Der Ayurveda versteht sich als ein wissenschaftliches, ganzheitliches Medizinsystem, das seine Grundprinzipien mit dem Buddhismus teilt.
Der Ayurveda entfaltet sich seit einigen tausend Jahren in Südasien und schöpft bis heute aus dieser ungebrochenen Tradition bewährter medizinischer Erfahrung. Aus dieser Zeit (ca. 1500-1000 v. Chr.) sind nur religiöse Texte überliefert. Sie werden zusammengefasst als der Veda bezeichnet, der in Form von vier umfangreichen Hymnensammlungen die Basis für das Ritual, dem Inbegriff vedischer Religiosität, darstellt. Der Atharva-Veda enthält Hinweise auf rituell geprägte medizinische Praktiken, die jedoch nur in sehr geringem Umfang in die spätere, sogenannte klassische Ayurveda-Lehre übernommen wurden. Der klassische Ayurveda tritt erst viel später als voll ausgereiftes, komplexes Naturheilkundesystem in Sanskrit-Kompendien (saÞhitÁ) auf. Die ältesten bekannten Werke (bes. die Caraka-SaÞhitÁ) lassen sich um Christi Geburt datieren, stellen jedoch Sammelwerke mündlicher Traditionen dar, die um einige Jahrhunderte älter sein müssen.
In Abgrenzung zur rituellen vedischen Medizin versteht sich der klassische Ayurveda als ‚wissenschaftlich’. Der Grundansatz der ayurvedischen Medizin ist ganzheitlich und nimmt den Patienten als Individuum wahr. Prävention und Psychosomatik bilden tragende Säulen. Tatsächlich strebt der Ayurveda mehr als die physische Symptomfreiheit des Patienten an. Er bemüht sich im Sinne einer Naturphilosophie um die Harmonie von körperlichen, psychischen, sozialen und umweltbezogenen Faktoren, welche aus Sicht des Ayurveda die Grundlage für natürliche Heilung aus eigener Kraft bildet. Die gestörte Harmonie stellt die Ursache für krankhafte Prozesse dar.
Der klassischen Lehre wird in Ayurveda-Kreisen bis heute größte Autorität zugeschrieben, da man sie einer Zeit zu entspringen glaubt, in der Wohlwollen und geistige Klarheit überwogen. Sie wurde in späteren Jahrhunderten für die jeweilige Epoche erklärt und geordnet, jedoch nicht wesentlich verändert. Somit stellen die klassischen Texte eine faszinierende Quelle auch für die moderne Lehre und Praxis des Ayurveda dar.
Es handelt sich beim Ayurveda um einen holistischen Gesundheitsbegriff, der einen hohen Selbstanspruch aufweist. Die vollkommene (spirituelle) Verwirklichung, also die ‚Zufriedenheit im Selbst’ als höchsten Zweck des Menschseins umfasst er ebenfalls. Ziel des Ayurveda ist es, auf körperlicher und auch auf psychischer Ebene die besten Voraussetzungen zu schaffen, um diesen Zweck greifbar zu machen.
Der Ausdruck, der im Ayurveda vorrangig für Gesundheit (svÁ-sthya) oder für gesund (sva-stha) verwendet wird, legt einen solchen Ansatz nahe. Er setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: sva = ‚Selbst’ und sthÁ = ‚verweilen, stehen, gefestigt sein’. Mögliche Übersetzungen wären: ‚Verweilen im Selbst’, ‚gegründet im Selbst’ oder ‚selbst-ständig’. Hiermit soll zum einen ausgedrückt werden, dass die Gesundheit in der Hand eines jeden Einzelnen liegt und der Patient aktiv am Gesundungsprozess beteiligt sein sollte. So sucht der Ayurveda auch weniger im Umfeld des Patienten nach den Ursachen seiner Erkrankung, sondern in ihm selbst: Ein Erreger kann so lange keine Krankheit hervorrufen, wie der Wirt ihm mit einer gesunden Abwehrkraft begegnet, die das Resultat des harmonischen Zusammenspiels aller Körperfunktionen ist. Zum anderen drückt obiger Gesundheitsbegriff aus, dass durch die kontinuierliche Annäherung an unser eigentliches Wesen (das Selbst oder die Seele = ÁtmÁ) echte, ewige ‚Gesundheit’ möglich ist.
Krankheit entsteht durch die Abkehr von unserem Wesenskern. Dieser Prozess äußert sich in falschen Auffassungen über unsere Natur sowie über wünschenswerte Ziele und Verhaltensweisen (prajñÁparÁdha). Daraus entsteht ein unangemessener Umgang mit dem eigenen Körper, den Sinnen, den Kommunikationsfähigkeiten und der Psyche, welcher zusammen mit negativen äußeren Einflüssen (z.B. klimatischen) in Krankheit resultiert.
Ayurveda und Buddhismus
Ein geeignetes Beispiel für die Offenheit ayurvedischen Denkens ist der Einfluss des Buddhismus auf den ansonsten sich für ewige Prinzipien wie die sogenannte Seele (ÁtmÁ) aussprechenden Ayurveda. Dies hat sicher auch historische Gründe. Der Buddhismus stellte in seiner Anfangsphase eine einflussreiche Reformbewegung gegen den Ritualismus der vedischen Religion dar. Neben dem Buddhismus existierte jedoch eine Vielzahl anderer geistiger Bewegungen mit ähnlichem Ziel, die als wandernde Gefolgschaften in Nordindien ihre Heilslehren zu verbreiten suchten. Auch die Vorväter des klassischen Ayurveda, die eine Alternative zur vedischen Ritualmedizin zu schaffen bemüht waren, sind vermutlich Teil dieser Bewegung gewesen. In der vedischen Ritualliteratur lässt sich eine kritische Haltung der heilenden Priesterschaft gegenüber den ayurvedischen Ärzten nachweisen. Neben der Konkurrenzsituation beruht diese sicher auf den vermeintlichen ‚Verunreinigungen’, die die nicht-rituelle medizinische Praxis durch den Kontakt sowohl mit Körpersäften als auch mit Personen niederer sozialer Schichten mit sich bringt. Die wissenschaftlich geprägte Offenheit der buddhistischen Lehre hingegen, die den menschlichen Geist zu ergründen trachtet, bildet eine gute Voraussetzung für eine Verbindung mit dem Ayurveda, der sich um die intensive Erforschung des menschlichen Körpers bemüht. Es finden sich viele Anhaltspunkte, dass aufgrund dieser Nähe tatsächlich ein beidseitiger Austausch während der Entwicklung des Buddhismus und des Ayurveda stattgefunden haben muss.
Buddhistische Texte beschäftigen sich konkret mit medizinischen Themen, beispielsweise bei der Beschreibung der Gebrauchsgegenstände des Mönchs. Ja, die gesamte Heilswegstruktur weist Parallelen zu medizinischen Ansätzen auf. In den ‚Vier Edlen Wahrheiten’ als dem kürzesten Ausdruck der gesamten buddhistischen Lehren spiegeln sich diese Parallelen wider und auch der Buddha selbst wird in der eigenen Tradition häufig mit einem Arzt verglichen, der seine Anhänger zu ‚spiritueller Gesundheit’ führt.
Der buddhistische ‚Achtfältige Pfad’ stellt einen umfassenden Weg hin zu spiritueller Gesundheit dar, der Parallelen zur Ganzheitlichkeit der ayurvedischen Medizin-Praxis aufweist. Interessanterweise wird auch die Therapie des klassischen Ayurveda in acht Bereiche (aÒÔÁÉga) unterteilt. Dies sind nur wenige der vielen inhaltlichen Beispiele für die Affinität zwischen frühem Buddhismus und klassischer Ayurveda-Medizin, welche auch historischen Ausdruck gefunden hat. Bereits für die vorchristliche Zeit sind buddhistische Universitäten mit medizinischen Fakultäten belegt und der buddhistische Kaiser AÐoka (ca. 3. Jh. v. Chr.) soll in Nordindien Krankenhäuser selbst für Tiere errichtet haben.
Durch die Ausbreitung des Buddhismus begünstigt, scheint seinerseits der klassische Ayurveda eine starke Eigenständigkeit gegenüber der vedischen Ritualmedizin erlangt zu haben. Einer der einflussreichsten frühen ayurvedischen Autoren (VÁgbhaÔa) bekennt sich in seinen Schriften zum Buddhismus. Besonders buddhistische Psychologie und Erlösungslehren haben in die Psychologie und Psychotherapie des Ayurveda Einzug gehalten. Obwohl abweichende Begrifflichkeiten verwendet werden, ähneln sich die Konzepte sehr. Die Betrachtung des Wandels und der Vergänglichkeit aller Dinge im Rahmen des Gesetzes von Ursache und Wirkung (karma) sowie die empfohlene Haltung der Nicht-Anhaftung bilden an zentraler Stelle auch beim nicht-buddhistischen Ayurveda-Autor Caraka (CS 4.5.8ff.) die Basis des ayurvedischen Ansatzes. Als Ursache für die Anhaftung werden hier die aus dem Buddhismus bekannten Wurzeln (mÚla) Gier, Hass und Verblendung gesehen. Ähnlich dem Buddhismus sind auch die praktischen Empfehlungen im Ayurveda bestimmt durch ethisches Verhalten, Achtsamkeit, Meditation und Einsicht.
Sogar die Lehre vom Nicht-Selbst (anattÁ) lässt sich an dieser Stelle der CS nachweisen. Allerdings tritt sie nur sehr selten in den Ayurveda-Schriften auf, welche generell von einer Synthese aus unterschiedlichen Lehren geprägt sind. Im Rahmen des ganzheitlichen Ayurveda-Ansatzes bildet doch das ewige Bewusstseinsprinzip ÁtmÁ die Essenz des menschlichen Daseins und die nicht-versiegende Quelle dauerhaften Glücks und echter Gesundheit.