In dieser Reihe versuchen wir, die einzelnen Schritte beim experimentellen Test der buddhistischen Arbeitshypothese besser zu verstehen: die sieben bojjhaṅga, die: Glieder der erlösenden Erkenntnis.
Begeisterung kann aber ein Strohfeuer sein, Begeisterung kann dazu führen, dass wir die Beobachtungen im Sinne unserer Erwartungen verzerren, dass wir das für wirklich halten, wofür wir uns begeistern. Wenn sich in uns der nötige Elan und das nötige Durchhaltevermögen gefestigt haben, sollte darum Begeisterung nachhaltiger, zuversichtlicher und abgeklärter Ruhe (pasaddhi) Platz geben. So werden wir klar, abgeklärt, ruhig, besonnen, gewinnen ein ‚kalt Gemüt'. Wir achten aber darauf, dass wir trotzdem Güte, Mitfreude und Mitgefühl bewahren, uns also nicht vom Bezug zu unserer Mitwelt zurückziehen. Pasaddhi ist nicht Apathie, Abgestumpftheit für das Leiden und die Freuden unserer Mitwelt.
Pasaddhi ist Freiheit von Unruhe, Besonnenheit. Das ‚Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe' (1907) von Friedrich Kirchner und Carl Michaelis zeigt schön die Notwendigkeit von Besonnenheit für das richtige Urteil, welches ja nach Buddhas Lehre Grundlage der Beendigung des Leidens ist:
„besonnen (eigentl. bei Sinnen) heißt derjenige Mensch, der sich seiner Aufgaben und Pflichten, sowie seiner Kräfte und Grenzen bewusst, daher frei von Unruhe, Leidenschaftlichkeit, Einseitigkeit und Verworrenheit ist. Schopenhauer (1788-1860) nennt die Besonnenheit die Wurzel aller theoretischen und praktischen Leistungen. Mit dem Verlust der Besonnenheit büßt der Mensch das richtige Urteil über sich selbst und über die Verhältnisse, die Ruhe des Gemüts und die Konsequenz im Handeln ein. Die Besonnenheit (Gesund-Sinnigkeit, sôphrosynê) gehört bei Platon (427-347) zu dem engsten Kreise der Tugenden und ist die Tugend des begehrenden Teiles der Seele (epithymêtikon)."
Für die Bewältigung alltäglicher Probleme kann Besonnenheit durchaus hinderlich sein. ‚Instinktives' Handeln kann erfolgreicher sein, wie es der weise Wilhelm Busch (1832-1908) überzeugend darstellt:
„Frisch gewagt
Es kamen mal zwei Knaben
An einen breiten Graben.
Der erste sprang hinüber,
Schlankweg je eh'r je lieber.
War das nicht keck?
Der zweite, fein besonnen,
Eh er das Werk begonnen,
Sprang in den Dreck."
(Schein und Sein, 1909)
Aber gerade dieses ‚instinktive', für die Alltagsbewältigung notwendige Verhalten ist es, weswegen ‚kurz gesagt, menschliche Existenz leidvoll ist' (erste Edle Wahrheit). Darum ist der buddhistische Heilsweg wider den Lauf der Natur, wider-natürlich und keine Wellness-Kur.
Pasaddhi, nachhaltige, besonnene Ruhe, Abgeklärtheit, ist auch Zuversicht, dass der eingeschlagene Weg erfolgversprechend ist. Diese Zuversicht, wie sie sich in der ‚Dreifachen Zuflucht' ausdrückt, darf aber nicht Illusionismus oder verbohrte Ideologie werden. Trotz oder besser gerade wegen dieser Zuversicht auf die Lehre Buddhas muss man für die brutale Wirklichkeit offenbleiben, muss man sich immer vergegenwärtigen, dass Buddhas Lehre ‚nach der Art des ‚Komm und sieh'', also experimentell ist. Man muss immer bereit bleiben, auch zuzugeben, dass man einen Irrweg gegangen ist, so dass man nicht ebenso reagiert, wie Friedrich Rückert (1788-1866) in den ‚Kindertotenliedern' (1833/1834) seine voll verständliche Reaktion auf das Sterben seiner Kinder schildert:
„Dass man aufs zuversichtigste
Die Hoffnung hängt ans Nichtigste,
Gewicht legt aufs Unwichtigste,
Gern annimmt das Unrichtigste."
Zuversicht kann leicht in falsche Hoffnung, in Illusion umschlagen. Von dieser falschen Hoffnung, dieser falschen Zuversicht leben Weltanschauungen und Religionen, oft auch der Buddhismus. Welchen Illusionen war ein Genie wie Martin Luther (1483-1546) verfallen?
„Wenn das sündige Gewissen diesen lieblichen, süßen Boten [das Evangelium] hört, kommt es wieder zum Leben und jauchzt und springt voll fröhlicher Zuversicht; es fürchtet nicht mehr den Tod noch all die Pein, die den Tod umgibt, noch die Hölle selbst." (Ablassthesen und Resolutionen 1517/18)
Wie behutsam bedacht müssen da wir sein, die keine Genies sind! Den richtigen Mittelweg zu finden zwischen Illusion, ideologischer Verbohrtheit und Verzweiflung, Zynismus und Ähnlichem, ist die Kunst, richtig zu verstehen, was es bedeutet, zu sagen:
„Buddhaṃ saraṇaṃ gacchāmi – Ich nehme Zuflucht zum Buddha
dhammaṃ saraṇaṃ gacchāmi – Ich nehme meine Zuflucht zur Buddhalehre
saṅghaṃ saraṇaṃ gacchāmi – Ich nehme meine Zuflucht zur Gemeinschaft derer, die die Erlösung verwirklicht haben"
Abgeklärte Ruhe gackert nicht wie ein aufgeschrecktes Huhn, so wie es preußische Christen angesichts der Aufklärung auf einem Flugblatt taten:
„Was soll ich tun, was soll ich glauben?
Und was ist meine Zuversicht?
Will man mir meine Zuflucht rauben,
Die mir des Höchsten Wort verspricht?
So ist mein Leben Gram und Leid
In dieser aufgeklärten Zeit."
(Des Knaben Wunderhorn, Bd. 3, 1808)
Abgeklärte Ruhe ist eine heitere Objektivität, die wirklich alles – und nicht nur das, was in den eigenen Kram passt – prüft und das Gute behält (vgl. 1. Brief an die Thessalonicher 5,21).
Abgeklärte Ruhe realisiert den weisen Spruch von Angelus Silesius (1624-1677):
„Nichts ist, das dich bewegt, du selber bist das Rad,
Das aus sich selbsten lauft und keine Ruhe hat."
Damit beende ich diese Randbemerkungen zu nachhaltiger, zuversichtlicher und abgeklärter Ruhe als Schritt auf dem Weg zur Beendigung unseres Leidens.
Es bleibt mir nur noch, mich dem Aufruf des evangelischen Pastors Ludwig Gotthard Kosegarten (1770-1821) an uns anzuschließen:
„Sei klug, gerecht und gütig,
Besonnen, kalt und klar;
Nicht frech noch übermütig,
Aufrichtig, offen, wahr!"
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