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Leben

Der tibetische Buddhismus übt auf Menschen des Westens eine große Faszination aus und dennoch ist sein Erscheinungsbild hierzulande voller Widersprüche. Wie der tibetische Buddhismus und die tibetische Medizin zum Thema Sexualität stehen.

Das Buch ‚Der Schatten des Dalai Lama. Sexualität, Magie und Politik im tibetischen Buddhismus’ von Victor und Victoria Trimondi, alias Herbert und Mariana Röttgen, ist seitenweise eine raue Abrechnung mit vorgeworfenen Weltherrschaftsansprüchen Tibets, aber auch mit zitierten Ritualen der sexuellen Befreiung im tibetischen Tantrismus als Weg zur Erleuchtung. Auf weiter Strecke ist dieses Buch ein persönlicher Angriff der Autoren auf tibetische Würdenträger und den Dalai Lama. Wie erklärt sich dieses Spannungsfeld zwischen buddhistischem Tantra und Tantrasex?

Wer nichts weiß, muss alles glauben: Gängige Missverständnisse über das buddhistische Tantra
Indologen unterscheiden hinduistischen und buddhistischen Tantrismus, sehen aber auch starke Elemente der gegenseitigen Beeinflussung der Weltreligionen in der Ausprägung des Tantrismus. Innerhalb der Weltreligion des Hinduismus bildeten sich eigenständige Geistesströmungen, etwa der Śivaismus, der Visnuismus und gegen 500 nach Christus der Tantrismus. Dem Tantrismus nahe verwandt ist der Śaktismus, dessen Texte gewöhnlich als Tantra bezeichnet werden. Śakti steht für Energie oder Kraft und ist eine Symbolfigur, welche sich als personifizierte Gattin Śhivas manifestiert. Da die Gottheiten des Śaktismus auf Wandreliefs und Bildern oftmals in sexueller Vereinigung dargestellt sind, wurden diese Abbildungen zum Synonym orgastischer Sexualpraktiken. Die Vereinigung stellt hier aber einen meditativen Prozess auf geistiger Ebene dar und wird nicht körperlich vollzogen.
Ein Mantra im tibetischen Buddhismus bezeichnet die Praxis, den Weg, hingegen ist Tantra ein Begriff für die Texte, Bilder und schriftlichen Aufzeichnungen. Demzufolge kann tibetischer Tantrismus nicht mit ‚Tantrasex’ gleichgesetzt werden. Der Begriff Tantra treibt unzählige Stilblüten und nährt Missverständnisse.
Noch abstruser wird das Durcheinander, da häufig übersehen wird, dass es auch Tantras in der Medizin und Astrologie gibt, Texte also, die keinerlei oder nur indirekten Bezug zur Sexualität haben. Viele tantrische Texte werden Buddha Śhakyamuni selbst zugeschrieben. Anhaltspunkte für die Existenz dieser Texte als Vorlage für Buddhas tatkräftiges Wirken gibt es nicht. Man geht eher davon aus, dass die ersten Tantras nach dem Tod Buddhas entstanden sind oder erst kurz nach seinem Tod aufgefunden wurden (5. bis 4. Jahrhundert vor Christus).
Wie kann also Buddha zu Lebzeiten Anleitungen zur Nutzung der sexuellen Begierde als Weg der Erleuchtung praktiziert haben? Oder war doch alles ganz anders?

Wer träumt nicht von Erleuchtung beim Sex?
Das Ausleben einer romantischen Liebesbeziehung und das Mitgefühl zu allen lebenden Wesen schließen sich nicht grundsätzlich als Akt der Hingabe aus. Oft entsteht gerade durch die Haltung des aktiven Mitgefühls dem anderen gegenüber ein Klima der Offenheit und Reflexion, welches auch eine persönliche Innenschau bewirken kann. Dies kann zur Quelle für eine erfüllte Beziehung werden. Ob es für die Erleuchtung reicht, ist eher zweifelhaft und sehr subjektiv einzuordnen. Im Vajrayãna (Diamant-Fahrzeug) kennt man vier Arten von Sinnesfreuden. Sie werden durch das Anschauen, Anlächeln, Anfassen und die sexuelle Vereinigung gefördert und verstärkt. Allesamt gelten sie als physiologische Prozesse, die einer biochemischen Signalweiterleitung unterworfen sind. Der Biochemiker spricht von der Funktion sogenannter G-Proteine, die das Sehen, Spüren, Fühlen, Schmecken und auch die Grundmuster der sexuellen Erregung bewirken. Und da sind ja auch noch die Hormone. Der Yogi auf dem tantrischen Pfad kann offensichtlich in alle diese Prozesse eingreifen, der normale Mensch wird hier scheitern. Das vegetative Nervensystem wartet nicht auf den erzwungenen sexuellen Kick, um ihn zu erleben. Es passiert einfach, wenn die Reize das zentrale Nervensystem erreicht haben – und das geht schneller, als man glaubt.

Begierde als Ursache allen Übels?
In einem Tantra-Text von Carola Roloff, deutsche Tibet- und Indienexpertin, wird aus einer Abhandlung des tibetischen Meisters Geshe Thubten Ngawang mit dem Titel ‚Systematisches Studium des Buddhismus’ die Stellung der Begierde als Teil des tantrischen Pfades zitiert: „Zur Beantwortung dieser Frage muss man untersuchen, in welcher Art und Weise Begierde in den buddhistischen Fahrzeugen betrachtet wird. Im Śravaka-Fahrzeug werden keinerlei Methoden erklärt, um Begierde in irgendeiner Weise auf dem Pfad nutzbar zu machen. Begierde wird ausschließlich als hinderliche Eigenschaft und als etwas Aufzugebendes betrachtet. Im allgemeinen, nicht-tantrischen Bodhisattva-Fahrzeug verhält es sich etwas anders. In vielen Schriften, wie zum Beispiel dem ‚Schmuck der Klaren Erkenntnis’ von Maitreya, wird erklärt, dass ein Bodhisattva Begierde in gewisser Weise nutzen kann, um die Ursache für die vollkommene Erleuchtung zu vervollständigen. Bodhisattvas haben beispielsweise bewusst Kinder in die Welt gesetzt, von denen sie wussten, dass sie hilfreich zum Wohle der Menschen wirken würden. In solchen Fällen war sexuelles Verlangen ein Umstand für das Wirken zum Wohle anderer (....). Im Mantra-Fahrzeug können fortgeschrittene Praktizierende, die auf dem allgemeinen Pfad geschult sind und den Gottheiten-Yoga beherrschen, bestimmte Begierden nutzen, um Fortschritte auf dem Pfad zu machen. In diesem Fall ist die Begierde nicht nur ein Umstand für den Fortschritt, sondern stellt eine echte substanzielle Ursache für den Pfad dar. Erst so wird vollkommene Buddhaschaft möglich. Die Bewusstseinszustände von Freude und Glück, die im Zusammenhang mit bestimmten Formen der Begierde entstehen, werden transformiert, indem der Meditierende erkennt, dass er selbst als der Erlebende der Freude, das Objekt der Freude und die Freude selbst leer sind von inhärenter Existenz. Das letztliche Ziel besteht darin, den Geist völlig von der Begierde zu befreien, und nicht etwa, die Begierde zu verstärken.“

Ohne Verdauungsfeuer keine erfüllte Sexualität
Die Tibetische Medizin sieht das Thema Sexualität etwas differenzierter. Kälte ist ein Liebeskiller. Wer kalte Füße hat und friert, kommt schlecht in Erregung. Ohne Wärme um die Leibesmitte und bei durch Piercings irritierten Energiepunkten am Nabel gibt es keine sexuelle Potenz und Fortpflanzung. Schlechte Karten also für unsere Jugend, wenn es um ein erfülltes Sexualleben geht. Nicht nur im Winter empfehlen deshalb Tibetische Ärzte das Entfachen und Unterhalten des sogenannten Verdauungsfeuers Medrod. Pflanzliche Vielstoffgemische wie etwa die tibetische Arzneiformel Se’bru 5 (www.sanova.at) werden seit 1000 Jahren im tibetischen Hochland zur Förderung von Medrod eingesetzt. Gewürze wie Zimt, Ingwer, Nelken und Pfeffer galten seit jeher als erwärmende Gewürze, was jedoch dabei weniger beachtet wurde, ist ihr ruhmreicher Einsatz als Aphrodisiaka.
Wie gut oder schlecht das Verdauungsfeuer brennt, hängt neben klimatischen und psychischen Faktoren vor allem mit der Wahl der Lebensmittel zusammen. Schwer verdauliches Essen stagniert im Darm und schwächt das Verdauungsfeuer. Um gut verdauen zu können, ist kräftiges, gesundes Medrod notwendig. Kräftiges Medrod ist auch die körperliche Voraussetzung für sexuelle Aktivität, gesundes Leben und gesunden Nachwuchs. Dabei ist wichtig, dass beide Partner über ein kräftiges Medrod verfügen. Mischungen aus Scharf-, Herb- und Bitterstoffen in Kombination mit Granatapfelsamen sind ein Garant für ein kräftiges Medrod.

Tantrasex und Bindungshormone
„Und da gibt es ja noch Gott“, so formulierte eine Studentin in einer meiner Vorlesungen zur ‚Biochemie der Liebe’ ihren Protest und sie war natürlich im Recht. Auch wenn die westliche Medizin Prozesse der Verliebtheit, der sexuellen Aktivität und der emotionalen Bindung über die Wechselbeziehung von Neurotransmittern und Hormonen definiert, gibt es ja auch noch komplexe Bindungsverhalten, die den Grundfesten einer Religion folgen.
Die christliche Kirche machte es sich im Mittelalter zum Ziel, die fleischlichen Lü̈ste und Sehnsü̈chte vollständig zu unterwerfen. Nicht nur unzüchtige Handlungen, schon entsprechende Fantasien wurden eifrig verurteilt. Alle Liebe soll auf Gott gerichtet sein. In Sachen Lust regiert das schlechte Gewissen. Nicht einmal in der heiligen Ehe ist die körperliche Liebe erwü̈nscht: „Ein vernünftiger Mann soll seine Frau mit Besonnenheit lieben. Er soll seine Leidenschaft zügeln und sich nicht zum Beischlaf hinreißen lassen. Der Mann soll sich seiner Frau nicht als Geliebter, sondern als Gatte nähern“ (Hieronymus, 347-420 nach Christus, lateinischer Kirchenlehrer, entnommen aus Quarks-Script ‚Biochemie der Liebe’).

Ekstase im Rausch von Liebespflanzen
Viele Gewürze, die heute in keinem Küchenregal fehlen, waren in vergangenen Epochen hochgeschätzte und kostbare Aphrodisiaka. Die berühmten Pariser Serail-Pastillen enthielten Moschus, Ambra, Aloe, Myrobalane, Wermut, rotes und gelbes Sandelholz, Mastixharz, Olibanum, Galgantwurzel, Zimt und zermahlene Edelsteine (aus ‚Pflanzen der Liebe’, Christian Rätsch, AT-Verlag). Besonders die Kardamompflanze und Ingwergewächse sowie die Gelbwurz (Kurkuma) sind überlieferte Bestandteile von Vajikarana (Aphrodisiaka). Werden also Gewürze für erotische Zwecke verwendet, kommen die genannten Pflanzen in hoher Dosierung zum Einsatz. Aber Vorsicht, wir besitzen im Regelfall keine überlieferte Tradition im Umgang mit Drogenpflanzen und Aphrodisiaka.

Den Körper verstehen heißt, vernetzt denken – auch in der Sexualität
Alle unsere Sinne sind im Spiel, um aus einer rein flüchtigen Begegnung Liebe zu machen. Wir schicken Blicke, Düfte und chemische Botenstoffe hin und her und empfangen solche, bis unser Gehirn ein Bild erzeugt, das uns das Gegenüber als Geschlechts- und Fortpflanzungspartner attraktiv erscheinen lässt.
Elektrische Nervenzellen verteilen wie Kabel elektrische Reize im Körper. Botenstoffe, sogenannte Neurotransmitter, sichern die Antworten ab. Die bekanntesten Beispiele sind Acetylcholin, Adrenalin, Noradrenalin, Dopamin und Serotonin. Die letzten vier spielen im chemischen ‚Liebesspiel’ die Hauptrolle. Muss eine länger anhaltende chemische Information erzeugt werden, brauchen wir Hormone. Sie werden in Drüsen oder spezialisiertem Gewebe produziert, etwa in der Nebennierenrinde, der Bauchspeicheldrüse oder der Hirnanhangdrüse, und sind bei wirklicher Verliebtheit im Dauereinsatz. Unser Wohlempfinden hängt auch maßgeblich von der essentiellen Aminosäure Tryptophan ab. Ist Tryptophan verfügbar, kann Serotonin gebildet werden. Dieser Neurotransmitter sorgt für das nötige Grundklima des Verliebten, schafft Wohlgefühl und Sicherheit. Nur wenn ich mich wohlfühle, kann das Spiel beginnen.

 

Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Florian Überall, ist Professor der Medizinischen Biochemie an der Medizinischen Universität Innsbruck und Leiter des Gen-Analysezentrums der Medizinischen Universität Innsbruck. Überall ist Gründer und Vorstand des Informationszentrums für Tibetische Medizin in Telfs, Österreich.

 

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