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Leben

Sex gilt als die schönste Nebensache der Welt und trotzdem haben viele Menschen ein gestörtes Verhältnis dazu.

Die renommierte österreichische Sexualmedizinerin und Autorin Elia Bragagna über die Heilkraft der Sexualität und den falschen Umgang mit Intimität und sexueller Individualität.

Warum ist Sexualität so wichtig?

Durch Bindungsbotenstoffe, die beim Sex ausgeschüttet werden, hat Sexualität eine heilende Wirkung in einer Beziehung. Personen in funktionierenden Beziehungen leben im Durchschnitt auch länger. In einer nicht-funktionierenden Beziehung leiden beide Partner. Dies kann sogar so weit gehen, dass Menschen ernsthaft seelisch erkranken, emotional abstürzen und Depressionen entwickeln. Nach Wilhelm Reich ist Sexualität nur eine Form, um mit Energie umzugehen, nämlich Ladung und Entladung. Menschen, die ständig blockiert sind, weil sie ihre Energie nicht freilassen können, werden wahrscheinlich seelisch und körperlich erstarren.

 

Oft versuchen Paare, ihre Sexualität künstlich nur durch Kicks lebendig zu halten.

 

Wie würden Sie sexuelle Energie definieren?

Nach Wilhelm Reich beginnt Sexualität schon auf der Zellebene: Eine Zelle, die sich nicht laden und entladen kann, stirbt ab. Was auf der Zellebene stattfindet, das findet also auch auf der persönlichen Ebene statt, nämlich in Beziehungen, wenn Sexualität erstarrt. Oft versuchen Paare, ihre Sexualität künstlich nur durch Kicks lebendig zu halten. Das Paar wächst nicht mehr. Sexualität bleibt aber nur dann beständig, wenn die Partner an ihr wachsen. Unsere Gesellschaft verhindert diese Entwicklung: Frauen höheren Alters denken, sie müssen, um Sex zu haben, aussehen wie mit 25. Durch Werbung wird signalisiert, dass sie nicht dem Ideal entsprechen. Jeder, der von dieser falschen Norm abweicht, fühlt sich schlecht.

In unserer Gesellschaft leben viele allein. Wie können Singles mit ihrer sexuellen Energie umgehen?

Wenn wir den Begriff Sexualität nicht ganz so eng sehen und zum Beispiel Sinnlichkeit dazuzählen, dann gibt es einige Möglichkeiten. Jeder Mensch ist schließlich bis zum Tod ein sinnliches Wesen. Sinnlichkeit kann ausgelebt werden, indem man sich selbst berührt, durch Massagen oder auch in Form von Selbstbefriedigung. Beispiel ältere Frauen: Es heißt nicht automatisch, dass ich ohne Sexualität leben muss, weil ich nicht dem Klischee entspreche, aber mit 70 Jahren noch den Traummann zu finden ist auch nicht sehr realistisch. Jeder hat eine andere Form, um Sinnlichkeit zu leben, durch Geschlechtsverkehr oder durch sinnliche Erlebnisse. Die Energie muss nicht nur durch einen Geschlechtsakt ausgelebt werden oder in einer Mann-Frau-Beziehung.

Ist sexuelle Energie Lebensenergie oder zumindest ein Teil davon?

Nach Wilhelm Reich wäre sexuelle Energie Lebensenergie. Im herkömmlichen Sinne ist Sexualität eine Form, um Lebensenergie zu leben. Den Menschen ist Sexualität zwar wichtig, aber vorher kommen ganz andere Dinge, zum Beispiel funktionierende Beziehungen, Freundschaften und ein erfülltes Berufsleben.

Wie sollte unsere Gesellschaft idealerweise mit Sexualität umgehen?

Ich habe meine Therapieausbildung noch in der ‚wilden' Phase absolviert, mit Gruppentherapien – so etwas wäre heute wohl nicht mehr möglich. Mich erschreckt, dass körperlicher Intimbereich öffentlicher Bereich geworden ist. Im Internet gibt es Angebote wie Scheidenstraffungen für Frauen nach einer Geburt oder Genitallippenverkleinerungen und -unterspritzungen. Der Intimbereich ist zum ästhetischen Schönheitsobjekt geworden. Dabei hat dieser schon von Natur aus eine ‚geile' Lockfunktion. Erwachsene Frauen denken, dass sie im Intimbereich aussehen müssen wie junge Mädchen, dabei ist das völlig falsch und unnatürlich. Das Intime ist also verloren gegangen. Auch Paare fühlen sich oft verloren, weil sie nicht mehr wissen, was sie im Speziellen ausmacht.

 

Wir müssen lernen, dass wir keiner künstlichen Norm entsprechen können, sondern nur unserer eigenen.

 

Was ist von der sexuellen Revolution übrig geblieben?

Sexualität ist Teil unseres Gesundheitswesens geworden und Menschen können sich Hilfe holen, wenn sie verloren sind. Und das ist gut. Sehr viele junge Mädchen haben aber zum Beispiel schmerzhaften Geschlechtsverkehr, da sie öfter Sex haben, als ihr Körper es möchte, oder ihnen die Bedingungen nicht entsprechen. Wir müssen lernen, dass wir keiner künstlichen Norm entsprechen können, sondern nur unserer eigenen. Wenn der Partner eine andere Norm hat, dann müssen wir einen Weg finden, um zusammenzukommen.

 

Der Körper macht nicht immer das, was man will.

 

Was sind Ihrer beruflichen Erfahrung nach die größten Probleme in puncto Sexualität?

Zu mir kommen ‚klassische' Paare, deren Hauptproblem es meistens ist, keinen Weg zueinander zu finden. Unterschiedliche Bedürfnisse hindern sie daran. Das Resultat ist oft die Entwicklung einer Sexualstörung – bei Frauen äußern sich die Symptome in Lustlosigkeit, bei Männern in vorzeitigem Samenerguss und Erektionsstörungen. Wir sind eine überfressene Gesellschaft, die Blutgefäße im Körper gehen kaputt, Erektionsstörungen sind die Folge. Übergewicht verursacht Bluthochdruck, einen hohen Cholesterinspiegel und Diabetes. Dies kann schon viele Jahre vor einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall zu Impotenz führen. Hin und wieder kommen auch Männer zu mir, die verunsichert sind, weil sie ein paar Mal versagt haben und so in eine Art Spirale von Selbstbeobachtung hineingeraten. Sie glauben, dass sie wie eine Maschine funktionieren müssen. Der Körper macht nicht immer das, was man will. Jedes Paar kommt einmal in eine Phase, in der vermindertes sexuelles Verlangen stattfindet. Das ist nicht nur normal, sondern sogar sehr wichtig, denn ab diesem Zeitpunkt entwickeln sich Paare und finden heraus, wie sie am besten befriedigt werden könnten. Bedürfnisse verändern sich, das müssen wir akzeptieren und dem Partner mitteilen.

 


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 79: „Heilender Sex"

Sexualität


Hindert das Festhalten an einer Beziehung und ihrem Partner die Menschen an ihrer Entwicklung?

Phasen des verminderten Verlangens sollte jeder Mensch einmal haben, um sich weiterzuentwickeln. Ein offener Mensch könnte mit unglaublich vielen verschiedenen Menschen Sex haben, wir lassen uns aber nur mit sehr wenigen auf etwas ein. Neue Erfahrungen bedeuten auch Verluste. Ein Kampf zwischen Individualität und Bindungsbedürfnissen besteht immer. Die meisten Paare töten die Individualität ab und verzichten so darauf, ‚lebendig zu sein'. Wir müssen uns bewusst sein, dass es noch viele andere nette und attraktive Menschen gibt.

Gibt es Leute, die weniger sexuelle Energie oder sexuelle Lust haben und deshalb ohne Sexualität leben können?

Ja, dies ist individuell, hormonell und durch die Atmosphäre zu Hause geprägt. Manche Kinder wachsen in einer Atmosphäre auf, in der das überhaupt kein Thema ist oder in der sogar unterschwellig negativ davon geredet wird.

Wieso können manche Menschen ohne Bindung leben und andere nicht?

Wir Menschen sind prinzipiell auf Beziehungen ausgelegt. Menschen, die ohne Bindung leben können, haben in frühen Jahren entweder zu viel Nähe erlebt oder zu wenig. Wenn ein Baby keine Liebe und keine Zuneigung empfängt, hat es keine Wahl und muss lernen, dass es nichts dergleichen braucht, um keine Vernichtungsgefühle erleben zu müssen. Wenn diesem Menschen später jemand viel Nähe schenkt, wird er an diese früheren Mangelzustände erinnert. Es gibt auch überbehütende Eltern, deren Kinder als Erwachsene keine Nähe mehr ertragen und merken, dass sie sich allein wohler fühlen. Diese Menschen sind dann meistens nicht bereit, eine Therapie zu beginnen und etwas an sich zu verändern. Für Veränderungen im Gehirn und der Seele fehlt meistens die Motivation.

 

Dr. Elia Bragagna ist Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychosomatik, Sexualtherapeutin, Leiterin der Akademie für Sexuelle Gesundheit (AfSG) (www.afsg.at) und Initiatorin der Online-Enzyklopädie SexMedPedia (www.sexmedpedia.at).
 
Bilder © Pixabay
Redaktion Ursache\Wirkung

Redaktion Ursache\Wirkung

Hier finden Sie Beiträge, die das Ergebniss einer gemeinsamen Arbeit sind. Die Redaktion von Ursache\Wirkung hat hier zusammengearbeitet und diese Texte gemeinsam realisiert. 
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