Wer wirklich alt werden will, sollte sich einen regelmäßigen Tagesablauf angewöhnen. Studien aus Klöstern zeigen, dass das gut für Körper und Geist ist.
„Regelmäßigkeit befreit den Geist“, sagte Zen-Meister Ekiho. Seit er im Alter von sieben Jahren in ein Zen-Kloster eingetreten war, lebte er jeden Tag nach dem gleichen Plan und das rund 36.000 Mal, 99 Jahre lang. Er wurde 106 Jahre alt. Insofern drängt sich der Gedanke auf, ob das regelmäßige Leben nicht nur seinem Geist, sondern auch seinem Körper gutgetan hat. Für mich persönlich war ein regelmäßiger Tagesablauf wenig erstrebenswert. Er erinnerte mich an die mahnenden Worte meiner Großmutter, die mit erhobenem Zeigefinger Zucht und Ordnung forderte. Wie oft hatte ich als Kind die beiden Worte ‚regelmäßiges Leben‘ gehört! Sie rochen nach dem Mief des 19. Jahrhunderts und ich verstand sie nicht.
Das Leben ist kurz, da wollen wir viel erleben.
Heute sehe ich das anders. In unserer von Menschen konstruierten Welt sind wir vollkommen frei, zu jeder Zeit alles zu tun. Wach bleiben bis drei Uhr früh, essen, wann es uns passt, wochenlang durcharbeiten und im Urlaub schnell mal einen Trip auf die Malediven machen. Einzig und allein die Arbeit und die Schule zwingen uns, Zeiten einzuhalten und einigermaßen regelmäßig zu leben. So kommt es, dass Regelmäßigkeit mit Routine verwechselt wird. Die Flucht aus dem Alltag ist ein Programm.
Viele Menschen fürchten sich offenbar, etwas zu verpassen. Die Abende sind verplant mit Dingen, die ihnen ‚wirklich‘ Spaß machen. Die Nächte werden lange, der Schlaf kürzer. Jeden Wochentag verbringt man von neun bis um fünf Uhr im Büro, am Wochenende gönnt man sich einen Städteflug nach London.
Hart arbeiten, dann feiern
Ich war genauso. Das Leben ist kurz, da wollen wir viel erleben. Das Motto ‚Work hard, play hard‘ ist verlockend und verspricht, das letzte Tröpfchen Abenteuer aus dem Leben herauszupressen. Doch Turbo geht nur kurze Zeit, auch im Freizeitabenteuer. Bald schaltet der Körper auf Notaggregat. Notfalls mit einer Grippe, die uns wochenlang lahmlegt, oder mit einer von innen sich entwickelnden Müdigkeit, in der die vermeintliche Turbo-Lebensfreude erschlafft und zerbröselt.
Dabei wäre es so einfach. Wir sind Lebewesen. Alle Lebewesen unterliegen einem Rhythmus: dem Rhythmus des Herzschlags, dem Rhythmus des Aus- und Einatmens, dem Schlaf- und Wachrhythmus und zahlreichen anderen, sogenannten zirkadianen Rhythmen. Solange wir im Einklang mit diesen Rhythmen leben, sind wir voll Kraft und Lebensfreude.
Leben wir zu lange wider die Rhythmen, beginnen unsere Systeme zu stottern. Das merken wir nach einer Fernreise, wenn wir unter Jetlag leiden. Da kommt unser Schlaf-Wach-Rhythmus durcheinander. Für Schichtarbeiter, rund 16 Prozent der deutschen Bevölkerung, sind Schlafstörungen, Kreislaufstörungen und ein höheres Unfallrisiko bittere Nebenwirkungen ihres unregelmäßigen Alltags.
David Agus, Arzt und New-York-Times-#1-Bestsellerautor, betont nachdrücklich: „Unser Körper liebt Regelmäßigkeit, er lechzt danach. Esst zur selben Zeit. Das Mittagessen eine halbe Stunde später als gewohnt, und schon schüttet der Körper das Stresshormon Cortisol aus. Geht zur selben Zeit ins Bett und schlaft jede Nacht gleich lang.“
Gesundes Klosterleben
Aber es gibt eine Bevölkerungsgruppe, die einen regelmäßigen Tagesablauf ohne störende Termine und gefeit vor wirtschaftlicher Unsicherheit und politischen Veränderungen lebt. Es sind die Nonnen und Mönche, ob buddhistisch oder christlich. Ein christlicher Orden gibt einen genauen Stundenplan vor. Man steht früh zur selben Stunde auf, beginnt den Tag mit Gebeten, den Vigilien und Laudes, gefolgt von einer Messe. Nach dem Frühstück geht jede/r seiner/ihrer Arbeit nach und doch essen und beten sie jeden Tag pünktlich zur gleichen Zeit. Diese durchgehende Regelmäßigkeit im Tagesablauf macht Nonnen und Mönche für die Forschung interessant.
Der Bevölkerungswissenschaftler Marc Luy wollte wissen, wieso grundsätzlich Frauen durchschnittlich um sechs Jahre länger leben als Männer und ob dieser Unterschied biologische Ursachen habe. Er erhob die Daten von 11.980 Ordensleuten in bayerischen Frauen- und Männerklöstern. Die Tagesabläufe der männlichen und weiblichen Ordensleute gleichen sich und – Überraschung! – Mönche haben fast die gleiche Lebenserwartung wie Nonnen.
Er schloss daraus: Der regelmäßige, bewusst gestaltete Tagesablauf wirkt sich positiv auf die Lebenserwartung aus. Das gilt nicht nur für christliche Mönche und Nonnen. Auch den Zen-Meistern Ekiho (1902-2008), Joshu Sasaki (1907-2014), der 107 Jahre alt wurde, und dem jetzt 102-jährigen Oi Saidan Roshi, Abt des Hoko-ji-Klosters, hat das regelmäßige Leben viele zusätzliche Jahre beschert.
Regelmäßigkeit ist also einem langen Leben und der Gesundheit förderlich. Aber wie hat Ekiho das mit dem Geist, der durch Regelmäßigkeit befreit wird, gemeint?
Ein wacher Geist
Regelmäßigkeit entlastet den Kopf, um den Geist für Wichtiges wach zu halten. Es geht jedoch weit darüber hinaus. Die Rhythmisierung von Bewegungsabläufen hat eine eigene Qualität. Als ich in der Jugend Karate zu üben anfing, lernte ich die sogenannten Kata. Eine Kata ist eine immer gleich verlaufende Abfolge von Bewegungen, die man im Kampf braucht, nur ohne Gegner. In jedem Training wiederholte ich die gleichen Bewegungen. Die oftmalige Wiederholung verändert die Bewegungen, sie werden geschmeidig und gehen in Fleisch und Blut über. Das ist bei Slalomfahrern genauso wie bei Musikern. Regelmäßige Wiederholungen der Abläufe sind das Um und Auf von Spitzenleistungen. Im Zen ist es ebenso eine Art Kata, wie man in den Raum hineingeht, sich verbeugt, sich in die rechte Haltung hinsetzt. Es handelt sich um eine Abfolge von Bewegungen, die immer gleich sind. Sie haben Rhythmus.
Nun, auf den ersten Blick könnte man denken: „Gehen, das ist ja Routine! Ich gehe auch jeden Tag zur gleichen Zeit in die Arbeit und gehe die gleichen Straßen entlang.“ Nein, da gibt es einen Unterschied. Gehen wir im Alltag die Straße entlang, dann tun die Beine das eine, der Kopf das andere. Das ist auf unseren treuen Gefährten, den Autopiloten, zurückzuführen. Der Autopilot hilft uns, mit minimalem Aufwand unsere täglichen Routinen abzuspulen.
Ganz anders ist es bei einem Kleinkind, das eben das Gehen erlernt hat. Es verwendet viel von seiner Gehirnmasse für die neu angeeignete Fähigkeit, mit zwei Beinen die Horizontale zu erkunden. Es watschelt zwar unsicher und tollpatschig, aber das Gesicht strahlt vor Freude über den Erfolg. Die Passanten auf dem Gehsteig strahlen meist nicht, für sie ist es kein Erfolg, zu gehen, denn sie sind auf Autopilot.
In der Gehmeditation bemühen wir uns, den Autopiloten abzuschalten und jeden Moment bewusst zu gehen. Die immer gleichen Abläufe, die vom Kopf bewusst begleitet werden, verleihen den Bewegungen eine gewisse Grundierung, eine Festigkeit. Man könnte sogar sagen: Tiefe. Diese merkt man Menschen an, wenn sie im Alltag gehen, wie etwa auf die Bühne, in einen Konferenzraum. Diesen Menschen haftet eine Präsenz an, die aus der jahrelangen Übung der Regelmäßigkeit in der Bewegung kommt.
Regelmäßigkeit entlastet den Kopf, um den Geist für Wichtiges wach zu halten.
Irgendwann ist der Moment da, in dem es von selber zu laufen scheint. Wenn die Technik so im Körper drinnen ist, dass ein Raum sich für Weiteres öffnet. Leichtigkeit und Freiheit kehren ein, bei Musikern die Freiheit, das Musikstück zu interpretieren, bei der Meditation innerer Frieden, der das Tor zu weiteren Erkenntnissen ist. So befreit Regelmäßigkeit nicht nur den Geist, sondern gibt Körper und Geist eine Tiefe in der Verbundenheit der beiden.
Vor der nächsten Buchung eines Fernflugs, vor einer potenziell langen Nacht oder einem intensiven Arbeitseinsatz, weil das Projekt eben dringend ist, sollte man also nachdenken: Ist es wert, den Rhythmus des Körpers und des Geistes über den Haufen zu werfen? Es könnte sein, dass es „Nein!“ heißt.
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