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Das Handwerk des Lebens erlernen wir, wenn das Anstehende weltbildende Antworten von uns fordert.

Das Anstehende wird somit zum Lehrmeister des zur Weltkommens, womit das dringende Vollbringen der Absichtslosigkeit als „zuverlässiges Merkmal der Erleuchtung“ zum Verschwinden gebracht wird.

Es ist schlichtweg überflüssig geworden. Wenn das Sitzen ansteht, ist Sitzen die Antwort. Steht es an, einkaufen zu gehen, einen Freund zu besuchen oder jemandem beizustehen, ist eben das Jeweilige von ganzem Herzen in ungeteilter Aufmerksamkeit zu tun. Ohne tiefsinnigen Gedanken nachzuhängen. Es erfordert ungeteilte Aufmerksamkeit und Einsatz.


Handeln

"Zur Welt kommen" bedeutet, als Handelnder in dieser Welt tätig zu sein. "Ich" und Welt sind nicht dasselbe, aber auch nicht voneinander getrennt. In Abhängigkeit voneinander entstanden und vergehend, erweisen sich die Dinge als substanzlos. In dieser Erfahrung ist kein dauerhaftes Selbst zu finden. In dieser Weise von sich selbst entbunden zu sein, hat zur Folge, dass der Schleier vor den Augen verschwunden und die Sicht auf die Welt, wie sie ist, unverstellt ist. Es ist aber unausweichlich: Das "zur Welt kommen" muss durch den Engpass der anstehenden Dringlichkeiten gehen. Das Geborenwerden muss durch die Enge der fordernden Gegebenheiten hindurch, soll es sich nicht in eine Fehlgeburt verwandeln, die man gemeinhin Weltflucht nennt. Sitzen in Versenkung birgt die Gefahr, ebenfalls zu einem Weltflüchtigen zu werden. Davor haben seit ältesten Zeiten alle Meister gewarnt. Sie haben beharrlich auf das In-der-Welt-Sein verwiesen. In der Welt sein bedeutet immer zu handeln. Man kann nicht nicht handeln. Die Sache mit der Definition des „Wu-Wei“ sei hier einmal beiseite gelassen. Es lohnt sich, sich in Picassos Bild "Die Büglerin" zu vertiefen. In Blautönen gehalten, sieht man sie über die Wäsche gebeugt, in ganzer Konzentration und Kraft das Bügeleisen führend. Keine Falte darf in das Wäschestück hineingebügelt werden. Neben allen Anzeichen von Müdigkeit durch die anstrengende Arbeit zeigt sich in ihrem Gesicht aber auch ein tiefer Ernst und ein gelöstes in-sich-Ruhen. Wie aus einem inneren Erlöst- und Befreit-Sein scheint sie dem Anstehenden verbunden. Auf mich wirkt es jedes Mal, wenn ich es betrachte, wie ein auf das Äußerste verdichtetes Teisho, welches keinerlei zusätzliche Worte benötigt. Durch die Art und Qualität meiner Antwort auf die dringliche, nicht aufschiebbare Frage der mir gegebenen Lebenssituation zeigen sich Stand und Qualität meines in-der-Welt-Seins. Nichts mehr zu besorgen haben bedeutet, nicht mehr und nicht weniger als ganz und gar frei bei der gegebenen Sache zu sein bzw. sich der gegebenen Situation in Frieden zu stellen und rechtzeitig innezuhalten.
Tiän-huang Dau Wu (jap. Ten-no Do-go 738-807) antwortete Lung-tan (jap. Ryotan Soshin), als dieser ihn fragte - nachdem er „begriffen“ hatte -, wie es nun weiterginge:


„Überlasse dich der innersten Natur, dann wandelst Du geruhsam;
füge Dich dem jeweils Dir gegebenen Anlass, dann bist Du frei und ledig;
sei stets mit ganzem Herzen und mit schlichtem Sinn bei der Sache.
Gehe nicht auf besonders tiefsinnige Erklärungen aus!“
Treffender lässt sich das Handwerk des Lebens kaum ausdrücken.


Erinnern
Während man auf dem Weg unterwegs ist, scheint es nicht ganz unwichtig zu sein, Augenmerk auf das Sich-Erinnern zu legen. Es ist hilfreich, sich daran zu erinnern, was einen eigentlich in diese Zwangslage gebracht hat, sich inmitten einer Gesellschaft hinzuhocken, die genauso dringlich wie man selbst einem vagen Ziel zustrebt. Mangels des Erinnerns des wirklichen Woher gibt es auch keine Aussicht auf das wirkliche Wohin. Mangels Klarheit bleibt das Ziel im Dunkel und wird verklärend Erleuchtung genannt. Was an sich plausibel ist, denn im Dunkel wird dringend Licht gebraucht. Jedoch öffnet dieser Begriff Wege in alle möglichen Richtungen. Was ist Erleuchtung? Kein Weg ist zu fantastisch und abwegig genug, um nicht doch Suchende zu verlocken, ihm zu folgen. Ach, fast hätte ich die lieblichen, die romantischen und gefühlsbetonten Harmonielastigen vergessen, die
besonders verführerisch sind und durch besonders breite Tore zum Betreten einladen. Ist der Schritt dann einmal getan, muss alles unternommen werden, um die eingeschlagene Richtung mit Konzepten und Konstruktionen und oft auch mit verhohlener Wut, der gefühlsbetonten Schwester des Zorns, zu festigen und zu verteidigen. Eine großartiger und vermeintlich auch tröstlicher als die andere. 
Vermeintlich deshalb, da bis heute mit dem Woher und Wohin sich abgemüht wird und offensichtlich kein wirklicher Frieden gefunden worden ist. Auch mit dem sogenannten selbstlosen Handeln ist das so eine Sache. Nicht selten findet sich darunter das egozentrische Streben nach Verdienst um auf dem Zukunftskonto genug für später zu haben. Die Stellvertreter und Stellvertreterinnen des transzendenten Später sorgen mit Versprechungen und Zusagen dafür, dass weiter fleißig eingezahlt wird. Finden sich genug Individuen auf einem einmal eingeschlagenen Weg ein, die sich einer bestimmten als spirituell klassifizierten Erzählung einig sind, ist eine Wahrheit aus der Taufe gehoben. Wo es aber um Wahrheit geht, ist die Gewalt in all ihren Schattierungen nicht weit. Dazu gehört auch die der Ausgrenzung, die jede und jeder Dissident zu spüren bekommt. Denn wer bin ich aber dann noch, wenn ich keine Wahrheit mehr habe? Yunmen (jap.Ummon, 864-949) brachte es so auf den Punkt: „Ihr dürft den Tricks anderer Leute nicht auf den Leim gehen und ihre Weisungen nicht einfach akzeptieren. Kaum seht ihr einen alten Meister seinen Mund auftun, so stopft ihr euch auch schon die dicken Steinbrocken seiner Worte hinein. Die alten Meister konnten es einfach nicht lassen. Als sie euch planlos herumrennen sahen, schwatzensie euch etwas von Weisheit und Erlösung vor und verscharrten euch.“(*Zen-Worte vom Wolkentor-Berg, Meister Yunmen, O. W. Barth Verlag 1994) Womit ich wieder am Anfang wäre.

Das Handwerk des Lebens 

Woher und Wohin bedingen einander. Beim Erinnern kann es nämlich geschehen, dass mir klar wird, wieso ich auf der Stelle trete, obwohl ich mich bewege, obwohl ich mich abmühe. Es scheint so, als ob da so etwas wie eine Wand ist die mir im Wege steht. Wir Menschen neigen dazu, einen einmal eingeschlagenen Lösungsweg immer und immer wieder zu wiederholen. Dies ist eine wichtige Erkenntnis als Voraussetzung dafür, etwas anderes zu tun. Zum Beispiel innezuhalten und sich vor die Wand hinzusetzen, statt weiterhin dagegen zu rennen. Nun kann es Jahre des innehaltenden Sitzens dauern, bis es sich langsam klärt, was einen antreibt. Auch das Sitzen vor der Wand kann sich als Sitzen gegen die Wand herausstellen. Je weniger sich ein Fortschritt zeigt, desto dringlicher wird der Druck, endlich durchzubrechen. Das Erinnern aber macht sanfter, durchlässiger.
Man wird langsam dessen gewahr, aus welchen Bausteinen die Wand besteht und wodurch sie zusammengehalten wird.
Die Last des eigenen Lebens scheint zunächst sogar schwerer zu werden, als sie es eigentlich ist. Und dann weiß man plötzlich, was es ist, an dem man im Grunde anhaftet und was es bedeutet, sich davon zu lösen und wie schwer es einem fällt. Und wieder mag eine längere Zeit vergehen, bis man ganz plötzlich in die Erfahrung eintaucht, wie es ist, wenn nichts mehr übrig geblieben ist. Wenn dann auch alle Ziele, von denen im Lauf der Zeit sich auch die Begriffe verändert haben, wenn auch von den Zielen nichts mehr geblieben ist. Keine Wahrheit, kein Selbst, nichts mehr zu sehen. Es ist als schaue man in ein grenzenloses Dunkel. Es ist eine Sache, davon hier und da gelesen und gehört zu haben und es vielleicht auch verstandesmäßig begriffen zu haben. Aber es ist etwas ganz anderes, in dieser Erfahrung zu sein. Der Beginn eines solchen Erinnerns ist wie das Einsetzen von ersten noch ganz sanften Wehen. Zuletzt, dann in die Enge, das Hindurch, ohne das es keine Geburt gibt.
Geboren worden zu sein heißt hier, aus dem vorgenannten unermesslichen Dunkel als ein anderer mit anderen Augen die Welt zu erblicken. Die Welt ist keine andere, nur die Augen, der Blick ist ein anderer. Die Frage des Woher und des Wohin hat sich aufgelöst, ist unwichtig geworden. Ursache und Wirkung gibt es zwar weiterhin und man ist dem weiterhin unterworfen. Lebenskrisen entstehen und vergehen.

Wohin nun aber mit der Kraft die uns zu all diesen Unternehmungen angetrieben hat? Wohin mit der dynamischen Lebensenergie? Sie dringt ein in die sich neu einstellende Lebenshaltung und will Tag für Tag gelebt sein. Innehaltendes Sitzen vor der Wand Tag um Tag, immer wieder neu "zur Welt kommen" als übendes Leben. Ein übendes Leben bis zum letzten Tag.

Derjenige darf sich Meister nennen, der nicht vergisst ein Schüler zu sein. Ein Schüler des Handwerks des Lebens. Bis zu jenem Tag, jener Stunde, jenem Moment an dem es soweit ist endgültig loszulassen.


Nachsatz: Dieser Text hat keinen Anspruch auf absolute Wahrheit. Jedoch ist die Herausforderung des Zweifelns und des Hinterfragens als Notwendigkeit geistiger Hygiene beabsichtigt.

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Henry Vorpagel

Henry Vorpagel

Geburtsjahr 1949  in Deutschland. Übersiedlung nach Österreich 1973. 1975 Beginn der Zazen Praxis. Die nächsten 10 Jahre Aufbau meines Lebensmittelpunktes in Österreich. Zazen als Rückgrat meines Lebens. Ausbildung zum Sozialpädagogen. Arbeit mit verhaltensbehinderten Jugendlichen. ...
Kommentare  
# wolfgang sobotka 2021-05-05 15:59
Wieder ein sehr klarer Beitrag abseits von austauschbaren Welterklärungen und Lebenshilfen. Auch in seiner Klarheit die Herrn Vorpagel in all seinen Beiträgen auszeichnet, schlichtes Zenleben sichtbar zu machen in der nicht enden wollenden Vereinnahmung der buddhistischen als auch christlichen VertreterInnen. Danke und - mehr davon!
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