Ich wurde in einem Land geboren, in dem der Alltag durch den wechselnden Rhythmus der Jahreszeiten mitbestimmt wird.
Wenn ich mich auch manchmal, an heißen Sommertagen, nach dem milden Frühling zurücksehne oder in kalten, dunklen Winternächten seufzend an die hellen, lauen Nächte im Juli denke, liebe ich doch alle Jahreszeiten gleichermaßen und erfreue mich an ihren jeweiligen Besonderheiten. Die sich dadurch ergebenden Möglichkeiten machen mein Leben bunt und abwechslungsreich.
Es gibt allerdings Menschen, deren Leben aus beständig wechselnden Jahreszeiten zu bestehen scheint. Am Morgen wissen sie nicht, in welche sie an diesem Tag hineingeraten werden. Sie sind ihren Gefühlen dermaßen ausgeliefert, dass sie hilflos zwischen ihnen hin und her taumeln.
So wie Hannah. Selbst an dunklen Wintertagen kann die Sonne strahlend hell in ihrem Innern scheinen, nichts kann sie erschrecken. Doch plötzlich zieht Nebel auf, lässt sie betrübt und melancholisch werden. Gestalten mit widerlichen Fratzen tauchen auf, umtanzen, verhöhnen sie, lösen sich wieder auf. Doch die Bedrohung bleibt und legt sich auf ihr Herz.
Manchmal, selbst an Tagen, an denen der Regen ununterbrochen gegen die Fensterscheiben prasselt und ein kalter Wind die Blätter von den Bäumen fegt, fühlt sie sich wie im Frühling. Hoffnung steigt in ihr auf. Singen möchte sie, tanzen, die ganze Welt umarmen. Das Leben ist schön! Ein Neubeginn steht vor der Tür, scheint möglich, machbar! Doch im nächsten Moment erstirbt das Lächeln auf ihren Lippen, ihr Gesicht erstarrt. Ganz plötzlich ist der Winter eingebrochen, mit Kälte und Leere. Sie fühlt sich verloren, verlassen, sieht keinen Weg.
Wie froh ist sie, wenn endlich die heißen Sommertage wieder in ihr pochen, in ihr explodieren, sie zu Wahnsinnstaten hinreißen wollen! Doch dann lähmt sie die große Hitze und die langen Sommernächte dehnen sich ins Endlose, sind quälend angefüllt mit Sehnsüchten nach Ungelebtem oder lange nicht mehr Gefühltem, nach Unschuld und Unbeschwertheit.
Wenn die Qual nachlässt, abgeflaut ist, fällt sie in den Herbst. Die größte Hitze ist vorbei und die Kälte noch eine ferne Ahnung. Aber schnell fließen ihre Tränen und verwandeln ihr Inneres in welkes Laub. Und selbst bei wolkenlosem Himmel und strahlendem Sonnenschein vor dem Fenster wartet sie auf den ersten Schnee, der alles wie mit einem Leichentuch zudeckt. Sie fällt in die Stille.
Aber dann kehrt er doch zurück, der Frühling oder der Sommer oder der Herbst. Der Reigen beginnt aufs Neue. Wie gerne möchte Hannah zur Ruhe kommen, aber der Weg dahin ist weit!