheitslehren, von denen wir eine schriftliche Überlieferung haben, ist das Wort „Weg“ immer in der Doppelbedeutung von „Fußweg“ und „Lebensweg“, von räumlichem und existenziellem, von körperlichem und seelisch-geistigem Fortschreiten verwendet worden. In der Philosophie kam noch die Bedeutung von „Denkweg“ hinzu. Das liegt nahe, wird doch unser Lebensweg stark davon geprägt, was wir denken, wie wir die Welt und uns selbst verstehen, was unsere Wertvorstellungen und allgemeinen Anschauungen sind. „Du wirst zu dem, was im Denken und Sinnen herrscht“, heißt es in den altindischen Upanischaden.
Philosophen waren häufig Wanderer, denn sie spürten die wohltuende Verbindung von Denken und Wandern. Traue keinem Gedanken, der im Sitzen kommt, meinte Nietzsche. „Ich habe mir meine besten Gedanken angelaufen“, sagte der dänische Philosoph Kierkegaard – und in Bezug auf belastende Gedanken: „... ich kenne keinen Gedanken, der so schwer wäre, dass man ihn nicht beim Gehen loswürde.“ Das Grundwort der alten chinesischen Philosophie heißt Dao (Tao), was häufig mit „der rechte Weg“ übersetzt wird. Das Schriftzeichen setzt sich zusammen aus Kopf und Fuß. Es bezeichnet den Weg des offenen Lebens, das Sichentfalten des Weges als Gang des Alls wie auch als Bestimmung des Menschen, der, will er zu einem wahren Menschen reifen, eine geistige Wanderung zu vollbringen hat.
Du wirst zu dem, was im Denken und Sinnen herrscht.
Im alten Indien kennt man den Yoga Marga, wobei Marga Weg heißt, im übertragenen Sinn der Heilsweg, der Weg leiblich-seelischer Übungen. Für Buddha erlangen wir Erlösung von dem Leiden an der Welt, indem wir den achtgliedrigen Pfad beschreiten, einen Übungsweg und eine Lebenspraxis zum guten Leben. Eine seiner bedeutendsten Spruchsammlungen heißt Dhammapada, wobei Dhamma die Lehre bezeichnet, pada den Fuß oder Weg. Jesus spricht in der Bergpredigt von zwei Wegen und sagt schließlich: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ Im Zen bedeutet „den Buddha-Weg gehen“, das Selbst kennenzulernen, zu praktizieren und zu verwirklichen.
Der Begründer der japanischen Schwertkampfschule schrieb Anfang des 17. Jahrhunderts über den Weg der Schwertkunst, bei der es sich sowohl um eine vom Zen-Buddhismus beeinflusste Kampfart als auch um eine Schule der Persönlichkeitsentwicklung handelt: „Die Leere, das ist der Weg, und der Weg, das ist die Leere. Die Leere hat Gutes, nicht Böses, es gibt Weisheit, Verstand und den Weg, und es gibt die Leere.“ Leere ist hier die innere Unabhängigkeit von weltlichen Anhaftungen und Offenheit für den Augenblick, in dem sich etwas ereignen kann, in dem man sich selbst begegnet. Dafür ist kein Platz, wenn der Kopf voll mit anderen Gedanken ist, wenn man nicht offen ist, wenn man stehen bleibt, statt sich weiterzuentwickeln. Heutzutage wird Leere oft als etwas Negatives, als das Fehlen von etwas angesehen. Die Leere im hier angeführten Sinn ist positiv besetzt, sie öffnet den Raum für Begegnungen, Neues, Wesentliches.
Traue keinem Gedanken, der im Sitzen kommt, meinte Nietzsche.
Das Wort wandern hängt sprachlich mit wandeln und wenden zusammen und weist in vielen Wortkombinationen auf die Wandlung und Weiterentwicklung der Persönlichkeit hin. Wer wandert, wandelt sich mit jedem Schritt. Wandern in diesem Sinn kann als ein Wandlungsgeschehen begriffen werden, bei dem wir uns von etwas abwenden, dem eigenen Haus, dem Gewohnten, der Heimat, dem bisherigen Leben und dem täglichen Umgang mit unseren Mitmenschen. Gleichzeitig aber wenden wir uns etwas anderem zu, einer neuen Umgebung, neuen Gedanken, neuen Gewohnheiten, einem neuen Leben, genauer: einem Leben, das immer schon in uns angelegt war, aber bisher in der Tiefe unserer Seele verschattet und verborgen war, dem eigenen Selbst. Besinnliches Wandern erfasst unseren Körper und Geist in seiner gesamten Fülle, stößt Fremdes und Belastendes ab und fügt zur Einheit zusammen, was in uns wesentlich ist. Es stärkt und formt Körper, Geist und Seele zu einer vollständigen Persönlichkeit. Es kann uns ganz und heil machen.
Die Leere,
das ist der Weg, und der Weg, das ist die Leere.
Bei jeder längeren Wanderung erleben wir ein allumfassendes Bewegtwerden, eine Anregung unserer Denktätigkeit, ein Nachsinnen über uns selbst, ein kritisches Beleuchten unserer gegenwärtigen Situation, aber auch die Freude an ihr, das Aufscheinen neuer Ideen und Lebensentwürfe. All das bleibt nicht ohne Folge für unser Leben, mögen wir dies auch nicht immer klar erkennen und nachvollziehen können.
Beim Wandern in der Natur erfahren wir nicht nur tiefe Freude und glückliche Momente, sondern fördern auch einen nachhaltigen Zustand des Glücklichfühlens. Diese Grundstimmung der Zufriedenheit mit unserem Leben entspringt einer Harmonie, die sich – angeregt durch die Natur, des Bei-sich-Seins, der Sammlung und Besinnung – in unserem Gemüt einstellt. Diese innere Stimmigkeit war für viele Weise des Altertums nichts anderes als Glück. „Eine Musik ohne Töne, das ist das Glück“, sagt Konfuzius. Das Glücksgefühl scheint losgelöst zu sein von allem Äußeren unseres Alltags, den wir hinter uns lassen, wenn wir uns auf eine Wanderung begeben. Es steigt in uns auf und nährt sich aus unserer Substanz, aus unserem eigenen Wurzelgrund, dem Humus unseres Lebens und Menschseins, aus unseren inneren Haltungen.
Wandern in der Philosophie
Ein Geisteszustand, der unabhängig von äußeren Dingen und Verhältnissen, von Erfolg und Misserfolg in der Welt Glück empfindet, weil er dieses Gefühl aus sich selbst schöpft, hat sich innerlich frei gemacht von schicksalhaften Ereignissen. Wem das gelingt, der hat Glück, Zufriedenheit und eine heitere Gelassenheit zu einer unerschütterlichen Grundstimmung seines Lebens gemacht. Das ist nicht einfach und setzt voraus, dass wir Ordnung in unserem Inneren geschaffen und unser Handeln und Sprechen in Übereinstimmung damit gebracht haben. „Einstimmig leben“ nannte es der Begründer der Stoa, der griechische Philosoph Zenon von Kition, und erklärte es zu einem der wichtigsten Lebensziele. Gemeint war ein Leben, in dem es zwischen dem Denken, Wollen und Handeln keinen Zwiespalt mehr gibt. „Denn unglückselig ist, wer in innerem Zwiespalt lebt“, sagte er. Dies setzt voraus, dass wir uns um uns selbst und um unsere Psyche kümmern und bemühen, unser Denken, Wollen und Handeln entsprechend unseren geläuterten inneren Werten zu pflegen. „Der Weise pflegt seinen Lebenswandel, deshalb kommt er nicht in Sorgen“, sagt Konfuzius.
Der Weise pflegt seinen
Lebenswandel, deshalb kommt er nicht in Sorgen.
Ein solches Um-sich-selbst-Kümmern wird entscheidend durch Zeiten der Sammlung und inneren Einkehr gefördert, ja setzt diese voraus. Die Muße dazu finden wir beim Wandern. Die sinnliche Erfahrung der Schönheit und Harmonie der Natur gibt uns Richtmaß und Orientierung, um im eigenen Inneren eine vergleichbare Harmonie nachzubilden. Unsere eigene Natur drängt uns dazu. Das war die grundlegende Überzeugung der stoischen Philosophie. Jeder Mensch strebe danach, sich das Eigene ganz anzueignen und ins Werk zu setzen. Dieser Trieb der Selbsterhaltung und Selbstentfaltung begründe Pflichten gegen sich selbst. Dazu gehöre, dass wir unsere unterschiedlichen Bedürfnisse unter einen Hut bringen, damit sie sich nicht gegenseitig behindern und in dauerndem Streit miteinander liegen. Das Leben in Übereinstimmung mit sich selbst haben die Stoiker daher als eine Art „Selbstaneignung“ aufgefasst. Wir werden Herr im eigenen Haus, gestalten unser Leben selbst.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 111: „Unterwegs - ein Abenteuerheft"
Unsere innere Verfassung ist wie ein Garten. Wir sind die Gärtner. Pflegen wir unseren Garten, graben wir die Erde um, pflanzen wir guten Samen, entfernen wir das Unkraut, düngen und begießen wir die Erde bei Trockenheit, schützen sie vor Frost, Überschwemmung und Schädlingen, achten wir beharrlich auf das, was und wie es wächst, so können wir uns eines Tages an herrlichen Blumen und Früchten erfreuen. Der Zustand des Gartens steht für unsere Grundbefindlichkeit und für unsere allgemeine Seelenverfassung. Sind wir gute Gärtner, so ist unser Gemüt in einer guten Verfassung; es herrscht eine Stimmung heiterer Gelassenheit. Die schönen Blumen und Früchte, die in unserem Garten wachsen, sind die Augenblicke tief empfundenen Glücks, die umso gewisser und häufiger sich einstellen, je liebevoller, achtsamer und umsichtiger wir unseren Garten pflegen. Wie wir aber unseren inneren Garten bestellen sollen, lehrt die Weisheit. Wie das Denken der Spaziergang des Gemüts ist, so ist das Wandern ein Teil dieser Gartenarbeit – nicht unerlässlich, aber ungemein förderlich.