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Diskurs

Zwischen objektiv und subjektiv, innen und außen, persönlich und transpersonal, Aktivismus und meditativer Stille suchen wir Menschen nach einer Balance.

Wenn es darum geht, wer recht hat oder was der Fall ist, finden wir in der Regel Objektivität gut und Subjektivität schlecht. Subjektiv nennen wir etwas, das nur meine Meinung ist – „so sehe ich das eben“, mit Betonung auf ich. Wer dagegen behauptet, die Wahrheit zu vertreten, nimmt Objektivität für sich in Anspruch und verkündet dann meist selbstgewiss seine Meinung als die objektive Wahrheit. Die Unsicheren, Sensibleren und an sich selbst Zweifelnden sagen dem Gegenüber sogar oft dann, wenn sie die Fakten auf ihrer Seite haben, sie empfänden das eben so, „rein subjektiv“.

Entgegen der üblichen Bevorzugung des Objektiven will ich jetzt einmal für die Subjektivität eintreten: Mystik ist reine Subjektivität. Meditation ist reine Subjektivität. Ich glaube nichts, was ich nicht selbst erfahren habe, und jede Erfahrung ist subjektiv. Auch dass es überhaupt eine Außenwelt gibt, ist nur eine These. Allerdings eine, mit der sich gut arbeiten lässt, die mir subjektiv hilft und die uns intersubjektiv kooperieren lässt. Objektivität anzustreben ist für uns Subjekte von Nutzen, Gewissheit aber gibt es nur in der Subjektivität.

Mystik ist reine Subjektivität.


Um bezüglich der Polarität subjektiv-objektiv eine Balance zu finden, braucht es die Erkenntnis des Primats des Subjektiven. Das ist die mystische oder meditative Erfahrung: „Ehipassiko, komm und sieh!“ Nur das, was du selbst direkt erfahren hast, unverfälscht durch Erzählungen und Interpretationen, darfst du wirklich glauben. Andererseits braucht es auch „Viveka“, das Streben danach, Illusion und Wirklichkeit voneinander zu unterscheiden, im heute üblichen Sprachgebrauch: um Objektivität zu erreichen. Auch wenn dies nie ganz gelingt, ist das Streben danach wertvoll, wie man gerade wieder angesichts der steigenden Beliebtheit von Verschwörungsmythen sieht. Eine Studie zu Millionen von Tweets hat gezeigt, dass sich Fake News sechsmal schneller und sechzig Prozent häufiger verbreiten als Fakten.
Eine weitere wichtige Balance ist für mich die zwischen innen und außen. Für einen Künstler mögen die Gedanken, Visionen und Träume das Wichtigere sein, für einen Realisten die Außenwelt. Aber kein Künstler kann ohne Außenweltbezug existieren – und die Realisten, ach, wenn die wüssten, wie fiktiv ihr Bild von der Realität ist! Jedenfalls sind die Realisten in dieser Polarität die Arroganteren, denn sie denken, dass sie ohne die Träumer auskommen. Sie haben Albert Einstein nicht zugehört. Der betonte so oft die Bedeutung der Fantasie für die Naturwissenschaften und sagte, dass die Theorie bestimmt, was wir überhaupt beobachten können. Ich finde, das fasst den Gegensatz zwischen Gedanken/Fiktion und Realität/Fakten oder auch Innen- und Außenwelt recht gut zusammen.
Ein weiterer, mir wichtiger und willkommener Gegensatz ist der zwischen Aktivismus „Wir müssen etwas tun!“ und Meditation „Es ist, wie es ist, und es ist gut so“. Meditierende brauchen eine Menge an physischen Voraussetzungen für die Kultur der Meditation: Räume, Lehrer und Lehren sowie einen gewissen Wohlstand, der uns so viel Muße erlaubt. Nur durch aktives Tun können wir all das erschaffen. Andererseits ist ein Aktivismus, der sich selbst nicht kennt und nirgendwo ruht, vergeudete Energie oder sogar zerstörerisch. „Für ein Schiff, das nicht weiß, welchen Hafen es ansteuern soll, ist kein Wind der richtige“, sagte Seneca. Ohne ein absichtsloses Hinnehmen dessen, was der Fall ist, können wir nicht vorurteilslos erkennen. Um aber irgendwo hinzugelangen, und sei es auch nur (immerhin!) zur vorurteilslosen Erkenntnis, müssen wir erst mal zielstrebig sein – und zwar mit Ausdauer.
Zu meinen Freunden gehört auch eine Person, die es mit Anatta, dem Nichtselbst und der Transpersonalität sehr ernst nimmt. Einerseits gefällt mir das: Was der Buddha da erkannt hat, das soll ja nicht ein Zeitvertreib für Akademiker sein, die sich mit der Frage beschäftigen, ob es das Selbst nun gibt (Atman) oder nicht (Anatta). Anatta ist als Erkenntnis gemeint, die uns in unserem täglichen Leben zutiefst und wesentlich berührt und zur Leidfreiheit führt. Insofern schätze ich das Engagement dieses Freundes für die Transpersonalität sehr.

Balance
Unsere Beziehung leidet jedoch darunter, dass er nur schwer erreichbar ist. Wen kontaktiere ich da eigentlich, wenn ich versuche, mich an ihn zu wenden? Ihn persönlich oder die Leere? Auf seinen Websites zeigen sich konsequent innerlich leere Wesen, voll ihrer Nichtigkeit bewusst. Niemand ist dort direkt ansprechbar, denn die Person, das Atman oder Selbst, das gibt es ja nicht. Doch vielleicht sollte ich das nicht persönlich nehmen. Das ist sicherlich, gerade hier, ein guter Rat. Um ihn und sein Anatta-Projekt zu unterstützen, bräuchte ich jedoch, ich wage es kaum zu sagen, einen Ansprechpartner. Mir scheint, der Dalai Lama hat dieses Paradoxon besser gelöst: Er ist ein Jemand, der Anatta, die Transpersonalität, verkörpert. Und er lächelt auch noch, wenn man ihn darauf anspricht! Wie aber kann denn eine Person Transpersonalität verkörpern? Gerade dieses Spannungsfeld fordert uns Balancesuchende extrem heraus und lädt uns ein, das Koan zu lösen.

 


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 114: „Balance finden"

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 „Koyaanisqatsi“ bedeutet in der Hopi-Sprache „Leben im Ungleichgewicht“. Das Wort ist auch der Titel eines 1982 erschienenen Dokumentarfilms von Godfrey Reggio mit Musik von Philip Glass. Außer dem Gesang des Titelsongs enthält der Film keinen Text. Seine Bilder zeigen die außer Balance geratene Zivilisation des Homo sapiens auf dem Planeten Erde im späten 20. Jahrhundert.

Ein solches Leben in der Spannung zwischen Gegensätzen, die schier unüberbrückbar scheinen, bleibt uns Menschen nicht erspart. Man sollte sich von solchen kognitiven Dissonanzen jedoch nicht erdrücken lassen, meint der Historiker Yuval Noah Harari. Ihr Wert läge darin, dass sie die gesellschaftliche und persönliche Entwicklung vorantreiben.
Wie ist das auszuhalten? Harari praktiziert jeden Tag zwei Stunden Vipassana und zieht sich einmal im Jahr für zwei Monate ganz aus dem gesellschaftlichen Leben zurück. Ohne das hätte er Bücher wie den Weltbestseller „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ nicht schreiben können, sagt er. Gibt es diesen Harari überhaupt, objektiv gesehen? Es muss ihn geben, ich hab ihn doch auf YouTube gesehen!

Bilder © Unsplash 

Wolf Schneider

Wolf Schneider

Wolf Sugata Schneider, ehemaliger Mönch in der buddhistischen TheravadaTradition, ist heute Autor und Humorist. www.connection.de www.bewusstseinserheiterung.info
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