Der Körper ist ein Tempel, der gepflegt, geliebt und berührt werden möchte.
Tantra ist eine alte indische Lebensphilosophie, die sich im Hinduismus und im Buddhismus auf unterschiedliche Weise entfaltet hat. Sie entstand etwa im 5. bis 6. Jahrhundert u. Z. und brachte eine radikale Veränderung mit sich, allerdings eher in der spirituellen Praxis als in der zugrunde liegenden Philosophie.
Ausgehend von den Überlegungen zur Nichtdualität, die in den spirituellen Philosophien wie dem Vedanta oder dem Madhyamika formuliert wurden, leiteten die Tantriker ab, dass die Grenze zwischen Weltlichkeit und Transzendenz nicht real existiert, sondern dass Nirvana und Samsara eigentlich dasselbe sind. Der Unterschied besteht vor allem darin, wie der Geist auf die alltäglichen Dinge schaut.
Das veränderte dann auch den Zugang zu Weltlichkeit und Körperlichkeit. Wo in früheren spirituellen Schulen in Indien der Körper ein Hindernis war, den es zu überwinden galt, sahen die Tantriker nun den Körper als „inneren Tempel“, der zu pflegen und zu kultivieren sei.
Im Besonderen veränderte die „tantrische Revolution“ auch die Sicht auf die Sinne. Während diese im Vedanta noch als verführerisch, irreführend und weltlich abgelehnt wurden, hatten die Adepten des Tantra ein Interesse daran, die sinnlichen Erfahrungen zu intensivieren.
Diese besondere Betonung der Sinnlichkeit ist auch den heutigen Formen des Tantra zu eigen, die sich in vielfältiger Form im Westen ausgebreitet haben, wenn auch oft einhergehend mit einer Verwässerung der ursprünglichen Lehren. In den letzten Jahren haben sich neue Tantra-Schulen mit dem Wissen der Tradition neu verbunden.
Das Tasten ist die aktive Suche nach Hautreizen.
Meine Perspektive ist die des Integralen Tantra. Dieses ist auf die heutigen Bedürfnisse zugeschnitten und versucht, verschiedene Ansätze zu integrieren und mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu versöhnen.
Die Sinne sind der Zugang zur Außenwelt und zur Umgebung. Doch aufgrund mangelnder Konzentration nutzen wir sie nicht in vollem Umfang. Die meisten tun im Alltag mehrere Dinge gleichzeitig: Man unterhält sich beim Essen und verpasst den Geschmack. Musik dient vielen oft als Hintergrundberieselung, Und wie viele hängen in der Natur den Gedanken, Zielen und Plänen nach, anstatt die dortige Schönheit zu genießen?
In meinen tantrischen Kursen lade ich durch Übungen dazu ein, sich achtsam auf Sinneserfahrungen zu konzentrieren und sie so intensiv wie möglich zu erleben. Voll eintauchen ins Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken. Diese Erfahrungen können gestärkt werden, wenn die Übenden die Augen schließen und tief in den Unterbauch atmen. Wir können die Aufmerksamkeit einerseits ganz auf die Sinneserfahrung lenken und andererseits in den Raum verströmen lassen, mit unterschiedlichem Effekt.
Von besonderer Bedeutung in der Tantra-Praxis ist der Tastsinn: Er ist der erste, der sich im Neugeborenen entwickelt, und der letzte, der uns beim Sterben verlässt. Menschen können überleben, ohne zu sehen oder zu hören, jedoch nicht ohne zu tasten. Ohne Tastsinn wüssten wir nicht mal, dass wir existieren, wie Neurowissenschaftler argumentieren.
Fühlen, Tasten und Begreifen beschreiben die Berührung und ihre Wahrnehmung. Das Fühlen ist zuerst das passive Empfinden eines Reizes auf der Haut. Das Tasten ist die aktive Suche nach Hautreizen. Beim Begreifen entstehen im Inneren des Gehirns ein Bild und eine Vorstellung von dem, was mit der Haut wahrgenommen wird.
Die Haut ist das größte Organ des Menschen. Beim Erwachsenen ist sie zehn bis zwölf Kilogramm schwer und hat eine Fläche von 1,5 bis zwei Quadratmetern. Die Haut hat eine Schutzfunktion, sie übermittelt sinnliche Reize, reguliert die Körpertemperatur und hat noch viel mehr Funktionen, etwa als Fettdepot. Sie verfügt über mannigfache Rezeptoren für unterschiedliche Reize: Druck, Wärme, Kälte, Schmerz.
Berührung geht buchstäblich unter die Haut. Der Hautkontakt, seien es liebevolles Halten, Streicheln oder Massieren, ist ein ursprünglicher Kommunikationsweg bei Menschen und den tierischen Vorfahren. Wer als Kind zu wenig Berührung erfährt, kann nachhaltige Entwicklungsstörungen erleiden, wie Forschungen belegen. Zu wenig Berührung kann sogenannte Deprivation zur Folge haben.
Umarmung |
Der Anthropologe Ashley Montagu spricht von einer „Seele der Haut“ – der Haut als schützende Hülle, die uns einen Hintergrund von Sicherheit und Wohlbefinden gibt. Frühe Erfahrungen sinnlicher Geborgenheit bewirken im späteren Leben Selbstsicherheit und das Gefühl, in der Welt willkommen zu sein.
Wenn wir die Hand, das Gesicht oder den ganzen Körper eines anderen Menschen berühren, der wirklich achtsam ist, kann dadurch eine beglückende Nähe und Intimität entstehen. Wissenschaftler haben festgestellt, dass die Haut spezielle Rezeptoren für angenehme Berührung hat, die sogenannten CT-Fasern. Diese werden nur durch solche Berührungen aktiviert, die sehr langsam, warm (32 bis 37 Grad) und weich sind. Das entspricht genau der Qualität achtsamer sinnlicher Berührung.
Anders gesagt, der Tastsinn verfügt über die Fähigkeit, liebevolle oder sinnliche Berührungen anderer Menschen zu erkennen und zu differenzieren. Offenbar sorgen die CT-Fasern auch dafür, dass Glücks- und Bindungshormone wie Oxytocin ausgeschüttet werden.
Wichtig ist, dass die berührende Person wirklich da, präsent ist und mit ihren Gedanken nicht abschweift. Ein kleiner Tipp: Beim Berühren die Augen öffnen und der Berührung mit dem Blick folgen. Das hilft, weniger abgelenkt zu sein.
Dennoch gibt es in vielen Kulturen eine sehr ambivalente Haltung gegenüber Berührung und Zärtlichkeit. Diese wurzelt in der sexualfeindlichen Geschichte. Aufgrund der vielen Tabus wurde jede Form zärtlicher Berührung in die Nähe zu unerlaubter Erotik gesetzt. Somit unterlagen lange auch freundschaftliche und tröstliche Berührungen einem Reglement.
In den letzten Jahren haben viele Menschen durch die Ereignisse rund um die COVID-19-Pandemie ihre Berührungen noch mehr reduziert. Manche sind zurückhaltend, was das Anfassen anderer Menschen angeht, etwa den Handschlag oder die Küsschen auf die Wange. Die neue Norm ist, Körperkontakt um jeden Preis zu vermeiden. Diese Gewohnheit könnte in der Folge zu Erfahrungen von Mangel führen, zu Isolation und Vereinzelung. Wie eine Frau, die mir unter Tränen sagte, sie hätte seit einem Jahr keinen Menschen mehr berührt.
Es wäre sinnvoll, dieser Entwicklung entgegenzuwirken und sichere, achtsame Räume zu schaffen, in denen Menschen die Erfahrung von Berührung machen können.
Dazu gibt es auch Ansätze wie das therapeutische Kuscheln oder seriöse Tantra-Massagen, bei denen körperliche Nähe und Präsenz im Zentrum stehen. Ein ganzer Zweig des zeitgenössischen Tantra beschäftigt sich mit achtsamer Berührung. Berührung ist zentral, um emotional zu kommunizieren. Und wenn man sich in den Bereich der Beziehung, Intimität und Sexualität vorwagt, ist es von immensem Nutzen, viel über die Qualitäten und Dimensionen von Berührung zu wissen, zu verstehen und einzuüben.
Berührungsreise mit Wasser, Erde, Luft und Feuer Wasserberührung: die ganze Handfläche ist im Kontakt, du führst fließende/streichende mittelstarke Berührungen in langsamem Rhythmus aus, die die Hautzellen erwecken. Erdberührung: fester anfassen, kneten und richtig massieren. Gehe tiefer ins Gewebe und in die Struktur. Du kannst Muskeln, Sehnen, Knochen ertasten. Lass Kraft einströmen und Präsenz. Luftberührung: zartes, sehr sanftes Streicheln. Zärtlich, wie eine Feder oder ein Lufthauch. Benutze dazu einzelne Finger und die Fingerspitzen. Feuerberührung: reibende, kratzende und wilde Berührungen, die den Körper und die Lust anregen. Dabei tiefer atmen und kleine Überraschungen einbauen. |
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 121: „Mit allen Sinnen"
Silvio Wirth, Diplom-Psychologe, Yoga- und Meditationslehrer, Gründer des Integralen Tantra und Leiter des Secret-of-Tantra-Instituts bei Berlin. www.secret-of-tantra.de
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