Anhänger des Vajrayana präsentieren ihren „Gottheiten-Yoga“ gerne als die höchste Form buddhistischer Übung, ein „blitzschnelles Fahrzeug“, das die Erleuchtung noch in diesem Leben ermögliche. Ein Bericht über bizarre Rituale und eine geheime Alchemie.
Während sich im Westen der Vajrayana-Buddhismus nach wie vor großer Beliebtheit erfreut und das Gros der Konvertiten stellt, spielt er mit etwa achtzehn Millionen Anhängern innerhalb des Weltbuddhismus nur eine untergeordnete Rolle. Das sind gerade einmal vier Prozent aller Buddhisten. Lange Zeit war bei uns das Image dieser Richtung von der Faszination für das Fremde und Wunderbare geprägt, mit Bildern von ewig lächelnden Meistern des Schneelands, die ihre Schülerinnen und Schüler mittels geheimer Initiationen und wundersamer Ritualpraktiken erleuchten. Heute entdecken immer mehr Menschen, insbesondere durch die Zeugnisse von „Renegaten“, dass das, was sich hier umhüllt von der Aura des Sehnsuchtsvollen und gesegnet mit dem Nimbus spiritueller Hingabe an einen hocherleuchteten Meister präsentiert, nicht ganz frei von Risiken und Nebenwirkungen ist. Die Begeisterung früherer Jahrzehnte weicht nüchternen Tatsachenbefunden und einem zunehmenden, aber nicht immer in klare Worte gefassten Unbehagen.
Geheime Texte und Praktiken und die Erleuchtung
Nach dem gängigen Narrativ des Vajrayana soll der tantrische Buddhismus direkt auf den Buddha zurückgehen und von Meister zu Meister in einer ununterbrochenen Tradition erleuchteter Übung bis in die Gegenwart wirken. Allerdings ist im Pali-Kanon mit keinem Wort vom Tantrismus und von seinen Übungen die Rede. Populär wird diese Richtung überhaupt erst ab dem siebten nachchristlichen Jahrhundert. Inzwischen gibt es eine Reihe von Studien, die neue Erkenntnisse über die Ursprünge des Vajrayana liefern. Neben Einflüssen aus den Riten und dem Götterhimmel der Hindu-Religionen wird auch auf den Gebrauch psychedelischer Substanzen verwiesen. Dabei zeigt sich, dass zwischen dem Heiligen und dem Obszönen nicht selten nur eine ziemlich verwischte Grenzlinie verläuft. Manches erschließt sich erst, wenn man es gegen den Strich liest und nicht allein in einem religiösen oder symbolischen Kontext interpretiert. Viele tantrische Texte, obwohl sie heute frei im Internet kursieren, sind nur für Eingeweihte bestimmt. In Tibet wurden sie nur in Handschriften verbreitet und gläubige Anhänger dürfen sie bis heute nur unter Anleitung eines tantrischen Meisters lesen.
Die entsprechenden religiösen Praktiken sind vielfältig. Unter anderem umfassen sie komplexe Visualisierungsübungen, mit denen der Adept oder die Adeptin subtile Energien erweckt und in höhere Bewusstseinszustände eintritt. Dabei werden körpereigene Hormone, insbesondere Endomorphine, ausgeschüttet, die ein entsprechendes subjektives Erleben initiieren. Hinzu kommen der Verzehr unappetitlicher Substanzen im Rahmen von Ritualen sowie eine Magie der Transformation, verbunden mit ritueller Sexualität und der Aufnahme dabei emittierter Körperflüssigkeiten. All dies geschieht im Rahmen strenger Tantra-Gelübde und strikter Geheimhaltungsgebote, wobei auch die Einnahme psychedelischer Stoffe eine Rolle spielt.
Die Grundübung besteht in der mentalen Erzeugung von Gottheiten, entweder über dem Kopf des Meditierenden oder im leeren Raum vor sich, mit deren Energien sich der Übende verbindet, mitunter vereint, und die er am Ende wieder in die „Große Leere“ auflöst. Nicht unähnlich den daoistischen Praktiken zur Erzeugung eines göttlichen Embryos geht es um die Erschaffung des „Vajrakaya“, eines göttlichen Raumkörpers. Ziel ist die Selbsterzeugung in Gestalt einer Gottheit vermittels der Umwandlung negativer Eigenschaften wie Aggression, Begierde und Unwissenheit in glückselige Zustände, am Ende das Hervorbringen des „Klaren Lichts“. Nach den Vajrayana-Lehren besteht der Leib aus Energiezentren – Chakren, die durch Kanäle miteinander verbunden sind. Es handelt sich um ein gewaltiges Netzwerk, durchströmt von Körpersekreten, anderen Flüssigkeiten und Winden. Mit kleineren Nuancen sind es Vorstellungen, die aus den Hindu-Religionen übernommen wurden. Eine besondere Rolle spielt die kultische Verehrung der Geschlechtsorgane, wobei das Männliche mit dem Vajra, einem Zepter oder Donnerkeil gleichgesetzt wird. Witzbolde veräppeln diese Richtung daher auch als den „Penis-Buddhismus“. Tatsächlich liegt der Ursprung im Shiva-Lingam der Hindu-Religionen. Das weibliche Pendant wird symbolisch als Lotosblüte oder Glocke apostrophiert.
Das tantrische Mahl
Die tantrische Ritualspeise besteht aus sonst verbotenen Nahrungsmitteln sowie kulinarischen Perversionen. Das sind zunächst die fünf im indischen Kulturraum tabuisierten Fleischarten: Elefanten-, Kuh-, Hunde-, Pferde- und Menschenfleisch. Letzteres stammt von Toten und wird in Form von Pillen eingenommen. Nach dem „Hevajra“, „Cakrasamvara“ und anderen buddhistischen Tantra-Texten werden Zubereitungen aus den Körpern verstorbener brahmanischer Asketen hergestellt. Beim Verzehr soll sich der Adept die vergängliche Natur seines Leibes vergegenwärtigen und so den Zustand der Nichtdualität erfahren. Als Getränk während einer Puja wird Alkohol in tropfengroßen Mengen verabreicht. Quecksilber ist eine weitere Zutat der tantrischen Elixiere Tibets. Anders als im chinesischen Daoismus dient es jedoch nicht primär der Lebensverlängerung – tatsächlich bewirkt es bekanntermaßen das Gegenteil, wie auch schon einige der chinesischen Kaiser erfahren mussten, die ihren daoistischen Beratern auf diesem Gebiet allzu sehr vertrauten –, sondern es eignet sich wegen seiner Eigenschaft, andere Substanzen zu „verschlucken“, zum Beispiel sein weibliches Pendant, den Schwefel. Kleinere Mengen mögen wohl die Haut straffen und das Haar seidig glänzen lassen, chronische Quecksilbervergiftungen hingegen schädigen das Nervensystem, führen zu Wahnvorstellungen und schließlich zum Tod.
Die tantrische Orgie: Transformation und Veredelungslogik
Die Grundlage der tantrischen Magie ist eine Logik der Umkehrung: Das Schlimmste gilt als der geeignete Ausgangsstoff für das Beste. Neben Ritualsex mit dem Guru, dem dabei auch die eigene Partnerin dargebracht wird, geht es insbesondere um Kulte mit Körperflüssigkeiten, die in Anleitungstexten oft beschönigend beschrieben werden. Ist zum Beispiel von einem mystischen Nektar aus Tee und Joghurt die Rede, handelt es sich in Wirklichkeit um ein Gemisch aus männlichem Ejakulat und weiblichen Sexualsekreten. Obwohl buddhistisch inspirierte Radikalfeministinnen gelegentlich versuchen, den Tantrismus als matriarchalisches Urgeschehen zu porträtieren, sind die Belege dafür dünn und sporadisch. Zumeist wird lediglich auf mündliche Bekundungen der „geheimen Gefährtinnen“ großer Tantra-Meister zurückgegriffen. Abtrünnige Vajrayana-Anhänger und auch wissenschaftliche Vajrayana-Forscherinnen und -Forscher konstatieren hingegen eine ausgeprägte männliche Dominanz: Durch die alchemistische Verwandlung von sexuellen Fluiden stärkt sich allein der Mann und die Frau wird zum bloßen Vehikel seines Erleuchtungsstrebens. Ein tantrisches Vereinigungsmahl wird man kaum als appetitlich bezeichnen können. So bietet die Weisheitsgefährtin dem Adepten folgende Substanzen an, die er zu schlucken hat: Kot, Urin, Speichel, Speisereiste aus ihren Zähnen, Lippenstift, Waschwasser, mit dem sie ihren Anus gereinigt hat, sowie Erbrochenes. Der Adept, so heißt es, werde wahrhaft glücklich, wenn er davon zehre. Wie in vielen archaischen Kulturen gelten Sperma und Menstruationsblut als magische Substanzen, wobei das Menstruationsblut einer Dakini und die Samenflüssigkeit eines Bodhisattva die höchsten Zubereitungen sind. Die männliche Orientierung dieser Richtung zeigt sich auch in der Praxis der Aufnahme weiblicher Sexualsekrete durch den Penis des darin geübten Adepten, der so seine größte Stärke durch die Absorption der Energien seiner Partnerin gewinnt.
Gebrauch von Psychedelika
In einem Leitfaden mit Dzogchen-Kernanweisungen aus dem 11. und 12. Jahrhundert ist von der Verabreichung eines Auszugs aus Nachtschattengewächsen mittels eines Geierfederkiels ins Auge die Rede – mit dem Ziel, die subtilen Energiekanäle zu öffnen und Visionen zu induzieren. Bewirkt wird das offensichtlich durch das im Stechapfel „Datura stramonium“ und anderen Pflanzen dieser Gattung enthaltene Alkaloid Scopolamin.
Mike Crowley, ein Anhänger der Karma Kargyü-Richtung des tibetischen Buddhismus, behauptet, der bis heute bei Initiationen gereichte göttliche Nektar „Amrita“ sei ursprünglich eine psychoaktive Zubereitung gewesen, die erst den Adepten in die Einweihungssphären jenseits der Sinneswelt geführt habe. Zeichnungen buddhistischer Gottheiten mit Schirmen in der Hand deutet er als geheime Pilzsymbole, den psilocybinhaltigen Kahlkopf „Psilocybe cubensis“ und den ebenfalls Visionen erzeugenden Fliegenpilz „Amanita muscaria“
repräsentierend. Zudem glaubt er, das Grün in der Chromatik der Göttin Tara auf Thangkas und Fresken sei ursprünglich durch die Einnahme DMT-haltiger Pflanzen inspiriert. Das Bilsenkraut „Hyoscyamus niger“, auch „Vajrabhang“ genannt, ist ebenfalls eine im Himalaya-Schamanismus weitverbreitete Pflanze, die dem Stechapfel ähnliche Nachtschattenalkaloide enthält.
Ian Baker, der sich ebenfalls mit dem Gebrauch solcher Stoffe im Vajrayana beschäftigt hat, sieht hier grundsätzlich sowohl Risiken als auch große Möglichkeiten: „Psychedelika sind geistoffenbarende Substanzen, die das Bewusstsein von einengenden Strukturen befreien und neue Perspektiven erzeugen. Aber die Freisetzung solch sprudelnder Tiefen ohne ausreichende Vorbereitung kann auch weitaus grauenvoller als erleuchtend sein. Der psychedelische Rausch kann durch die typische Auflösung der Grenzen zwischen dem erlebenden Ich und der äußeren Welt zu extremer Panik ebenso führen wie zu ekstatischen Einheitserlebnissen.“
Ist das vielleicht alles nur rein symbolisch gemeint?
Lama Govinda (1898–1985), der als einer der ersten Deutschen den Vajrayana-Buddhismus im Westen verbreitete, behauptete in seinem Standardwerk über die „Grundlagen tibetischer Mystik“, dass die allgegenwärtige Präsenz der Sexualität in den Vajrayana-Texten und tantrischen Bilderwelten rein symbolisch zu verstehen und nicht so abwegig sei wie der Gedanke an einen real vollzogenen Geschlechtsakt. Doch nicht allein die Sexskandale bekannter Vajrayana-Meister haben diese Behauptung Govindas inzwischen widerlegt, auch die wissenschaftliche Forschung trägt viel zur Entmystifizierung dieser Richtung bei. Der Vajrayana-Buddhismus hat seine Unschuld verloren. Statt allein um feinstoffliche Vorgänge geht es oft schlicht um Sex, Macht und Unterwerfung. Wo Vajrayana-Anhängerinnen und -Anhänger in der rot-weißen Symbolik männlich-weiblicher Energien eine Beschreibung der subtilsten Prozesse in den astralen Energiekörpern sehen, konstatieren nüchterne Betrachter nichts als eine archaische Symbolik von Sperma und Blut, die sich in den meisten der frühen Kulturen findet und ihren Ursprung in primitiven Glaubensvorstellungen hat. Die frühen Menschen sahen in Blutopfern den Ursprung der Zeugung, da vor der Geburt eines Kindes ja die Monatsblutungen ausblieben und so aus dem Blut dann die Entstehung neuen Lebens erklärt wurde. Manchmal ist die Farbsymbolik auch umgedreht, wie etwa in den Mythologien der Balkanvölker, in denen von einer männlichen (roten) Blut- und einer weiblichen (weißen) Milch-Abstammungslinie die Rede ist.
Über die tantrischen Texte gehen die Meinungen also weit auseinander. Während die einen eine offene und kritische Debatte im innerbuddhistischen Dialog fordern, pochen die anderen auf strikte Geheimhaltung und erklären, dass Außenstehende ohnehin nicht in der Lage wären, die Größe und Tiefe dieser religiösen Übung zu erfassen. Anhänger des Vajrayana und ihnen wohlgesinnte konfessionalisierte Tibetologen erklären solche Werke zu „literarischen Denkmälern“, denen allein mit Achtung und allergrößtem Respekt zu begegnen sei. Kritiker hingegen, wie Christine A. Chandler, die dreißig Jahre lang der Shambala-Gemeinschaft angehörte und die tantrische Praxis aus eigenem Erleben kennt, bis sie die Mechanismen der dort herrschenden Machtausübung durchschaute und sich entschieden abwandte, sehen in diesen Werken dagegen vor allem eins: Anleitungen zur Vorbereitung, Durchführung und Vertuschung sexuellen Missbrauchs.
Posttantrisches Erwachen
Der Vajrayana-Buddhismus ist die Synthese eines hochorganisierten Schamanismus mit dem Pantheon der Hindu-Religionen, aufgepfropft auf einen buddhistischen Stamm. Es war aber kein sehr dicker Stamm, ist doch der Pali-Kanon nur in Auszügen beziehungsweise Kurzfassungen bis nach Tibet gekommen. Die Probleme dieses „Fahrzeugs“ zeigen sich heute in Form von Gewalt und Missbrauch, von denen ehemalige Anhängerinnen und Anhänger beredtes Zeugnis ablegen, was jedoch vom buddhistischen Mainstream bis heute entweder ignoriert oder kleingeredet wird. Geistige Grundlage dieses Systems ist die Herrschaft einer Inkarnationselite, die Abtrünnige und Gelübdebrecher sogar mit weit über das gegenwärtige Leben hinausreichenden karmischen Folgen einzuschüchtern versucht.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 116: „Leben, lieben, lachen"
Gegen die religiöse Strenge des frühen Buddhismus steht im Vajrayana die moralische Relativierung sowie eine nur schwer nachvollziehbare Logik subtiler Transformation. Im Pali-Kanon ist ein Ekelobjekt ein Ekelobjekt und gilt als hochwirksames Antidot gegen das Verlangen, etwa wenn einem Mönch beim Aufkommen von Leidenschaft geraten wird, sich die negativen Eigenschaften des begehrten Objekts zu vergegenwärtigen. Wer nach Freude sucht, soll Friedhöfe aufsuchen und sich dort beim Anblick der verwesenden Leichname und beim Hören des Weinens und Wehklagens von Hinterbliebenen des Leidenscharakters seiner menschlichen Existenz bewusst werden. Im Vajrayana hingegen werden die unreinen Stoffe zelebriert und über transformative Rituale wird die Abscheu ihnen gegenüber relativiert. Auf diese Weise soll der Adept aus der Welt der Dualität gerissen werden. Doch gelingt das auch?
Kritische und wissenschaftliche Literatur zum Vajrayana-Buddhismus Ian Baker, Tibetan Yoga – Secrets from the Source. London 2016. |
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Und hier noch, dazu meine Sicht der Dinge zu den unheilsamen Dogmen und Aberglauben im Buddhismus.
Hallo liebe Dharma praktizierende,
befreit Euch ( wenn Ihr noch nicht befreit seid ) von den unheilsamen Dogmen und
Aberglauben , wie , Wiedergeburten, Göttern , Dämonen , Höllenhunden, Gespenstern , Orakeln, Jenseitswelten , Esoterik, Mystik, unsinnigen Ritualen , leeren Zeremonien , übernatürlichen Kräften , Frauenunterdrückungen usw.
Es ist nicht unbuddhistisch, Missstände, Dogmen und Aberglaubensüberlieferungen im Buddhismus zu kritisieren und in Frage zustellen.
26oo Jahre nach Buddhas ableben, sollten Buddhisten die überlieferten buddhistischen Weisheiten auf ihre Wirkung und Tauglichkeit hin, auf die gegenwärtige Lebensrealität überprüfen.
Schon der Buddha betonte, dass auch seine eigene Lehre (wie alle Dinge) dem Wandel
unterliegt und stets in der Darstellungsform der jeweiligen Zuhörerschaft und ihrem
spezifischen historisch-sozialen Kontext angepasst werden muss.
Mit freundlichen, aberglaubensfreien, heilsamen, buddhistischen Grüßen.
Uwse Meisenbacher