Angesichts der aktuellen Diskussion über Migration und Menschlichkeit frage ich mich, wie wir persönlich zu einer besseren Welt beitragen können. Was können wir tun, um mehr Verständnis, Toleranz und Empathie in unserer Gesellschaft zu fördern?
MoonHee beantwortet hier Fragen des alltäglichen Lebens oder Fragen, die ihr schon immer einmal stellen wolltet. In ihrem ersten Beitrag „Wie geht es dir heute? Danke, gut!“ findet ihr mehr Informationen dazu.
Antwort MoonHee:
Ganz gleich, wie schwierig etwas sein mag oder wie turbulent es in der Welt zugeht: Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren. Durch Hysterie, Polemik, Anfeindung und Abgrenzung wird nichts gewonnen. Gemeinschaft setzt Gemeinschaft voraus, Frieden Frieden, Verständnis Verständnis, Empathie Empathie etc. Der Weg ist das Ziel, aber ebenso ist das Ziel auch der Weg. Deshalb sagte Gandhi: „Es gibt keinen Weg zum Frieden, Frieden ist der Weg.“ Wahrhaftige Veränderungen sind möglich, wenn das Ziel den Weg bestimmt. Dann wird der Weg zum Ziel.
Wir Menschen neigen dazu, die Dinge kompliziert zu machen, und zwar so sehr, dass sie übergroß erscheinen. Wir haben das Gefühl, ihrer nicht gewachsen zu sein. Was können wir kleinen Menschen schon tun – als uns selbst zu retten? Ohnmacht, Resignation, Überforderung und die Einstellung ,Was gehen mich die anderen an?, sind Standardhaltungen geworden. Was soll das ganze Gutmenschsein? Muss nicht jeder schauen, wo er bleibt?
So zu denken, ist ein Zeichen, dass unsere Gesellschaft krankt und sich im freien Fall befindet. Der Mensch besteht aus Fleisch und Blut, doch das Menschsein liegt in der Fähigkeit, sich zu seiner Umwelt in Beziehung setzen zu können. Nicht nur für sein physisches Überleben braucht er die Gemeinschaft – denn kein Leben kann für sich allein bestehen –, er braucht sie vor allem für sein seelisches Wohl. Der Mensch ist nicht nur animal rationale, ein Vernunfttier, das rechnet und abwägt, er ist homo relationale, ein Beziehungswesen. Je unverbindlicher er ist, desto entfremdeter und kränker ist er. Die Krankheit des modernen Menschen ist, dass er auf seine individuellen Rechte pocht, ohne jedoch die Rechte seiner Mitmenschen zu achten. Von Recht kann aber nur dann gesprochen werden, wenn alle davon profitieren. Gleiches Recht für alle! Ein Recht, das nur für wenige gilt, ist nicht recht, sondern falsch bzw. ist nichts anderes als Eigennutz. Ein Lobbyismus sollte vermieden werden.
Nur eine Welt, in der Solidarität, Empathie, Achtsamkeit und Verständnis keine Fremdwörter sind, kurz Gleichheit herrscht, ist gesund und rechtens. Etwas, was recht ist, ist gerecht. Gerechtigkeit sollte Ausgang, Fundament und Ziel von Recht sein. Was ist aber Gerechtigkeit? Wie handeln wir wahrhaft gerecht? Wie können wir unsere eigene selektive Wahrnehmung und individuellen psychosozialen Konditionierungen durchbrechen, damit wir nicht nur Teile, sondern das Ganze sehen? Gerechtigkeit bedarf des Blicks auf ein zusammenhängendes Größeres.
John Rawls, einer der bedeutendsten politischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, entwarf The Theory of Justice. In seiner Theorie der Gerechtigkeit stellt er den Schleier des Nichtwissens vor: Man solle sich in einem geistigen Gedankenspiel in den Zustand des Nichtwissens versetzen, einer Art Zustand vor der Geburt. Hier weiß man nicht um seine zukünftige Hautfarbe, Geschlecht, Status, soziales Milieu, um bestimmte Fähigkeiten oder in welchem Land man geboren wird. Ob arm oder reich, gesund oder krank, begabt oder nicht begabt, schön oder nicht schön, gute Lebensbedingungen oder schlechte, alles wäre möglich. Die Frage lautet nun: In welcher Welt würden wir leben wollen? Unter dem Schleier des Nichtwissens handeln wir nach Rawls intuitiv gerecht. Da niemand zu den Ärmsten, Schwächsten, Vergessenen und Ausgestoßenen gehören möchte, würden wir eine Welt wählen, in der es keine Benachteiligung gäbe. Wir würden uns für eine Welt starkmachen, in der die Verhältnisse, in die wir hineingeboren wurden, keine Rolle mehr spielten. Gerechtigkeit müsste es in diesem Sinne dann nicht mehr geben, weil Gleichheit Geburtsrecht wäre. Maximale Freiheit und Chancengleichheit wären für alle gegeben. Die Unfreiheit Einzelner wäre nach Rawls dann zulässig, wenn die Freiheit für alle erhöht würde und die Einschränkungen für die Einzelnen annehmbar wären. Weiterhin müssen soziale und ökonomische Ungleichheit zwei Bedingungen erfüllen. Erstens, das versteht sich von selbst, müssten alle damit verbundenen Ämter allen offen stehen, und zweitens müssten sie, jetzt wird es spannend, den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen. Das nennt Rawls das Differenzprinzip. Der Machthaber darf also nur so viel Macht ausüben, wie sie den Schwächsten zugutekommt. Oder der Gutverdiener dürfte nur so viel Geld verdienen, als dass die Ärmsten am meisten davon profitieren. Rawls ist sich durchaus bewusst, dass die Dinge nicht immer optimal verlaufen. So sollte man, nach seiner Maximin-Regel, die Veränderung wählen, die die harmloseste Auswirkung hat. Rawls möchte weder moralisieren noch Unterschiede zu einem Einheitsbrei vermengen, vielmehr zeigt er auf, dass Gerechtigkeit eine Sache ist, die nicht nur alle etwas angeht, sondern jeden Einzelnen betrifft.
Handeln wir wahrhaft gerecht oder rechtens, dann handeln wir in unserem eigenen UND zugleich im Interesse aller.
Gerechtigkeit bezieht mich und den anderen gleichermaßen mit ein. Alles andere wäre ungerecht. Gerechtigkeit ist dort, wo Gleichheit zu Einheit führt. Nicht in Form einer Nivellierung der Unterschiede, sondern in Form eines gesunden Ausgleichs. Menschlichkeit geschieht durch Sich-Mitteilen und Teilen. Das setzt einen offenen Geist und ein liebevolles Herz voraus. In einem abgeschlossenen, begrenzten Ich-Raum ist kein Platz für einen Zweiten und noch weniger für die ganze Welt. Doch wer sind wir schon ohne den anderen?
Menschlichkeit ist nur durch eine gerechte Haltung möglich.
Ich möchte etwas weiter als Rawls gehen: Gerechtigkeit ist keine Kosten-Nutzen-Rechnung, „weil es mich auch treffen könnte, wähle ich das Gute für alle“, oder ein Deal „gibst du mir, dann gebe ich dir“. Gerechtigkeit ist die Hinwendung zu meinem innersten Menschsein. Menschlichkeit fundiert auf Tiefe. Um diese Tiefe auszuloten, müssen wir innerlich stabil sein und dennoch flexibel. Unsicherheit, Ängste, alle Arten von negativen Gedanken und Gefühlen engen ein und führen zur geistigen Starre. Der Nährboden für Unmenschlichkeit, Intoleranz, Hass, Ablehnung und Rechthaberei ist Oberflächlichkeit. Ausgehend von einer inneren Unbeweglichkeit, spiegelt sich diese in Gleichgültigkeit oder schlimmer noch in einer Herzenskälte gegenüber anderer Menschen Belange und Bedürfnisse wider.
Gehen wir zum Anfang zurück. Wie wird die Welt besser? Wie schaffen wir mehr Verständnis? – Indem wir bessere Menschen werden. Wie werden wir bessere, verständnisvolle und empathische Menschen? – Indem wir wahrhaft Mensch werden. Menschlichkeit ist eine Herzensangelegenheit. Etwas, was in und durch die Weite des Geistes grenzenlos und allumfassend ganz von selbst geschieht. Menschlichkeit setzt das Aufbrechen von Grenzen und Trennungen voraus. Gelingt dies, dann sind Einheit und Gleichheit erreicht. Die Veränderung, die die Welt dringend benötigt, liegt in der Einfachheit der Dinge. Möchten wir Einheit, so müssen wir eins sein. Möchten wir Frieden, so müssen wir friedvoll sein. Möchten wir Toleranz, so müssen wir tolerant sein. Möchten wir mehr Liebe in der Welt, so müssen wir lieben. Die vollständige Blüte ist immer schon in ihrem Samen enthalten. Finden wir diesen Samen in uns: Schauen wir hin und nicht weg!
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