Der amerikanische Psychologe, Autor und Schamane Ray Stubbs über den Begriff ‚heilige Hure' und die Bedeutung von sexueller Energie bei geistiger und körperlicher Heilung.
Kann Sex heilen? Stimmt das überhaupt? Um diese beiden Fragen zu beantworten, müssen erst einmal vier Formen der Sexualität unterschieden werden:
1. Sexualität zum Zwecke der Fortpflanzung, also die biologische Reproduktion durch Geschlechtsverkehr.
2. Romantische Liebe – darum dreht sich die Welt und auch sie wird meist durch genitale Interaktion vollzogen.
3. Sexuelle Lust – daran denken die meisten Menschen, wenn sie über Sex sprechen.
4. Energieverschmelzender Sex – er wird in der tantrischen und taoistischen Philosophie verwendet. Dabei wird Sexualität als energetischer Austausch verstanden. Um die Heilkraft der Sexualität aufzuzeigen, werde ich mich im Folgenden auf diesen Energieaustausch von Liebenden beziehen.
Der Begriff ‚Heilung' suggeriert, dass eine Krankheit vorliegt, eine Dysfunktion, etwas Falsches oder sogar eine Sünde. Wenn wir Sexualität von diesem Ansatz aus betrachten, enden wir damit, dass wir unsere sexuelle Erregung und unsere Fantasien, unser Verlangen und die sexuelle Handlung selbst als krank und falsch ansehen. Wir sollten uns besser fragen, wie wir durch Sexualität unsere Verbindung mit der Welt, mit ‚allem, was ist' vertiefen können, wie Sex mehr Kraft in unser spirituelles Dasein bringen kann, wie Sexualität Freude, Liebe, Mitgefühl und Gelassenheit in unser Leben bringen kann. Für alle jene, die einen spirituellen Weg gehen, hat Sexualität meiner Erkenntnis nach eher einen integrativ-transformativen als nur einen krankheitsheilenden Charakter.
Stellt sich die Frage: Wie kann es durch Energieaustausch beim Sex zu Transformation und Heilung kommen?
Orgasmus
Bei kaum einer anderen Aktivität haben wir so viel nährenden Kontakt wie bei der körperlichen Liebe. Unser Selbstwertgefühl wird gestärkt und wir können sinnliche Leidenschaft empfinden. Diese physischen und psychologischen Begleiterscheinungen tragen zwar zu unserem allgemeinen Wohlbefinden bei, führen aber noch zu keiner tiefen Transformation oder Heilung. In der Sexualität selbst liegt die am stärksten transformative und heilende Kraft.
Der Orgasmus und seine unterschiedlichen Formen
Masters und Johnson haben in den 1960er Jahren in ihrer Sexualforschung dem Orgasmus eine physiologische Definition gegeben: Wenn man unwillkürliche Kontraktionen der Muskeln im Bereich des Beckenbodens in einer bestimmten Frequenz hat, stellt sich ein sexueller Orgasmus ein.
In den 1970er Jahren haben sich westliche Formen des sexuellen Tantra und Taoismus entwickelt. Verschiedene Ausdrucksformen des energetischen Orgasmus wurden bekannt. Diese energetischen Orgasmen können durch intensives Atmen, durch bestimmte Muskelkontraktionen, durch Visualisierung oder einfach durch eine Handbewegung über dem oder um den Körper einer Person hervorgerufen werden. Wenn wir fortgeschritten sind, können wir in vollkommener Ruhe unsere Energie auf eine bestimmte Art und Weise fokussieren, die einen energetischen Orgasmus hervorruft.
Ähnlich wie sexuelle Orgasmen haben auch energetische eine explosive Qualität. Diese ist aber nicht auf den Geschlechtsbereich beschränkt, sondern kann auch in der Brust, im Kopf oder im gesamten Körper sein. Diese Orgasmen können spontan auftreten, in der Regel ohne männliche oder weibliche Ejakulation, es sei denn in Verbindung mit einem sexuellen Beckenboden-Orgasmus.
Die Wirkung des Orgasmus
Alle Formen von Orgasmen haben Folgendes gemeinsam:
Erstens werden ‚feststeckende' Energien ‚gelöst'. So wie Holzstämme, Äste und Blätter einen Fluss verstopfen und zu einem Stau des Wassers führen, kann auch der normale Lebenslauf unterbrochen und gestaut werden und zum Erliegen kommen. Ein Orgasmus kann helfen, die emotionale Energie wieder zum Fließen und die energetischen Strukturen wieder in Bewegung zu bringen.
Zweitens werden Energien durch einen Orgasmus ausgeglichen. Die unterschiedlichen, voneinander abhängigen energetischen Systeme wie die Chakren halten uns dann gesund, wenn ihre einzelnen Teile flexibel auf die jeweils vorhandene Situation reagieren. Einen Marathon zu laufen erfordert eine ganz andere Funktionsweise und Balance als zum Beispiel der Schlaf. Wenn die Energien aus dem Gleichgewicht geraten sind, wird das Leben unnötig schwer. Nach meiner Auffassung hat der orgastische Prozess eine ausgleichende Wirkung auf unsere Energiesysteme – und macht mehr Spaß, als wenn wir etwa durch eine Psychotherapie wieder ins Gleichgewicht kommen.
Drittens stärken Orgasmen unsere Energien. Das beziehe ich allerdings nicht auf jene ‚Energie', die wir durch Nahrung, Sonnenlicht, Wasser und Luft erhalten. Diese bezeichne ich als die nährende Energie. Im Gegenteil, nach längerem, leidenschaftlichem Sex, eventuell mit Ejakulation, kommt es zu einer Reduktion dieser nährenden Energie, ähnlich wie nach anderen sportlichen Aktivitäten. Manche Menschen beschreiben nach dem Orgasmus einen Verlust von Energie, also das Gegenteil von Stärkung. Dieser Energieverlust muss durch Ernährung wieder ausgeglichen werden.
Aber der Mensch lebt nicht ‚allein von Brot'. Hoch entwickelte Yoga-Meditierende verfügen über Methoden, Energien aus anderen Quellen zu schöpfen. Die daraus resultierende Energie nenne ich elementare oder natürliche Energie, da sie aus dem Erde-Wind-Wasser-Feuer-Aspekt entsteht. Im Orgasmus findet der gleiche Prozess statt – elementare Energie entsteht aus anderen Quellen. In beiden Fällen ist dies aber nicht jene nährende Energie, die Nahrung für die Muskeln zur Verfügung stellt und neues Sperma für die Ejakulationsflüssigkeit produziert.
Elementare Energie wird, im Gegensatz zur nährenden, beim Sex und der Ejakulation nicht verbraucht. Im Gegenteil: Elementare Energie wird im Laufe des Lebens angesammelt und verdichtet, je mehr wir sie durch gewisse Meditationsformen, Orgasmen oder andere derartigen Aktivitäten ‚hereinbringen'. Dieser Verdichtungsprozess macht Energie immer kompakter, was zu höherer Intensität führt.
Die vierte Wirkung des Orgasmus ist die Transformation, die ich als Änderung der Struktur oder ihrer Funktionsweise definiere. Wenn wir ein Werkzeug haben und wissen, wie wir es verwenden können, aber nicht genügend Pep (energetische Intensität), können wir mit dem Werkzeug nicht arbeiten. Orgasmus führt zu einer höheren Intensität und damit sind wir eher in der Lage, unsere energetischen Strukturen und Funktionen zu transformieren oder zu heilen. Die offensichtlichsten Effekte sind jene auf unsere Emotionen.
Der sexuelle Heiler, die heilige Prostituierte, der sexuelle Schamane
Täglicher, monatlicher oder sogar nur jährlicher Orgasmus kann jeweils nur ein kleines Stückchen transformieren und somit heilen. Noch mehr Nutzen erhalten wir, wenn wir die durch die Orgasmen entstandene energetische Intensität der elementaren Energie anhäufen, sie akkumulieren. Wie wir von dieser Anhäufung profitieren können, ist Aufgabe des sexuellen Heilers und der ‚heiligen Prostituierten'.
Die am häufigsten zitierten Texte über heilige Prostituierte stammen von Herodot aus dem 5. vorchristlichen Jahrhundert. Man kann ihn als den Begründer historischer Schreibweisen bezeichnen, quasi den ‚Vater der Geschichtsschreibung'. Er beschreibt babylonische Tempel, in denen jede Frau ihre Hingabe für die Göttin zeigte, indem sie sich sexuell für mindestens einen ‚Anbeter' zur Verfügung stellte. Dieser leistete dann einen finanziellen Beitrag für den Tempel. Das war eine ganz offensichtlich religiös sanktionierte Prostitution, die dem Tempel die Kasse füllte. War es nun eine oder war es keine Ehre für die Tempelfrauen, auf diese Weise im Dienste der Gottheit zu stehen? Ich selbst bezweifle zumindest, dass diese religiöse Praxis viel zur Transformation oder Heilung auf beiden Seiten beigetragen hat.
Im Gegensatz zum vorangegangenen Beispiel liegt in der hieros gamos, der ‚heiligen Hochzeit', die eigentliche Bedeutung, die in der Rolle der ‚heiligen Dirne' gefunden werden könnte. Dabei hatte der König oder der Hohepriester mit der Königin oder der Hohepriesterin zeremoniellen Sex, um das Wohlwollen der Götter für gute Ernten und gesundes Vieh herbeizurufen. Diese Zeremonien wurden vor etwa 5.000 Jahren bei den Sumerern in Mesopotamien abgehalten. Variationen dieses Rituals gab es auch in anderen Kulturen und in Fruchtbarkeits-Religionen. Manchmal hatten solche rituellen sexuellen Vereinigungen auch sehr viele Teilnehmer.
Einige zeitgenössische, westliche, sexuelle Tantra-Lehrer können als eine Abwandlung der Rolle der ‚heiligen Prostituierten' gesehen werden. Sie bringen den TeilnehmerInnen bei, erst in einenmeditativen Zustand zu gehen, um anschließend eine tiefere Erfahrung aller Sinne vor und während des genitalen Sexes machen zu können. Die Entwicklung eines ‚Westlichen Tantra' aus den verschiedenen Kulturen Indiens und aus dem tibetischen Buddhismus steht aber erst ganz am Anfang. Außerdem wird hier meines Erachtens nach der Schwerpunkt viel zu sehr ausschließlich auf die Sexualität gelegt. Manche begründen das damit, dass sich der Fokus auch im antiken Tantra anfänglich ausschließlich auf die Sexualität konzentriert habe. Vielleicht entwickeln wir im schnelllebigen, hoch technisierten Westen eine Form von Tantra, die besser in unseren jetzigen kulturellen Kontext passt.
Was ist eine heilige Prostituierte?
Für mich ist sie sowohl in der Antike als auch heute eine Zeremonienmeisterin und Lehrerin. Sie integriert Sexualität und die verschiedenen Arten des Orgasmus in die Fülle unseres physischen, mentalen, emotionalen und spirituellen Lebens. Das wichtigste unmittelbare Ziel ist die Transformation und Heilung. Nicht die Unterhaltung oder Fantasieerfüllung.
Die Primärmethodik liegt in Körper- und energetischer Therapie und nicht in ausschließlicher Gesprächstherapie. Sie ist für Einzelpersonen, Paare oder Gruppen geeignet. Fortpflanzung, romantische Liebe und sexuelles Vergnügen sind wichtig. Aber erst bestimmte Formen der sexuellen ‚Energie-Verschmelzungen' ermöglichen einen wirksamen Transformationsprozess.
Das Konzept der ‚Energie-Verschmelzungen' ist in der westlichen Sexual- und Psychotherapie unbekannt. Im Vajrayana, dem tibetischen Diamantfahrzeug, sehen wir auf Thangkas, also tantrisch-buddhistischen Bildtafeln und kleinen Statuen, häufig meditierende Liebende in der Yab-Yum-Position. In dieser sitzt der Mann mit gekreuzten Beinen, die Frau auf seinem Schoß hat ihre Beine um seine Taille geschlungen. Ich habe dieses Bild immer so interpretiert, dass hier symbolisch getrennte Energien vereinigt und so Möglichkeiten geschaffen werden, die einzeln nicht erreichbar wären.
Der wesentliche Teil dessen, was schamanische Zeremonien und schamanische Heilungen wirksam macht, hängt davon ab, ob der Schamane in der Lage ist, seine unsichtbaren Energien mit denen der TeilnehmerInnen zu verschmelzen. Und das mit einer nicht-sexuellen, nicht-erotischen Absicht. Etwa zur gleichen Zeit, als ich begonnen habe, die energetischen Muster des Orgasmus zu erkennen, konnte ich ‚sehen', dass bei einem Orgasmus die Energien vorübergehend mit jenen des Partners verschmelzen. Nach dem gleichen Muster, allerdings ohne Sex, erfolgt schamanische Heilung: Der meisterhafte Schamane verschmilzt seine Energie mit jener des Patienten und heilt ihn dadurch.
Aus dieser Einsicht heraus habe ich die Bezeichnung ‚heilige Prostituierte' auf ‚sexueller Schamane' geändert. Der letztgenannte Begriff zeigt die Bedeutung klarer, wie ich die Rolle des zeitgenössischen ‚heiligen Sexualpraktikers' sehe: Er ermöglicht Transformation und Heilung außerhalb eines traditionellen religiösen Kontextes. Ohne eine Religion, in der Sexualität positiv gesehen wird, sind diese zeitgenössischen Versionen sexueller Heilungen, heiliger Prostituierter und sexueller Schamanen nur im Rahmen professioneller Berufe möglich. Es gibt für sie keine Möglichkeiten mehr, ihr ganzes Leben im Tempel zu verbringen.
Meine Schlussfolgerungen zum Thema 'Heilung und Sexualität'
Zu oft haben religiöse Überzeugungen Sexualität in eine dunkle, sündhafte und schändliche Ecke verbannt. Mit Bewusstheit und Achtsamkeit können wir die Energien genauer in ihren verschiedenen Ausdrucksformen unserer sexuellen Natur beobachten. Sexualität ist weit davon entfernt, ein Hindernis für unser spirituelles Wachstum zu sein. Im Gegenteil, sie kann uns tiefer mit ‚allem, was ist' in Verbindung bringen und uns in diesem Prozess heilen.