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Leben

„Der Weg ist das Ziel“ – so die sprichwörtliche Lebensweisheit, die dem chinesischen Gelehrten Kong Fuzi (551–479 v. Chr.) zugesprochen wird und dessen Sittlichkeits-Lehre die ostasiatische Geistesgeschichte bis heute maßgeblich prägte.

Der Sinn dieses Ausspruchs liegt darin, das kontinuierliche Bemühen, einem Ideal – gerade im Wissen um die Unerreichbarkeit – im eigenen Tun so nahe wie möglich zu kommen.

Nicht das Erreichen von irgendetwas (also eines Ziels) sei Lohn des Strebens, sondern die fleißige Arbeit und Auseinandersetzung des „edlen“ Bemühens als solcher (also der Weg). Nicht das Können von etwas, sondern das Bemühen darum wird – anders als im Westen – in traditionell asiatischer Kultur höher geschätzt und „verehrt“. Etwas zu können, ist demnach weniger „wert“ als der ewige Versuch, es zu erreichen.

Diese Auffassung erhebt den Prozess wertschätzend weit über die erfolgreiche Leistung, das Lernen und stete Üben über das Erreichen des „End-Ziels“. Die Bemühung wird damit – nicht wie bei uns üblich nach zähl- und messbaren Kriterien – qualitativ, also nach der Qualität, wie sich das Bemühen (positiv) auf den Bemühenden als Menschen auswirkt, bewertet. Das Üben als solches wird zum Wichtigen, ja Wichtigeren erklärt, zum bedeutsamen Meilenstein des eben niemals endenden Weg-Beschreitens. Der Weg ist ein Kreis (Dokan) – es geht um die Reise, nicht ums Ankommen.

Der Weg ist das Ziel – wir im Westen kennen die Idee, dass die Reise, also der Weg, wichtiger ist als das Ankommen und irgendwo am Ziel schließlich dann zu sein, vielleicht aus Wander- oder Motorradtouren, dem Joggen oder Segeln, d. h. Aktivitäten, die den Prozess des Auf-dem-Weg-Seins im Vordergrund sehen. Darin entfaltet sich ein besonderes „Genuss“-Erlebnis im Tun, ohne einen weiteren Zweck-Sinn, als sich selbst gerade im Nichterreichen eines Ziels zu genügen (das ja die Tour auch beenden würde).

In Japan haben sich viele „Weg“-Lehren, -Schulen und -Künste entwickelt, in denen die Philosophie und Praxis der reinen Weg-Übung zum Zentrum allen Tuns geworden ist. Diese kulturell etablierten „Weg“-Künste, die im Namen stets die Endsilbe „Do“ (jap.: „Weg“) führen, wie die zeremoniellen „Schönen Künste“ (z. B. Cha-do, die Teezeremonie, Sho-do, die Kalligrafie, Ka-do, die Blumensteckkunst) oder aber auch die originär daoistischen oder buddhistischen Kampfkünste (z. B. Aiki-do, der Weg der Energieharmonie, Iai-do, der Weg der Schwertform, Kyu-do, der Weg des Bogenschießens, Karate-do, der Weg der leeren Hand), stehen dafür, dass allein – oder nur – im rechten Streben nach (der nie zu erreichenden) Meisterschaft schon höchst ästhetische Schätze und meisterliche Kunstwerke entstehen.

Doch diese sind auf dem Weg nur automatisch anfallendes Nebenprodukt, das sich im aufrichtigen Bemühen der Wegschüler einstellt und von jener meditativen Geisteshaltung „lebt“, stets voll und ganz „sein Bestes“ zu geben, ja selbst in der Übung aufzugehen, eins zu werden mit der eigenen Handlung.

Dieses sich um Perfektion bemühende Streben ist ein anderes als jenes, das – egal wie – Höchstleistungen erbringen will, da das in den Weg-Künsten angestrebte Ideal unerreichbar, von vornherein eine künstlich erschaffene Utopie darstellt und kein reales, realistisches, realisierbares Ziel – nur eine Idee. Es ist geradezu sinngebend, dass ein Ziel, z. B. endgültige Meisterschaft, gar nicht zu erreichen ist.

Ja, es gibt Etappenziele, die für den Fortschritt, das Vorankommen beim Beschreiten des Wegs (worum es natürlich auch geht) stehen, einzelne Weg-Stufen (wie die sog. Dan-Grade in den Kampfkünsten), die zwar auch (Teil-)„Erfolg“ markieren, aber an sich genommen wieder nur eine nächste Anfängerstufe auf höherem Niveau darstellen. Die „wahre“ Meisterschaft, das endgültig erreichte Unverbesserliche, gibt es nicht.

Wer etwas kann, gelernt hat, wird auf dem Weg immer mit neuerlichen Herausforderungen konfrontiert, die es zu bewältigen gilt. Es geht im „Do“ um die Kultivierung des permanenten, demütigen, d. h. „stolzfreien“, Anfängergeists (jap.: Sho-Shin). Man bleibt auch als „Großmeister“ seiner Kunst stets „ewiger Schüler“; erfahren, wissend, sicher auch mit viel Können – und doch Lernender auf dem Weg.

Vom Geist des Übens

Schließlich ist in den „Do“-Künsten das Üben einer bestimmten festgelegten Form, deren Sinn und Zweck bzw. Ziel gerade nicht das Erlernen und Beherrschen irgendeiner Fertigkeit, ein messbar und objektiv Vergleichbares ist, sondern das Erforschen und Erweitern des im Menschen liegenden Potenzials. Das Wachstum, die Selbstentwicklung steht im Zentrum allen Übens, individuell, persönlich, ganz subjektiv: nicht „besser“ als irgendwer, sondern allenfalls das Bestreben, dafür „der Beste, der ich heute sein kann“ zu geben. Die Form ist dabei lediglich das bewährte Mittel zum Zweck, an seinem „Ich“ zu arbeiten, und der jeweilige Weg liefert mit seinen speziellen, meist kontemplativen Handlungen das konkrete Werkzeug.

In den Do-Künsten übt man in der Form: sich selbst! Das Üben der reinen Übung willen, also die Übung als reiner Selbstzweck, nutzt die bewusst ausgeführten Handlungen (Arbeit an der Form) als Meditationsobjekt, zur „Ich“-Beobachtung und „Geistschulung“. Immer geht es, wie beim Zen ja generell, um ein gegenwärtiges Seins-Erleben, das vollbewusste Hier-und-Jetzt-Gewahrsein.

So gesehen hat dieses „Sich-Üben“ im Üben einer Form einen sehr „geistvollen“, ja einen spirituellen Anspruch und Charakter. Die Handhabung des Schwerts im Iai-do z. B. dient nun nicht mehr dem Erlernen des meisterhaften Umgangs mit dem Mordinstrument, dem „kunstfertigen“ Töten eines Gegners – das Schwert wird im „Do“ zum Instrument zur Erziehung des Selbst. Denn der einzige Gegner, den es zu besiegen gilt, ist das wertende „Ich“, der rastlos unvollkommene Geist, Angst und Wut, Scham und Stolz.

Der Geist des Übens in den Do-Künsten kultiviert in seinen nach innen statt nach außen gerichteten Inhalten und Werten eine andere, dem Westen fremde Idee: nicht die Frage nach dem Lohn oder Ergebnis der in Mühe erbrachten Leistung, sondern die Frage nach dem Eigenwert der Mühe steht im Vordergrund. Das aus Bemühen entstandene Ergebnis ist quasi Nebensache, ja die Ausrichtung daran sogar dem Sinn widersprechend und schädlich. Der „Anfängergeist des Meisters“, Demut und Bescheidenheit ist dem Westen fremd, dort, wo Leistung (Können) zählt, stolz macht, berühmt und mächtig.

Der besondere „Zen“-Geist des Übens in der traditionellen asiatischen Kultur widerspricht so manch modern-westlicher Wertvorstellung der Profitorientierung, des Optimierungs-strebens, des Konkurrenz- und Wettbewerbsdenkens, dem Höher-schneller-weiter-Zeitgeist. Daher tun sich die Menschen im Westen so schwer, die asiatischen Lehren für sich im Original anzunehmen, ohne sie verwässernd zu verändern, z. B. die Kampfkünste durch Versportung vollkommen zu verfälschen oder Yoga zu bloßer Bauch-Beine-Po-Gymnastik verflacht zu vermarkten. „Zen für Manager“ ist ebenso ein seltsamer Versuch, statt Spiritualität Ökonomie zu verfolgen.

Den rechten Geist des Übens zu entwickeln, braucht eine klare Entscheidung für das originäre Wesen, die Kunst der Do-Lehre verstehen zu wollen und den Weg aktiv zu beschreiten – rein des Gehens willen. Do in den traditionellen Kampfkünsten, im Budo, dem originär vom Taoismus und Zen-Buddhismus geprägten „Weg des Friedvollen Kriegers“, ist alles Üben allein dem spirituellen Erkennen seiner selbst gewidmet, dem Körper-Seele-Geist-Prozess der ganzheitlichen Selbsterforschung und -entwicklung. Alles Tun im Hier und Jetzt dient allein der meditativen Wahrnehmung des eigenen Seins in Bewegung, Begegnung und Besinnung. Kein Wettkampf- bzw. Sieg-und-Niederlage-Denken, keine technische Höchstleistung und „Bessersein als die Konkurrenz“, keine äußere Meisterschaft – nur die Selbstvervollkommnung im Augenblick mit der Idee, sich ganz und gar im aktuellen Moment zu erleben.

Das ist innere Meisterschaft durch fortwährende, nie endende Arbeit am Selbst; Übung des Übens willen, nicht zur Erreichung eines bestimmten ferneren Ziels, sondern nur des bewussten (Er-)Lebens im gegenwärtigen Prozess des achtsamen Tuns willen. Dies erfordert – und übt – einen ewigen Anfängergeist (jap.: Shoshin), denn was gekonnt ist, wird aus dem Fokus der Praxis herausgenommen und durch Herausforderung immer wieder neuer Übungen ersetzt. Können ist Nebensache, ein „Nebenprodukt“, das aus fortwährender Übung bewusster und kontrollierter Wiederholungen erwächst – wird es erreicht, kommt wieder etwas Neues, was man (wie ein Anfänger) neu erlernen muss.

Shoshin ist uns im Westen fremd, geht es bei uns mehr um Leistung als ums Lernen. Lernen an sich ist als Prozess, der die Persönlichkeit schult, in fernöstlichen Weisheitslehren aber der zentrale Gegenstand des „Fortschreitens auf dem Weg“, nicht ein Ziel wie Meisterschaft. „Kung Fu“, übersetzt „harte Arbeit“, ist (chinesischer) Ausdruck der Anerkennung, ja Bewunderung von Bemühen – nicht von Können.

Das macht den Weg zum Kreis und zum Ziel als solches: immer wieder neu, von Anfang an. Do ist Prozess des Studierens, der Erforschung, Analyse, weil wir durchs Gehen lernen, nicht durchs Ankommen …

Dr. phil. Jörg-Michael Wolters ist Erziehungswissenschaftler, Promotion im Fachbereich Soziale Therapie (1992), Sport-, Bewegungs- und Körper- Therapeut, viele Jahre Lehrbeauftragter der Sektion Sozialpädagogik & Jugendpsychiatrie der Universität Lüneburg sowie Pädagogisch-therapeutischer Leiter der Niedersächsischen Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Lüneburg. Freiberufliche Lehrtätigkeit als Bildungsreferent und Coach seit 2000, Leiter des Internationalen Instituts für Budopädagogik und Spiritus Rektor des neuen Fachgebietes. Budo-Lehrmeister (7. Dan Kempo und Karatedo) mit japanischem Hanshi-Titel. www.budopaedagogik.de / www.shoto-kempo-kai.de

Lit.
Tigges, A.: Yoga – der Weg ist das Ziel; BoD 2021.
Bayer, L./Heigermoser, C.: Der Weg ist das Ziel – Die Bedeutung der Budopädagogik für die Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen; o. O. 2013.
Bollnow, O. F.: Vom Geist des Übens – eine Rückbesinnung auf elementare didaktische Erfahrungen; Herder 1978.
Wolters, J. M./Dorn, C.: Budo. Wesen und Wirken der Kampfkunst; BoD 2020.

Dr. phil. Jörg-M. Wolters
Institut für Budopädagogik (IfBP)
Stade, Mai 2023

Bilder © Unsplash

Dr. Jörg-M. Wolters

Dr. Jörg-M. Wolters

Erziehungswissenschaftler, Promotion im Fachbereich Soziale Therapie (1992), Sport-, Bewegungs- und Körper- Therapeut, viele Jahre Lehrbeauftragter der Sektion Sozialpädagogik & Jugendpsychiatrie der Universität Lüneburg sowie Pädagogisch-therapeutischer Leiter der Niedersächsischen Fachkl...
Kommentare  
# Helge Grosch 2023-05-19 15:47
Spannend und treffend zusammengefasst!
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# Wolters 2023-05-23 12:05
zitiere Helge Grosch:
Spannend und treffend zusammengefasst!


Vielen Dank! Schön, wenn mehr Leute das so denken...
Grüße, Jörg Wolters (IfBP)
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# Sandra 2023-05-23 20:56
Vielen Dank für diesen spannenden Artikel. Gerne mehr davon.
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# Wolters 2023-05-24 10:10
Dankeschööön!
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# Ralf Gelowicz 2023-05-28 14:56
Das Warten auf den Artikel "Vom Geist des Übens" hat sich wieder einmal gelohnt.
Der Blick auf den "Ewigen Anfängergeist" hat mich sehr zum Nachdenken angeregt! Danke dafür!
Warte geduldig auf den nächsten Artikel...
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# Wolters 2023-06-02 10:31
zitiere Ralf Gelowicz:
Das Warten auf den Artikel "Vom Geist des Übens" hat sich wieder einmal gelohnt.
Der Blick auf den "Ewigen Anfängergeist" hat mich sehr zum Nachdenken angeregt! Danke dafür!
Warte geduldig auf den nächsten Artikel...


besten Dank für das tolle Feedback.
Immer wieder gerne.
Gruß
Wolters (Institut für Budopädagogik)
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# Radu Robutu 2023-06-02 18:46
Vielen Dank für eine interessante und wertvolle Perspektive!
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