Die Migrationsproblematik ist eine der großen Herausforderungen unserer Zeit. Wie geht ein Mensch, der den Anspruch auf Menschlichkeit hat, mit dieser Thematik richtig um?
MoonHee beantwortet hier Fragen des alltäglichen Lebens oder Fragen, die ihr schon immer einmal stellen wolltet. In ihrem ersten Beitrag „Wie geht es dir heute? Danke, gut!“ findet ihr mehr Informationen dazu.
Antwort MoonHee:
Kaum ein Thema ist so emotional aufgeladen wie das der Migration und ihrer Politik. Sowohl Fürsprecher als auch Gegner machen Druck. Nicht nur, dass das Migrationsthema aufgrund seiner Komplexität und der fließenden Übergänge von Legalität und Illegalität an sich schon mehr als schwierig ist, verschlimmern Vorurteile, Ängste, Hysterie und sogar Hass die prekäre Lage.
Wieder einmal zeigt sich: „Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht.“ Ganz gleich, wie sehr wir von Solidarität, Globalität, Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Diversität sprechen und uns als kosmopolitisch-moderne Menschen erachten, am Ende, wenn es darauf ankommt, sind wir doch nichts anderes als kleine Hinterwälder und Dörfler, die sich aus Angst vor dem bösen schwarzen Mann und der großen, weiten Welt verbarrikadieren und Haus und Hof aufs Blut verteidigen. Abschirmung und Verteidigung waren von jeher die Mittel, das Fremde und Andere fernzuhalten. Veränderungen und Neues machen Angst. So ergeht es allen Menschen. Die Frage ist nur: Ist diese Angst begründet? Ist sie notwendig?
Veränderungen und Neues machen Angst.
Mit welchem Recht können wir anderen verbieten, sich bei uns niederzulassen? Wer ist zugelassen, wer nicht? Paul Scheffer, Soziologe, fragt in seinem Buch Wozu Grenzen?: „Sind Bürgerrechte nicht dasselbe wie Menschenrechte? Staatsbürgerschaft kann doch nicht davon abhängig sein, wo unsere Wiege gestanden hat?“[1] Laut dem Grundgesetz, Artikel 16 a, Absatz 1, genießen politische Verfolgte Asylrecht. Der Artikel sei „Ausdruck für den Willen Deutschlands, seine historische und humanitäre Verpflichtung zur Aufnahme von Flüchtigen zu erfüllen. Es ist das einzige Grundrecht, das nur Ausländern zusteht. Die Verpflichtung der EU, Schutzbedürftigen zu helfen, ist in der Charta der Grundrechte und im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union verankert“[2], so das Bundesministerium des Innern und für Heimat. Aber wie so oft sieht die Praxis anders als die Theorie aus. Über die Rechtsstellung der Flüchtlinge entscheidet hauptsächlich die Genfer Flüchtlingskonvention. „Sie definiert, was der Begriff Flüchtling bedeutet. Sie bestimmt die Rechte von Flüchtlingen. Doch sie unterstreicht auch die Pflichten von Flüchtlingen gegenüber ihrem Aufnahmeland. Ein Kernprinzip der Konvention ist das Verbot, einen Flüchtling in ein Land zurückzuweisen, in dem er Verfolgung fürchten muss (Non-Refoulement). Sie nennt zudem Personen oder Gruppen von Personen, denen kein Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention zusteht.“[3]
Recht sprechen, recht tun und recht haben gehen nicht immer Hand in Hand. Erst einmal wird zwischen Flüchtlingen und Migranten unterschieden. Flüchtlinge sind Menschen auf der Flucht. Krieg, gewaltsame Konflikte, Verfolgung, Naturkatastrophen und Klimawandel drängen Menschen ungewollt, ihre Heimatorte zu verlassen. Migranten verlassen ihre Heimat, um woanders, unter besseren Lebensbedingungen, neu anzufangen. Gründe hierfür können Armut, Hunger, Not, Perspektivlosigkeit und Chancenungleichheit sein. Allen gemeinsam ist die Hoffnung auf ein menschenwürdiges und selbstbestimmtes Leben; ein Leben mit gleichen Rechten und Freiheiten – ein Leben ohne Leid und Elend.
Faktenlage: Ende 2022 waren 108,4 Millionen Menschen auf der ganzen Welt gezwungen, aus ihrer jeweiligen Heimat zu fliehen: 35,3 Millionen Flüchtlinge, davon sind ca. die Hälfte unter 18 Jahre, 62,5 Millionen Binnenvertriebene, den Rest bilden Asylsuchende und Exilanten.[4] Die größte Gruppe von Flüchtlingen bleibt aufgrund von Immobilität und fehlender finanzieller Mittel und weil Transit- und Zielländer Migration behindern, innerhalb ihres Landes. Da sie sich deshalb nicht auf die Rechte der Flüchtlingskonvention berufen können, ist ihre Unterstützung oft begrenzt.[5]
Migration ist kein Phänomen der Moderne.
Migration ist kein Phänomen der Moderne. Seit Menschengedenken sind Menschen auf Wanderschaft und migrieren. Im Grunde unseres Herzens sind wir alle Nomaden. Es scheint in unserem Blut zu liegen, die Welt zu erkunden und bessere Lebensräume zu erschließen. Dabei waren und sind wir vom Austausch der Güter und von der Aufnahme bei anderen Völkern abhängig. Menschheit, Migration, Kultur und Gesellschaft sind aufs Engste miteinander verwoben. Gerade die europäische und deutsche Geschichte ist von Zuwanderung und Abwanderung stark geprägt. In der Nachkriegszeit, zwischen 1945 und 1951, wurden 14 Millionen Deutsche in den Westen vertrieben. Auch woanders kam es zu Zwangsmigration (eine Million Menschen). Hinzu kam die Rückkehr von zwölf Millionen Kriegsgefangenen in den siegreichen Ländern. Aufgrund von fehlenden Arbeitskräften wurden ab 1946 italienische Arbeitskräfte angeworben. Trotz bilateraler Verträge zwischen den Ländern kam es zu Ressentiments in den Gastländern. Es folgten Portugiesen, Spanier, Griechen, Jugoslawien und Türken. Nicht legale Einwanderungen wurden im Nachhinein meistens genehmigt. Wer damals noch als Gastarbeiter abgetan wurde, zählt heute mit seinen Nachkommen zu unseren Mitbürgern. Durch die Auflösung der Kolonialreiche nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Zahl der Einwanderer stetig weiter an. Allein 383.000 Belgier verließen den Kongo, Ruanda und Burundi, eine Million Algerien-Franzosen plus 40.000 algerische Soldaten gingen nach Frankreich. Als die Zuwanderung zunahm und der Arbeitsmarkt gesättigt war, entstand eine zunehmende Fremdenfeindlichkeit. Ab 1974 galten für die Einwanderung strengere Auflagen. 1985 kam es zur Gründung des Schengen-Raums, dem mittlerweile 27 Länder bzw. 23 von 27 EU-Mitgliedstaaten angehören. „Der Schengen-Raum ermöglicht es über 400 Millionen Menschen, frei zwischen Mitgliedstaaten zu reisen, ohne Grenzkontrollen zu durchlaufen.“[6] 2004 richtete die EU die Agentur Frontex inklusive Polizeigewalt zur Sicherung ihrer Außengrenzen ein. Um die Grenzen vor potenziellen Migranten zu sichern, halten die Ukraine, Moldau, Georgien, die Türkei und Marokko als Pufferzonen her.[7] Obwohl Deutschland sich selbst als Einwanderungsland bezeichnet, weiß es gleichzeitig, sich abzuschirmen.
Mit Vorurteilen aufräumen. Es stimmt zwar, dass die Zahl der Flüchtlinge und Asylanten aufgrund der Zunahme von Kriegen und Konflikten in der Welt stark zugenommen hat, aber im Verhältnis zu den 513,5 Millionen EU-Bürgern stellen die 3,6 Millionen der sich in der EU aufhaltenden Migranten, Flüchtlinge, Asylbewerber und Staatenlose mit ihren 0,6 % nur einen sehr geringen Anteil der EU-Bevölkerung dar. Die viel diskutierten und als problematisch empfundenen Flüchtlinge sind nur ein Teil derer, die in Europa einwandern. Vornehmlich sind es Studierende, Arbeiter und Fachkräfte, die sich für eine bestimmte Zeit in Europa aufhalten.[8] Der Teil der Zuwanderer aus Nicht-EU-Staaten ist weit geringer, als wir denken. Die Mehrheit, wie wir sehen, verbleibt im eigenen Land oder auf dem eigenen Kontinent. Zwar sind Millionen von Menschen auf der Flucht, aber nur ein geringer Teil erreicht den europäischen Kontinent. Von einer Flüchtlingsschwemme oder Übermigration in Europa kann also nicht gesprochen werden.
Hetzkampagnen, Ausländerhass, Fake News verunsichern die Bevölkerung, und persönliche Zukunftsängste tun ihr Übriges, um zu mauern. Statt die Chance und die Notwendigkeit eines demografischen und wirtschaftlichen Wandels für eine alternde Gesellschaft herauszustellen, wird das Gefühl einer Invasion heraufbeschworen. Die westliche Wohlstandsgesellschaft altert. Deutschland bildet hier keine Ausnahme. Die damit einhergehenden negativen Folgen sozialer, wirtschaftlicher und politischer Art drängen zu einer neuen und offeneren Einwanderungspolitik. Was wäre Deutschland ohne seine Einwanderer? „Von 83,2 Millionen Menschen in Deutschland haben 22,3 Millionen einen Migrationshintergrund.“[9] Ob es den Deutschen gefällt oder nicht, Deutschland war und ist auf Einwanderung angewiesen.
Ob es den Deutschen gefällt oder nicht, Deutschland war und ist auf Einwanderung angewiesen.
Dabei sollten wir jedoch nicht vergessen: Menschen sind keine Handelsware, keine Arbeitssklaven und keine Austauschobjekte. Menschen flüchten nicht freiwillig und schon gar nicht, weil sie zu faul zum Arbeiten sind und irgendwo – fern von vertrauter Heimat – in Saus und Braus leben wollen. So zu denken, ist dumm und unmenschlich. Geflüchtete setzen sich schwerwiegenden Gefahren aus; sie erdulden Menschenrechtsverletzungen, und viele bezahlen mit ihrem Leben. Jedes Jahr sterben Tausende von Flüchtlingen durch Ertrinken im Mittelmeer. Von 2014 bis 2022 lag die offizielle Zahl bei 25.000 Menschen, die Dunkelziffer ist weit höher. Noch mehr Menschen verdursten oder verhungern auf ihrem Weg durch die
Sahara. Andere wiederum ersticken elendig in irgendwelchen Containern oder sterben an medizinischer Unterversorgung oder geben aus totaler Erschöpfung einfach auf. Verschleppung, Gewalt, Ausbeutung, sexueller Missbrauch, Gefangenschaft und Arbeitslager von Schleppern oder Schleusern gehören zur Normalität.
Doch auch die legale Gewalt von Grenzbehörden darf nicht ungenannt bleiben. Abwehr um jeden Preis. Die Agentur Frontex darf Abschiebungen vornehmen; dabei setzt sie sich auch über Menschenrechte hinweg. Zum Beispiel wird das Recht auf Asyl und Seenotrettung bewusst untermauert. Aktivisten, private Seenotretter, humanitäre Hilfsorganisationen werden als illegale Schleuser diffamiert und strafrechtlich verfolgt. Die Folgen sind beschlagnahmte Boote und Schiffe, weniger Rettungen und Zeugen und mehr Todesfälle.[10] Nicht alle sogenannten Schleuser sind kriminell, manche wollen ihren Mitmenschen nur helfen. Das Unmenschliche dabei ist: Viele der tatsächlichen Schlepper steuern aus Angst vor drohenden Strafen die Flüchtlingsboote nicht mehr selbst. Die Geflüchteten werden stattdessen allein, oftmals in überfüllten Booten, losgeschickt. Nicht selten werden Menschen, darunter Schwache und Kinder, beim Einstieg überrannt / niedertrampelt. Aber auch selbst gebaute Schlauchboote kommen zum Einsatz. So geraten die Boote häufig in Seenot. Die meisten Geflüchteten können nicht schwimmen und ertrinken – oder sie nehmen das Ruder in die Hand und werden strafrechtlich verfolgt. Hinzu kommt, dass freiwillige Helfer heute dafür bestraft werden können, wenn sie Menschen nach Europa in Sicherheit bringen, sie ernähren, kleiden oder betreuen. Diese Kriminalisierungspolitik wird durch das sogenannte Facilitators Package, eine Richtlinie der EU aus dem Jahr 2002, ermöglicht.[11] „Sie verlangt von den Mitgliedstaaten, Menschenschmuggel unter Strafe zu stellen. Staatsanwält:innen und Richter:innen können Geflüchtete oder Helfer:innen heute so behandeln, als betrieben diese ein mafiöses Business, obwohl sie mit der Überfahrt, etwa aus der Türkei, keinen Gewinn zu erzielen versucht haben. Auch jene Menschen können wegen Schlepperei bestraft werden, die aus humanitären Gründen helfen. Jurist:innen sprechen von ‚Solidarity Crimes‘ – Solidaritätsverbrechen.“[12] Hier ist der Leitfaden: Nicht Dienst am Nächsten, sondern „im Dienst der Mächtigen“[13]. Kontrolliert werden Menschen an ihrer Flucht über das Meer behindert oder die Boote werden an den Grenzen der eigenen Hoheitsgewässer zurückgedrängt (Pushbacks), was rechtswidrig ist. Menschen haben beim Überschreiten der EU-Außengrenze einen gesetzlichen Anspruch, einen Asylantrag in der EU zu stellen.[14]
Aus den oben genannten Gefahren und Risiken nehmen mehr Männer, hauptsächlich jüngeren Alters, den Weg über das Meer, jedoch sind mindestens 50 % aller Flüchtlinge Frauen und Mädchen. Die Angst vor dem bösen schwarzen Mann ist demnach vollkommen unbegründet. Die meisten Geflüchteten halten engen Kontakt zu ihren Familien, senden ihnen Geld und wollen eher früher als später in ihre Heimat zurückkehren. „Insgesamt rund sechs Millionen Menschen setzten diesen Plan in die Tat um und kehrten in ihre Heimat zurück; davon 5,7 Millionen Binnenvertriebene (etwa innerhalb Äthiopiens, Myanmars oder Syriens) sowie rund 340.000 Menschen in ihre Heimatländer (etwa in den Südsudan, nach Syrien oder nach Kamerun).“[15] Der Grund, warum nicht alle Flüchtlinge zurückehren, ist mehr als offensichtlich. Solange sich an den Fluchtursachen selbst nichts ändert, ist ein Zurückkehren kaum möglich.
Nicht die Flüchtlinge sind die Schuldigen. Verantwortlich für deren desolate Lage sind Politik, einseitiges Wirtschaftswachstum, Armut, Hunger, Ausbeutung, Korruption, Chancenungleichheit, Macht- und Konsumgier und zu guter Letzt der Klimawandel. Kurz zusammengefasst: menschliches Versagen und Unmenschlichkeit aufseiten der sicheren und wohlhabenden Länder. Flüchtlinge sind keine Asyltouristen! Ein Urlaub im 5-Sterne-Hotel all-inclusive sieht anders aus. Die Verzweiflung und die Hoffnung auf Überleben treiben Menschen an, geliebte Menschen und Altvertrautes zurückzulassen, ihr Leben auf illegalen Wegen, da es kaum noch legale Fluchtrouten gibt, aufs Spiel zu setzen. Darüber hinaus müssen sie in den Ankunftsländern Anfeindungen, Rassismus, Diskriminierung und schlechte Bezahlung hinnehmen. Ungeachtet aller Vorurteile, die man ihnen entgegenbringt, leben sie zwar noch, aber sie sind zu Menschen zweiter Klasse degradiert – jedenfalls diejenigen, die anders als die Einheimischen aussehen und der Sprache des jeweiligen Einwanderungslandes nicht mächtig sind. Es ist nicht von der Hand zu weisen: Flüchtlinge aus der Ukraine werden bevorzugter behandelt als Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder Afrika. Ukrainische Geflüchtete genießen aufgrund politischer Vetternwirtschaft, Zugehörigkeit zu Europa, Ähnlichkeit in Aussehen, Kultur und Religion ein besseres Image und werden in den Medien positiver besprochen.
Die Welt pulsiert. Sie dehnt sich aus, sie zieht sich zusammen. Globalität vs. Abschottung. Toleranz oder Isolation? Die Wahl und die Verantwortung liegen bei jedem Einzelnen von uns.
Wie wollen wir auf den Ruf nach Menschlichkeit antworten?
Sicherlich bedeuten Flucht und Migration auch für die Ankunftsländer und ihre Bewohner eine große Herausforderung. Doch darf Menschlichkeit nicht an Bürokratie, Bequemlichkeit, Sprachbarrieren oder persönlichen Ängsten, Interessen und Unwissenheit scheitern. Menschen mit Vorbehalten und Ängsten bitte ich, sich ausreichend gut zu informieren. Dafür sollten seriöse Informationsquellen und keine laienhaften sozialen Netzwerke oder polemisch geführte Talkshows genutzt werden. Halbwahrheiten oder gezielt platzierte Falschmeldungen ängstigen. Stellen wir uns jedoch nicht gegen unsere Mitmenschen, die jeder Hilfe bedürfen – aus Angst, dass wir am Ende die Leidtragenden sind. Flüchtlinge leben nicht auf Kosten unserer Steuergelder. Sie machen sich nicht breit und nehmen uns auch nicht unsere Arbeitsplätze weg. Auf die letzten zwei Punkte wurde schon detailliert eingegangen. Kommen wir zum ersten Punkt: dem lieben Geld, dem Hauptgrund für Unmenschlichkeit. Flüchtlinge kosten den Staat Geld, stimmt. Die flüchtlingsbezogenen Ausgaben betrugen etwa 5 % des verabschiedeten Bundeshaushalts. Doch Deutschland ist eines der wohlhabendsten Länder der Welt, gemessen am Bruttosozialprodukt 2022 sogar die größte Volkswirtschaft.[16] Die UNO-Flüchtlingshilfe macht aufmerksam: „Vergleicht man schließlich die 28 Milliarden Euro mit den geschätzten 125 Milliarden Euro, die dem Bund jährlich durch Steuerhinterziehung entgehen, wird klar: Es ist eine ganz andere Art von ‚Flüchtlingen‘, die den deutschen Staat zu viel Geld kosten.“[17]
Wir sollten uns fragen, ob wir lieber Geld in Menschlichkeit oder 100 Milliarden Euro zur Modernisierung unserer Streitkräfte investieren wollen?[18] Ebenfalls bekommen Flüchtlinge nicht mehr Geld als bedürftige Deutsche. Solange der Asylantrag nicht genehmigt ist, werden die Grundbedürfnisse rein durch Sachleistungen abgedeckt. Dazu zählen Gemeinschaftsunterkünfte, Essen, Heizung, Gesundheits- und Körperpflege und Haushaltswaren. Für eine Geldleistung mit dem Höchstsatz von 228 Euro, wenn Sachleistungen nicht ausreichend gedeckt werden, nimmt ein Flüchtling wohl kaum den langen und lebensbedrohlichen Weg auf sich. Mit einer Aufenthaltsdauer von sechs Jahren sind 54 % der Geflüchteten erwerbsfähig. Zwei Drittel davon arbeiten in Vollzeit und 70 % üben eine qualifizierte Berufstätigkeit aus und benötigten keine staatliche Grundsicherung mehr.[19] Die Beschimpfung als Schmarotzer und Asyltouristen ist mehr als unangebracht.
Na schön: Aber wir können doch nicht alle aufnehmen und all diese Kriminellen? Erstens beherbergen nicht die EU-Staaten die meisten Flüchtlinge, sondern die Türkei. Sie hat weltweit die meisten Geflüchteten (3,6 Mio.) aufgenommen. Es folgen der Iran (3,4 Mio.) und Kolumbien (2,5 Mio.).[20] Trotz der Flüchtlingshilfe, die die EU seit 2011 der Türkei im Umfang von fast zehn Milliarden stellt, ist das eine beträchtliche Leistung.[21] Dass hier nicht allzu viel Platz für Menschlichkeit ist, ist naheliegend. Über das EU-Türkei-Abkommen von 2016 lässt sich streiten – bei einem Kuhhandel gewinnen selten die Betroffenen. Zweitens zur Kriminalität bei Flüchtlingen: „Da nicht nach Aufenthaltsstatus differenziert wird, gibt es so gut wie keine Angaben zur Anzahl tatverdächtiger Flüchtlinge.“[22] Fakten und Zahlen werden allzu oft verzerrt. Es wird davon ausgegangen, dass Straftaten mindestens doppelt so häufig zur Anzeige gebracht werden, wenn sie von Menschen begangen werden, die als fremd wahrgenommen werden. „In der Kriminalstatistik erhalten Flüchtlinge eine viel höhere Sichtbarkeit, die ihrerseits dazu missbraucht werden kann, ausländerfeindliche Ressentiments und Ängste zu schüren.“[23]
Der Mensch sieht und hört das, was er hören und sehen möchte. Machen wir es nicht so kompliziert. Der Hauptgrund unserer Probleme sind wir selbst. Weil wir uns in einem Mehr und Haben verloren haben, regiert Angst statt Liebe, Ablehnung statt Gemeinschaft. Aber ohne Liebe keine Menschlichkeit und ohne Gemeinschaft keinen Frieden. Eine der Fluchtursachen ist Krieg. Das heißt, wir alle tragen Mitschuld, dass Millionen von Menschen fliehen müssen, heimatlos sind und auf schrecklichste Weise zu Tode kommen. Kapitalismus, einseitiges Wirtschaftswachstum und Profitgier töten – vor allem den Menschen in uns. Unsere „globale Konsumenten-Demokratie“[24] macht unsere Welt zu einem leblosen Ding und uns gleich mit. Weil wir selbst innerlich tot sind, berühren uns die Tode und Schicksalsschläge unserer Mitmenschen kaum. Gewinn-und-Verlust-Rechnung machen Menschen und Natur zu Gewinnern oder Verlierern. Noch sind die anderen die Verlierer – die Armen, die Notleidenden, die Unterdrückten. Doch der Wohlstand auf Kosten einer misshandelten Umwelt wird früher oder später auch uns zu Verlierern machen. Der Wirtschaftswissenschaftler und langjährige Berater von François Mitterrand, Jacques Attali, schrieb 1992 in seinem Buch Millennium, dass die großen Verlierer die Bewohner der Peripherie und die Biosphäre selbst sein werden.[25] „Wenn die gegenwärtige Generation den Zwang, alles haben zu müssen, nicht unterdrückt, werden sämtliche künftigen Generationen Verlierer sein.“[26] Diese Aussage von Attali darf jedoch nicht allein auf den Klimawandel bezogen werden. Wir werden alle(s) verlieren, wenn wir nicht teilen wollen.
Der moderne Mensch mit seinen „nomadischen Objekten“[27], wie Smartphones, Smartwatches, Laptops, inklusive Videokommunikation, ist immer unterwegs – selbst wenn er zu Hause ist. Mobilität ist das größte Produkt einer hyperindustriellen Welt. In ihr wird persönliche Autonomie als Zeichen von Freiheit und Macht angesehen.[28] Ganz gleich, wo wir sind, wir können selbstbestimmt (fast) alles und überall tun. Hingegen verläuft das Leben von Geflüchteten zwischen Selbstbestimmung und Abhängigkeit, zwischen Anerkennung und Abschiebung. Schon um dem Recht auf Selbstbestimmung Genüge zu tun, sollten wir einer gelingenden Integration nicht im Wege stehen, vielmehr sollten wir sie mit vereinten Kräften und Mitteln fördern. Wir alle sind Nomaden bzw. Gäste auf diesem Planeten: Nichts gehört mir – allen gehört alles. Attali erläutert, dass das Wort Nomade vom Altgriechischen kommt und so viel wie teilen oder aufteilen ausdrücken soll. Der Nomade kann also nur überleben, wenn er seine Weide mit anderen zu teilen versteht.[29]
Kein Mensch ist illegal! Kein Mensch darf ins Abseits gedrängt werden und zum Zuschauer abgestempelt werden. „Jeder hat das Recht, in einem anderen Land vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen“, so Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. „Alle Menschenrechte stehen jedem Menschen gleichermaßen und unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit sowie dem rechtlichen Aufenthaltsstatus zu. Sie sind universell, unveräußerlich und unteilbar.“[30] Alle Menschen sind Teil einer moralischen Gesellschaft, die keine Grenzen haben kann.[31]
Ich möchte mich den Forderungen und Lösungsvorschlägen der Welthungerhilfe anschließen. Dort heißt es: „Es muss in enger Zusammenarbeit eine gemeinsame, europäische Lösung gefunden werden, um die Umstände von Flucht und Migration, parallel zum Abbau von Fluchtursachen, zu verbessern. Wichtige Punkte sind: Mehr legale Einreisemöglichkeiten für Schutzsuchende. Ein funktionierendes System zur Seenotrettung. Unbedingtes Einhalten der humanitären Standards. Ein Überdenken der Verlagerung von Grenzschutz und Flüchtlingsabwehr in Nachbarstaaten der EU. Eine gemeinschaftliche Flüchtlingspolitik, bei der alle Mitgliedstaaten – je nach Kapazität – Verantwortung übernehmen.“[32]
Weitere Fragen & Antworten von MoonHee Fischer finden Sie hier.
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Bilder Teaser und Text© Pexel
Bild Header © Sigurd Döppel
[1] Paul Scheffer 2019, 21.
[2] Bundesministerium des Innern und für Heimat Asyl und Flüchtlingsschutz Stand 29.12.23
[3] UNCHR Deutschland Faq Genfer Flüchtlingskonvention Stand 29.12.2023.
[4] Vgl. Mehr Menschen als je zuvor aus ihrer Heimat vertrieben Stand 29.12.23
[5] Welthungerhilfe Binnenflüchtlinge Stand 29.12.2023.
[6] Europäischer Rat Erläuterungen zum Schengen-Raum Stand 31.12.2023.
[7] Vgl. Fakten, Daten und Zahlen arte Migration: Eine lange Geschichte/ Mit offenen Karten Stand 31.12.2023.
[8] Ebd.
[9] Altas der Migration 2022, 58.
[10] Vgl. ebd., 24.
[11] Vgl. ebd.
[12] Ebd., 26.
[13] Ebd.
[14] Vgl.ebd.
[15] Tagesschau So viele Flüchtlinge wie noch nie Stand 30.12.23
[16] Vgl. UNO-Flüchtlingshilfe Vorurteile gegen Flüchtlinge auf dem Prüfstand Stand 31.12.2023.
[17] Ebd.
[18] Vgl. Bundesministerium der Verteidigung Verteidigungshaushalt Stand 31.12.2013
[19] Vgl. Uno-Flüchtlingshilfe Vorurteile gegen Flüchtlinge auf dem Prüfstand Stand 31.12.2023.
[20] Vgl. ebd.
[21] Vgl. Europäische Kommission Bilanz zur EU-Hilfe für Flüchtlinge und Aufnahmegemeinschaften in der Türkei.Bilanz zur EU-Hilfe für Flüchtlinge und Aufnahmegemeinschaften in der Türkei. Stand 01.01.2024.
[22] Ebd.
[23] Ebd.
[24] Jacques Attali 1992, 30.
[25] Vgl. ebd., 81.
[26] Ebd. 89.
[27] Ebd. 23.
[28] Vgl. ebd., 122/123.
[29] Vgl. ebd.
[30] Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Rechte von Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten Stand 31.12.2013
[31] Vgl. Paul Scheffer 2019, 29.
[32] Welthungerhilfe Flucht und Migration Stand 31.12.2013
Und diese ganze Sache mit den Flüchtlingen... Ja, sie haben es schwer, das bestreite ich nicht. Aber warum müssen sie zu uns kommen? Warum können sie nicht in ihren eigenen Ländern kämpfen und versuchen, die Dinge zum Besseren zu verändern? Warum müssen wir die Last der ganzen Welt tragen?
Und was ist mit den sozialen und kulturellen Konflikten, die durch die Migration entstehen? Ist es wirklich so einfach, Menschen aus verschiedenen Kulturen und mit verschiedenen Wertvorstellungen zusammenzubringen, ohne dass es zu Spannungen kommt? Ich bezweifle das stark.
Es ist Zeit, dass wir aufhören, uns in moralischen Selbstgefälligkeiten zu suhlen und die Realität anzuerkennen. Die Welt ist kein Ponyhof, und wir können nicht jeden retten. Es ist an der Zeit, dass wir unsere eigenen Probleme lösen, bevor wir versuchen, die Probleme der ganzen Welt zu lösen.