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Diskurs

Menschen wollen für alles eine Erklärung haben. Welche Rolle übernimmt dabei die Religion?

Nach einer uralten jüdischen Geschichte gibt es da diesen Stoffhändler in Ostgalizien, der sein gesamtes zusammengespartes Vermögen für seinen Lebenstraum ausgegeben hat: einen Ferrari. Da er ein gläubiger Jude ist, führt ihn sein erster Weg zum Rabbiner, mit der Bitte: „Rabbi, ich will von dir eine Brachá (hebr. ברכה: eine Segnung) für meinen Ferrari.“ Darauf der Rabbiner: „Was ist das, ein Ferrari?“ Darauf unser Stoffhändler: „Was, du weißt nicht, was ein Ferrari ist? Ein Ferrari, das ist das schönste und beste Auto, was es gibt, das hat rote Ledersitze und fährt 260 Kilometer pro Stunde ...“ Aber der Rabbiner unterbricht ihn: „Es tut mir leid, aber eine Brachá ist eine Segnung für etwas Spirituelles, wie zum Beispiel eine Ehe oder ein Vorhaben zur Erlangung von höheren Bewusstseinsstufen oder so etwas – aber doch niemals für ein Auto!“ Auch die Einwände des Stoffhändlers, dass der Ferrari sein oberstes Lebensziel war und ist und seinen Bewusstseinszustand ins Unermessliche hebt, lässt der Rabbi nicht gelten, da ist einfach nichts zu machen. Also beschließt unser Stoffhändler, nach Wien zum Oberrabbiner zu fahren. Der wird sicher wissen, was ein Ferrari ist, und wird auch seinen Wunsch erfüllen. Aber der Oberrabbiner sagt auf die Bitte des gläubigen Juden: „Was ist ein Ferrari?“ Darauf unser Stoffhändler: „Was, auch du weißt nicht, was ein Ferrari ist? Ein Ferrari, das ist das schönste und beste Auto ...“ Der Oberrabbiner meint: „Eine Brachá ist eine Segnung für etwas Spirituelles, aber niemals für ein Auto.“ Also beschließt unser Stoffhändler, zu diesem neuen Rabbi zu gehen, der immer im Fernsehen die Ansprachen hält und so modern und aufgeschlossen ist. Und der wenigstens wird doch wissen, was ein Ferrari ist. Also geht er zu dem modernen Rabbi und sagt zu ihm: „Rabbi, ich will von dir eine Brachá für meinen Ferrari.“ Darauf der Rabbiner: „Was ist eine Brachá?“

Scheinbar beschreibt die Geschichte das Problem des Stoffhändlers. Bei genauerem Hinschauen scheint mir jedoch, dass es doch mehr die Tragödie des Rabbinertums ist, die hier durchschimmert: Der Rabbiner an der Schnittstelle zwischen irdischer Daseinsbewältigung und Transzendenzbedürfnis ist auf aussichtslosem Posten. Und das Dilemma dürfte recht universell sein: Es muss sich weder um Juden handeln noch um Rabbiner. Aber dieses Bedürfnis nach Transzendenz, nach Beschäftigung mit dem Jenseits, dem Nachher, mit der Welt, die keiner gesehen und von der noch keiner berichtet hat, der sie gesehen hat, und von der doch so viele berichten, die sie nicht gesehen haben: Ist das nicht absurd? Warum tun wir das? Ist das ganz einfach das, was man etwas hilflos als die ‚Natur des Menschen‘ bezeichnet? Und die Religion oder die Religionen: Sind das einfach nur Organisationen, die den Markt der Transzendenzbedürfnisse beliefern? Oder sind es Machtapparate zur Stützung autokratischer Führungsansprüche? Oder sind es Angebote zur Bewältigung der Angst vor den vielfältigen Katastrophen der ungebändigten Natur, die in modernen zivilisierten Gesellschaften obsolet geworden sind?

Von den Ameisen wissen wir, dass sie nur ein paar Gehirnzellen haben, sehr viel weniger als wir klugen Menschen, die davon ein paar Milliarden haben. Ob das Bedürfnis nach Transzendenz, nach Beschäftigung mit den Dingen, die jenseits unseres Denkens liegen und jenseits der Möglichkeiten unserer Erkenntnis, ob also ein solches Bedürfnis mit der Anzahl der Gehirnzellen zu tun hat, das wissen wir nicht. Aber die meisten Biologen sind der Ansicht, dass religiöse Gefühle bei Ameisen eher nicht so sehr vorkommen. Allerdings schaffen es die meisten Ameisenarten in relativ kurzer Zeit, den kürzesten Weg von ihrem Bau zu einer Futterquelle zu finden. Lange haben Biologen gerätselt, wie die das machen. Es gibt ja keine mächtige Superameise, die ihnen den Weg weist, die den großen geografischen Überblick hätte. Dass der liebe Gott persönlich interveniert, wird von Biologen auch eher nicht angenommen.

Genaueste Beobachtung des Verhaltens hat gezeigt, dass jede Ameise nach zwei Regeln funktioniert. Erstens: Befolge den Weg, den die Ameise vor dir durch ihre Pheromonspur markiert hat. Und zweitens: Manchmal auch nicht. Wenn nun eine Ameise zufällig irgendwo eine Futterquelle entdeckt, dann geht sie ihren durch ihre eigene Pheromonspur markierten Weg zurück zum Bau, der, da zufällig, keineswegs der kürzeste ist, sondern irgendein wirres Zickzack. Die anderen Ameisen gehen diesen selben Weg und finden so dasselbe Futter, freilich auf recht umständliche Weise, mit vielen Umwegen. Nach einem noch nicht erkannten Prinzip, das wir, da nicht erkannt, ‚Zufall‘ nennen, weicht irgendwann irgendeine Ameise von diesem Weg ab und geht in die Irre. Da es sehr viele Ameisen sind, die sich auf den Weg machen, ist es auch eine zwar kleinere, aber immer noch beträchtliche Anzahl, die in die Irre geht. Aber irgendwann findet eine von diesen Irrläuferinnen zufällig einen Weg, der kürzer ist. Den geht sie, da er kürzer ist, öfter, legt somit eine neue, stärkere Pheromonspur, der mehr und mehr andere folgen, so lange, bis aufgrund der genannten zwei Regeln eine weitere Irrläuferin zufällig einen noch kürzeren Weg findet – und so weiter.

Religion

Aufgrund der großen Zahl wandernder Ameisen und der somit auch großen Zahl von Irrläuferinnen wird so in erstaunlich kurzer Zeit der tatsächlich kürzeste Weg gefunden. Mit Religiosität hat das höchstwahrscheinlich nicht das Geringste zu tun. Aber die Tatsache, dass es genug Ameisen gibt, die irgendwann einmal die gelegte Spur verlassen, gerade so, als ob sie ein Abenteuer suchten, führt zur Optimierung von Futterwegen. Das Suchverhalten, das Verlassen der gemütlichen, sicheren, ausgetretenen Pfade, findet sich auch bei anderen Tieren, auch bei solchen, die von Menschen interessanterweise als die ‚höheren‘ Tiere bezeichnet werden. Muss man ja, wenn man sich selbst als das höchste von allen sehen will.

Das Suchverhalten, das Verlassen des Systems, in dem man lebt, man könnte das auch ‚transzendieren‘ nennen, das gibt es offenbar überall in der Natur, und es ist mit der Evolutionstheorie durchaus vereinbar, denn es dient der Umweltbewältigung und somit dem Überleben. Es ist also vielleicht nicht unbedingt notwendig, an einen Gott zu glauben, der sich wünscht, mit uns Menschen in Kontakt zu treten, der an unserem Schicksal interessiert ist und der traurig ist, wenn wir uns von ihm abwenden. Es könnte auch sein, dass der Glaube an höhere Mächte eine notwendige Folge der biologisch durchaus sinnvollen Tendenz von ‚höheren‘ – und sogar auch ‚niederen‘ – Tiere ist, immer dann, wenn die Welt einigermaßen erklärt scheint, nach neuen Erklärungen zu suchen, die die alten infrage stellen: den gewohnten, bekannten, bequem gewordenen Rahmen zu verlassen und den noch nicht beantworteten Fragen nachzujagen.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 105: „Bewusst buddhistisch"

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Erinnern wir uns: Adam und Eva hatten es so gut, seinerzeit, im Paradies. Nur folgen hätten sie müssen, im Rahmen bleiben, auf das Transzendieren verzichten. Genau damit hat die Schlange sie aber erfolgreich geködert: mit dem Versprechen, dass sie die Einsicht in Gut und Böse erlangen, wenn sie das einzige vorhandene Verbot übertreten. „Brauchen wir nicht“, hätte Adam nur zu sagen brauchen. „Uns geht’s gut, so wie es ist.“ Hat er aber nicht. Er hat in den Apfel gebissen. Möglicherweise ohne zu wissen, was er da tut, dann wäre Eva an allem schuld, dann käme alles Böse vom Weibe; hat ein paar Jahrhunderte lang als Interpretationshintergrund gute Dienste geleistet, würde vielleicht dem einen oder anderen noch immer ganz gut ins Konzept passen.

Neugierde als Basis jeder Wissenschaft, den noch nicht beantworteten Fragen nachzujagen, würde wahrscheinlich, konsequent genug vorangetrieben, ziemlich notwendig irgendwann in irgendeine Art von Religiosität münden.

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Dr. Anselm Eder

Dr. Anselm Eder

Dr. Anselm Eder, geboren 1947 in Wien, hat bis 2012 als Universitätsprofessor am Institut für Soziologie mit Forschungsschwerpunkten unter anderem in den Bereichen ‚Medizinische Soziologie‘, ‚Körpersprache als Beobachtungsfeld‘ und ‚Simulation sozialer Interaktionen‘ gearbeitet. Seit ...
Kommentare  
# Hr Heck 2020-02-21 10:46
Wissenschaft hat sich schon immer für Religion interessiert - jedoch frage ich mich, wo wir heute wären hätte die Religion die Wissenschaft nicht gebremst.
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# Marion Schickert 2020-02-24 08:30
Wundervoller Beitrag. Danke
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# Andrea Näscher 2020-02-24 08:30
Religion ist ein kindlich geprägter Glaube, eine erlernte Emotion. Viel mehr gibt es darüber nicht zu wissen, finde ich.
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