Wir leben in bewegten Zeiten: Immer wenn sich Probleme häufen, steigt die Sehnsucht nach Ruhe. Es ist kein Zufall, dass wir uns nach Frieden sehnen.
Menschen brauchen Menschen, um leben zu können. Es ist zwar den wenigsten bewusst, aber miteinander sprechen, lachen und weinen können ist genauso wichtig wie atmen und essen. Denn: Wir sind soziale Wesen und als solche auch ständig miteinander in Verbindung. Wie geht es dir? Wie geht es euch? Wo wart ihr? Was macht ihr? So oder so ähnlich beginnen viele Gespräche. Doch das Klima in unserer Gesellschaft ist in den letzten zwei Jahren rauer geworden. Es sind die Kriege im Nahen Osten, die Flüchtlinge, die Hungerkatastrophen und der Islamische Staat IS auf der einen Seite und die rigiden Maßnahmen, die die Politik als Reaktion darauf trifft. Die Krisen sind längst in Europa angekommen. Selbstmordattentäter legen europäische Städte lahm, Großbritannien verlässt die Europäische Union, die Menschen randalieren auf dem G-20-Gipfel in Hamburg und es vergeht kein Tag, an dem der amerikanische Präsident Donald Trump nicht auf Twitter eine menschenverachtende Meldung absetzt.
Und auf einmal sind die Zusammenhänge nicht mehr klar. In Österreich stehen im Herbst Nationalratswahlen an und plötzlich wünscht man sich einen klaren Standpunkt, weil einen das Gefühl beschleicht, dass der Frieden vielleicht doch eine wackelige Angelegenheit sein könnte. Wer die Weltnachrichten verfolgt, hat den Eindruck, die Welt gerät aus den Fugen. Für jemanden, der sich angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung Sorgen macht, ist die Frage „Wie können wir Frieden machen?“ eine logische Folge.
Das Dilemma liegt auf dem Tisch. Frieden, das klingt doch erst einmal sehr einfach. Alle Menschen wollen in Frieden leben, Frieden für Körper, Geist und Seele. Doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Dagyab Kyabgön Rinpoche hat in einem Vortrag anlässlich der Weltfriedenskonferenz 1986 in Wien einen sehr schönen Gedanken über den Zugang des Buddhismus zur Welt formuliert. „Dem Buddhismus geht es um die Beseitigung des Leidens“, hat er gesagt. Zuerst müsse aber das Leid festgestellt, dann die Ursachen dafür in Analyse gezogen werden. Erst wenn diese Umstände geklärt sind, kann man die Ursachen beseitigen und dem Leiden den Nährboden entziehen. Angewendet auf das Friedensthema dieses Heftes heißt das: Was sind die Ursachen von Unfrieden und wie kann man sie beheben? So betrachtet bekommt der Wunsch nach Frieden einen sehr universellen Charakter. Vom ganz Großen zu jedem einzelnen Menschen und seinem persönlichen Umfeld, seiner Familie, seinen Freunden und Arbeitskollegen. Denn genau diesen Bogen gilt es zu spannen: Wer von Frieden redet, redet von sich und der ganzen Welt.
Die Ursache dafür: Wir Menschen sind soziale Wesen. Und deshalb sind wir von der Natur mit einer ganzen Reihe von Antennen ausgestattet. Wir sehen, wir hören, wir fühlen: All diese Reize laufen in unseren Gehirnen zusammen und werden dort verarbeitet. Wer am menschlichen Treiben teilnimmt, wird schnell feststellen: Wer sich eine Meinung bilden will, nutzt unterschiedliche Informationsquellen. Alles, was neu ist, das liebt unser Gehirn. Und wenn täglich Hiobsbotschaften auf uns einprasseln, dann wird der Wunsch nach Ruhe, Frieden und Eintracht ganz besonders groß.
„Die Menschen haben ihre Sittlichkeit verloren, deshalb gibt es Angst“, sagt zum Beispiel der in Wien lebende buddhistische Lehrer Bhante Seelawansa an einem heißen Vormittag in Wien, als draußen vor dem Fenster gerade ein Polizeiauto mit großem Tatütata vorbeifährt. Noch vor wenigen Jahren, sagt er, hätte man sich angeschaut und kopfschüttelnd bemerkt, dass diese Polizisten doch wohl verrückt seien, so einen Lärm zu machen. Heute hingegen, bemerkt Seelawansa, mache man sich beim Folgetonhorn eines Einsatzfahrzeuges sofort Sorgen, vermutet vielleicht sogar einen Terroranschlag, einen Selbstmordattentäter oder irgendetwas ähnlich Schreckliches. Wenn Menschen andere Menschen töten, dann nehmen das nämlich alle anderen auch als eine große Gefahr wahr und bekommen Angst. Nur Sittlichkeit bringt geistige Ruhe, so der Lehrer, und „wenn wir sagen, wir brauchen Ruhe und Frieden, müssen wir einfach nur damit anfangen. Jeder einzelne Mensch sollte Sittlichkeit üben. Weil sie Erkenntnis, Weisheit und Frieden bedeutet.“
Apropos Erkenntnis: Wer den Frieden verwirklichen will, der muss auch wissen, was Aggression ist. Es ist also kein Zufall, dass sich viele Texte in diesem Heft mit der Kehrseite des Friedens auseinandersetzen. Peter Iwaniewicz zum Beispiel hat sich auf die Suche nach dem Übel in der Welt gemacht und seziert die menschliche Aggression. Unser Autor Anselm Eder wiederum macht sich über die Natur des Menschen als einem Wesen Gedanken, das sowohl Jäger als auch Gejagter ist. Er stellt folgerichtig auch die provokante Frage, was Menschen von ihren nächsten Verwandten, den Affen, unterscheidet. Der buddhistische Lehrer Wolf Schneider wiederum schaut sich Krieg und Frieden mit einer historischen Brille an, versucht, die philosophischen Konzepte offenzulegen, und dekliniert den Begriff des Pazifismus in all seiner Widersprüchlichkeit. Seine erstaunliche Erkenntnis: Die, die Frieden wollen, können auch für den Krieg verantwortlich werden – und umgekehrt.
Aber selbstverständlich haben Krieg und Frieden auch ökonomische Komponenten. ‚Das Ego und der Krieg‘ ist der Themenkomplex, dem sich Autor Karl-Heinz Brodbeck widmet. Er veranschaulicht, wie eng Finanzmarkt, Rüstungsindustrie und die Unterhaltungskultur in der westlichen Welt miteinander verbunden sind. Vor diesem Hintergrund erscheint der neue amerikanische Präsident Donald Trump auch ein Sinnbild dieser Verstrickungen zu sein. Sein Augenmerk liegt weniger beim Klimaschutz als bei den Waffen-Deals, die er mit Saudi-Arabien abschließt und anschließend auf Twitter feiert. Komplexe Probleme in 160 Zeichen: Rund die Hälfte aller Amerikaner stehen voll und ganz hinter Trump und finden auch seine zahlreichen beleidigenden Äußerungen gegenüber anderen großartig. Kein anderer Politiker bedient die Unterhaltungsmaschinerie der Medien so gut wie er. Auch das sind Fakten, die es in der persönlichen Meinungsbildung zu berücksichtigen gilt.
Wer – ganz in buddhistischem Bestreben – solche Zusammenhänge erst einmal erkannt hat, der kann eigentlich gar nicht anders, als politisch aktiv zu werden. Einer mit dem großen Überblick über die Ursachen von Leid in der Welt ist Jean Ziegler, der prominenteste Globalisierungskritiker der Welt. Ursache\Wirkung hatte das Glück, ihn anlässlich der Präsentation seines neuen Films ‚Der Optimismus des Willens‘ treffen zu können. Ziegler hat sich Zeit für ein Interview genommen, das Christina Klebl und Philipp Prassl mit ihm geführt haben. Sein Vergleich, was einen Hund von einem Menschen unterscheidet, ist so eindringlich, dass manche Leserinnen und Leser ihre persönliche Einstellung zur Welt möglicherweise sogar verändern werden.
„Es ist eine Frage des Überlebens, wieder zu lernen, mehr Verantwortung zu übernehmen“, hat der buddhistische Lehrer Dagyab Kyabgön Rinpoche schon 1986 formuliert. Als der Dalai Lama 2014 zu Gast in Hamburg war, warb der Friedensnobelpreisträger für Mitgefühl und Toleranz. „Jeden Tag sehen wir im Fernsehen schreckliche Bilder von Brüdern und Schwestern, die sich gegenseitig umbringen, dagegen müssen wir etwas tun. Frieden kommt nicht von Allah oder Buddha, sondern muss von uns Menschen geschaffen werden“, sagte er.
Nicht immer nur Hiobsbotschaften, sondern auch das Gute in der Welt zu sehen kann eine gute Strategie für den Frieden sein. Ursache\Wirkung richtet deshalb seinen Blick auch auf Projekte, die Friedensarbeit im besten Sinne des Wortes sind. Das Friedensprojekt Tamera in Portugal ist zum Beispiel ein Ort, der sich als Experimentierfeld im weitesten Sinne versteht. Frieden, sagen diejenigen, die dort leben, bedeutet auch ein Leben im Einklang mit der Natur, deshalb können sich die Bewohner von Tamera auch mit vielen ökologisch verträglichen Technologien vertraut machen. Oder Mechanismen im achtsamen Umgang miteinander trainieren. In Tamera gibt es neben vielen anderen Initiativen auch eine Liebesschule.
Friedensprojekte finden aber auch mitten im Unfrieden statt. ‚Skateistan‘ zum Beispiel. Wie es funktionieren kann, dass Kinder in Kabul mit einem Brett und vier Rädern neuen Lebensmut entdecken, und warum das vor allem bei Mädchen unglaublich beliebt ist, macht sicher auch Friedenspessimisten Hoffnung.
Frieden muss aber gar keine politische Dimension haben, sondern findet im kleinsten Kreis jeden Tag in und um uns statt. Wie finden wir den inneren Frieden? Das war eine der dringlichsten Fragen, die die viele Berufenen dieser Ausgabe zu beantworten versuchten. Tineke Osterloh zum Beispiel, die sich mit dem oft wenig wohlwollenden inneren Kritiker in jedem von uns auseinandersetzt und seine Einflusskraft auf unser Handeln aufzeigt. Sie beschreibt, wie es ist, eigene Verhaltensmuster zu erkennen und – viel wichtiger noch – auch verändern zu können. Es ist eine Fertigkeit, die jeder Einzelne von uns erlernen könnte, sind sich die Experten dieser Ausgabe sicher und nennen die regelmäßige Meditation als wichtigste Übung.
Wer inneren Frieden hat, tut sich auch in der Familie leichter. Jeder kennt die Streitereien zwischen Eltern und Kindern. Kennt das Sich-Anbrüllen, das Recht-haben-Wollen und die Verzweiflung, die damit verbunden sein kann. „Wird der Mensch eigentlich als friedliches Wesen geboren und gibt es eine Möglichkeit, seine Kinder friedlich durch sämtliche Entwicklungsphasen zu begleiten?“, hat Christina Klebl die Kinderpsychiaterin Dina Ghanim gefragt.
Der Buddhismus gilt weithin als die friedlichste Religion. Schon wenige Monate nach Buddhas Tod im fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung begannen Mönche die Lehrreden des Buddha zu sammeln. „Alle Wesen zittern vor Gewalt. Alle Wesen lieben das Leben. Sieh dich selbst in anderen, töte nicht und verletze nicht“, wird er zitiert und dabei gilt es, gegen die grundlegenden Gifte anzukämpfen. Die da wären: Gier, also das Habenwollen. Hass, das Nichthabenwollen, und die Verblendung, die man insgesamt auch als Unwissenheit bezeichnen könnte.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 100: „Sexualität und Achtsamkeit"
Bleibt am Ende jedoch die Angst vor dem Tod, mit der jeder Mensch früher oder später im Leben konfrontiert sein wird. Sie zwingt die meisten von uns, nach innen zu schauen. Als der Wiener Psychiater Patrick Frottier eine Nacht lang am Bett seines sterbenskranken Freundes wachte, sind ihm viele Dinge durch den Kopf gegangen. Etwa, was im Leben wirklich wichtig ist, warum der Abschied vom Leben so schwerfällt und welche Gedanken uns beim Sterben tröstlich sein könnten. „Wir leben und sterben in jedem Augenblick“, schreibt er in seinem berührenden Essay über eine letzte Nachtwache. Leben und Sterben, kommt Frottier zur Erkenntnis, finden in jedem Augenblick statt. Alles im Leben ist nicht mehr als ein Augenblick und wer das Leben uneingeschränkt akzeptiert, verliert auch die Angst vor dem Tod. Am Ende des Lebens jedenfalls hört die Erregung auf und macht hoffentlich jener Gelassenheit Platz, nach der wir Menschen uns sehnen. Sie macht Frieden – innen und außen. „Über allen Gipfeln ist Ruh“, dichtete Goethe einst und hat wohl ein recht schönes Bild für den Frieden gefunden.