Es muss schon vor mehr als zwanzig Jahren gewesen sein, als mein erster langjähriger und hervorragender Therapeut mir entgegnete: „Gut, jedoch müssen Sie es erst zulassen, bevor Sie es loslassen können!“
Diese Weisheit – aus meiner Sicht handelt es sich um eine solche – hat sich oft bewahrheitet und bewährt. Bewährt, wenn es um eigene Ansprüche ging („Nun lass doch endlich los, es tut dir nicht gut!)“; bewährt, wenn es darum ging, andere darin zu unterstützen, notwendige Veränderungen, erwünschte und unerwünschte, zu vollziehen.
Ich werde mich jetzt nicht damit befassen, dass allein der Gedanke, der Wunsch, dass etwas unveränderlich sein möge; dass ein Mensch sich nach unseren Bedürfnissen verhalten möge; dass das Leben, unsere Lebensumstände sich als befriedigender erweisen würden, als sie sind, dass allein dieser Gedanke zwangsläufig Leiden schaffen wird. Sobald wir nämlich diese ‚edle Wahrheit‘ – und andere edle Wahrheiten – so verinnerlicht haben, dass jede Erwartung, dass etwas Beglückendes, Belastendes andauernd sein könne, fällt schon eine Last von uns ab. Die Last von Erwartungen, falschen Erwartungen.
Ich möchte hier eher von etwas ganz Alltäglichem sprechen, das uns auch dann heimsucht, wenn wir denken, wir seien schon jenseits von dieser oder jener Illusion.
Das Alltägliche sind Gefühle und im Speziellen Gefühle, die unangenehm sind. Nehmen wir zum Beispiel Trauer. Ich denke gerne von mir, dass ich trauererfahren bin. Das kann ja sein, ist wohl auch so, was immer ‚trauererfahren‘ sein mag. Ich musste jedoch feststellen, gestern und heute Morgen, dass ich nicht traurig sein wollte, also habe ich Traurigkeit nicht zugelassen. Als ich sie zuließ, die Welle emotionalen Schmerzes, die mich durchflutete und mir in die Augen schoss, wo Tränen sich bildeten, spürte ich kurz die Versuchung, die Tränen zurückzuhalten. Ließ es dann aber geschehen, sprach später sogar darüber und fühlte mich erleichtert.
Was war passiert?
Ich saß heute früh in meinem ‚Winzigen Tempel‘ mit fünf anderen Frauen in der einstündigen Meditation von 7 bis 8 Uhr, gefolgt von ‚Council‘ (Zen-Kreisgespräch), was bedeutet, ich konnte mir schlechter davonlaufen als sonst. Positiv ausgedrückt: Ich hatte selber eine Situation geschaffen, in der ich dem Leben sowie derjenigen, die ich wirklich bin, nahekommen kann – und Gefährten und Gefährtinnen diese Erfahrung ebenfalls ermögliche.
Das war segensreich. Denn kaum saß ich und ließ den letzten Glockenton in mir verhallen, wollte sich diese Welle in mir erheben, die ich seit gestern unterdrückt hatte. Manche sagen, Trauer müsse ausgelöst werden. Gut, sie wurde also ausgelöst durch Stille, Zeit und eine liebevolle Umgebung, und ich ließ sie zu. Wieder erlebte ich, wie schon so oft, dass Zulassen meist gleich Loslassen ist. Ich weinte, erlebte die Einsamkeit, die darunter lag, das Zusammengezogene in mir, das Nicht-Gestillte.
In der zweiten Sitzperiode verging es sanft. Warum hatte ich mich gestern Abend nicht in meinen Raum der Stille zurückgezogen? Manchmal bin ich noch nicht so weit. Bringe Motivation, Entschlossenheit, Kraft nicht auf, um den Ort zu wechseln, nach nebenan zu gehen. Vielleicht ist da noch eine stumme, unrealistische Hoffnung, jemand möge mir die Last dieses Schrittes abnehmen, mich aus der Einsamkeit erlösen.
Ich kenne einige gelenkte Meditationen, die mir und anderen halfen, das Zugelassene verstärkt loszulassen. Bei körperlichen Verspannungen hilft das sehr, finde ich. Hier empfehle ich den Body Scan von Jon Kabat-Zinn, die CD von Jack Kornfield ‚Das innere Licht entdecken‘, die CDs von Pema Chödrön, zum Beispiel ‚Geh dahin, wovor Du Dich fürchtest‘, sowie alle Meditationen von Stephen und Ondrea Levine. Diese sind nicht objektiv die besten, aber sie gehören zu den besten, die mir bekannt sind, in dem Sinne, dass sie sich bei mir bewährt haben und ich sie seriös finde.
Seriös ist, wenn sich Meditationsanleiter/innen auch mit westlicher Klinischer Psychologie beziehungsweise Psychotherapie auskennen. Da wirken Gesetze wie beim Dharma, was auch ‚Gesetz‘ heißt. Ich finde, beides muss zusammenpassen.
Zurück zu meinem geliebten Therapeuten: Er passt, finde ich, gut zusammen mit Herrn Shakyamuni.