Von Zeit zu Zeit kann eine Standortbestimmung eine nützliche Sache sein. Für alle, die gerne über den eigenen Tellerrand schauen und gesellschaftliche Entwicklungen im Blick behalten wollen, hat der Harvard-Professor Michael J. Sandel gerade ein eindrückliches Buch vorgelegt.
„Vom Ende des Gemeinwohls“ lautet der Titel. Eine Diagnose über den Zustand der globalisierten Welt. Als politischer Philosoph geht Michael Sandel seine Abrechnung mit den herrschenden Verhältnissen überaus gründlich an. Zuerst beschreibt er den Status quo, der allen politisch Interessierten aus den täglichen Nachrichten bekannt ist. Dabei zeigt er auf, wie die Kluft zwischen Arm und Reich in den letzten Jahrzehnten in den USA immer größer geworden ist. Sandel legt dar, wie Erfolg ausschließlich über marktwirtschaftliche Leistung definiert ist und wie die freie Kraft des Kapitals dazu geführt hat, dass die Mehrheit den wenigen Superreichen ziemlich machtlos gegenübersteht. Die Mittelklasse ist verschwunden, diagnostiziert der Harvard-Professor. Er zeigt am US-Bildungssystem, wie der Gegensatz zwischen Arm und Reich bereits dort zementiert wird. Dies führt zu einer gefährlichen Polarisierung in der Gesellschaft, die in letzter Konsequenz sogar die Errungenschaften der Demokratie aufs Spiel setzt. Amerika ist ein eindrückliches Beispiel für diese Entwicklung, an der Demokraten und Republikaner gleichermaßen Verantwortung tragen. In einer globalisierten Welt ist, so Sandel, derzeit sogar der Weltfrieden in Gefahr.
Als politischer Philosoph sucht Michael Sandel die Wurzeln für diese Entwicklungen auch in der Geistesgeschichte. Klug, wissend und trotzdem leichtfüßig leitet er durch Moralvorstellungen vergangener Jahrhunderte und analysiert dabei ebenso die Bedeutung von Religionen. „In einer individualistischen Gesellschaft ist es schwer, Solidarität zu entwickeln“, so seine These. Eine Lösung sieht er in der Zurückgewinnung einer Chancengerechtigkeit zwischen den Menschen. Zudem müssten, so Sandel, dem konsumorientierten Verhalten neue Werte entgegengesetzt werden. Sandels deutlichste Kritik ist aber, dass sich westliche Demokratien ausschließlich an der Marktwirtschaft orientieren – im Grunde sieht er darin die Wurzel allen Übels.
Dem einen oder anderen europäischen Lesenden könnte das Buch auf den ersten Blick zu amerikaorientiert erscheinen. Doch tatsächlich lassen sich auch in Europa ähnliche Verhältnisse und Dynamiken ausmachen. Sandel fordert mehr Achtsamkeit solchen Entwicklungen gegenüber und liefert die Brille, mit der sich Ungerechtigkeit weltweit erkennen lässt. Was Menschen wieder lernen müssten, sei Demut, sagt er. Das ist derzeit tatsächlich eine ziemlich unzeitgemäße Eigenschaft.
Rezensentin: Karin Pollack
Michael J. Sandel
Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt.
S. Fischer Verlag 2020
442 Seiten
Print 25 €, E-Book 22,90 €
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