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Leben

Hendrik Hortz, Herausgeber der Ursache\Wirkung, spricht mit der Publizistin Katharina Ceming über ihr neues Buch mit dem Titel „Sinn erfüllt“ und die Frage, wie ein Leben gelingen kann.

Ich unterhalte mich heute mit Katharina Ceming. Sie promovierte in Philosophie und Theologie und habilitierte sich in Theologie. Seit 2011 arbeitet sie als freiberufliche Dozentin und Autorin. Auf ihrer Website „Die Quelle des guten Lebens“ bietet sie spannende Einblicke in die Welt der Philosophie. Dabei nimmt sie vor allem die antiken Weisheitstraditionen des Westens und des Ostens in den Blick.

Hortz: Frau Ceming, als ich Ihr druckfrisches Buch „Sinn erfüllt“ in den Händen hielt, dachte ich zunächst, Sie schreiben über den Sinn unseres Daseins im metaphysischen Sinne. Stattdessen stellen Sie sich hier einer ganz anderen Frage, die nach einem sinnerfüllten, gelingenden Leben. Was finden Sie daran spannender als an der metaphysischen Dimension unseres Seins?   

Ceming: Ich glaube ganz einfach, dass die Frage nach dem erfüllten Leben die ist, die Menschen tatsächlich umtreibt. Während die Frage nach dem metaphysischen Sinn doch eher philosophisch-spekulativer Natur ist. Die großen Sinnstudien zeigen zwar, dass das Erleben von Transzendenz eine Quelle für Sinnerfüllung ist, aber wenn die transzendente Dimension im Leben nicht vorhanden ist, wird das Leben nicht automatisch als bedeutungslos erfahren. Man kann verneinen, dass es einen metaphysischen Sinn gibt, und trotzdem ein recht gutes Leben führen. Metaphysische Fragen lassen sich abschließend ohnehin nicht klären.

Sie schöpfen in Ihrem Buch vor allem aus der psychologischen Sinnforschung, schauen dann in die philosophische Klassik. Sie zitieren unter anderem Seneca, Cicero, Mark Aurel, Epikur, Sokrates und Aristoteles. Auch Hannah Arendt und Camus kommen zu Wort. Was ich vermisst habe – bis auf einen Hinweis auf den Jakobus-Brief aus dem christlichen Neuen Testament – war der Rückgriff auf religiöse Weisheitstraditionen. Halten Sie diese gegenüber moderner psychologischer Sinnforschung und antiker abendländischer Philosophie für unterlegen?

Das würde ich nicht sagen. Es geht mir um die Frage eines gelingenden Lebens im 21. Jahrhundert in unserem Kulturkreis. In Gesellschaften, in denen religiöse Prämissen noch stark sind, würde der religiöse Aspekt bei dieser Frage sicher eine größere Rolle spielen. Es gibt dennoch viele Berührungspunkte. Man findet im Buddhistischen oder im Christentum, auch im Islam, im Hinduismus und im Judentum einen reichen Weisheitsschatz, in dem es auch um das gelingende Leben geht.

Eine Ihrer Thesen ist, ein gelingendes Leben sei etwas völlig anderes als ein glückliches Leben. Und damit zusammenhängend: Die Frage nach dem Sinn sei zielführender als die nach Lebensglück. Möchten Sie das erläutern?

Ich muss ja zugeben, ich habe auch schon ein Buch geschrieben mit dem Titel „Denken macht glücklich“. Besonders die positive Psychologie hat sich in den letzten Jahren mit den Faktoren beschäftigt, die ein glückliches Leben ausmachen. Wenn wir den Fokus nur auf die glücklichen Momente richten, engt das jedoch ein. Wir jagen als Gesellschaft positiven Erlebnissen hinterher. Die Forschung zeigt aber, je mehr wir nach ihnen streben desto weniger werden wir glücklich. Das ist so ein bisschen wie diese Karotte, hinter der der arme Esel herrennt. Die Fokussierung auf Glück ist eindimensional. Zum Leben gehören einfach auch die weniger erfreulichen Dinge dazu. Ein gelingendes Leben muss mit Herausforderungen umzugehen wissen: Trennung, Schmerz, Krankheit – all dies muss ins Leben integriert werden können. Dazu ist der Zugang von einer Sinndimension aus hilfreicher. Er nimmt den Fokus davon weg, dass sich im Leben immer alles gut anfühlen müsse. Dann sind wir auch wieder bei einer spirituellen Dimension. In den großen Religionen weiß man, dass zum Leben das Leiden dazugehört. Die zentrale Frage ist doch, wie kann es gelingen, auch mit den weniger erfreulichen Situationen umzugehen, ohne daran zu zerbrechen. Für eine Antwort darauf ist die Sinnperspektive einfach zielführender.

Also, ganz pragmatisch formuliert, man kann sich auch schlecht fühlen und trotzdem das Leben als sinnvoll empfinden.

Genau. Natürlich nicht, wenn man sich sein ganzes Leben lang schlecht fühlt. Aber es gehört zum Leben dazu, dass man sich nicht immer gut fühlt, dass es schmerzhaft sein kann oder dass man ein Scheitern erlebt. Dennoch muss die Bilanz dann nicht sein, dass mein Leben gescheitert ist.

Frage

Eine weitere These von Ihnen lautet, dass Resilienz und ein Perspektivwechsel, die sonst für ein gelingendes Leben sorgen, dort nicht helfen, wo die Probleme durch äußere Umstände hervorgerufen sind. Etwa durch die ökonomische Situation. Ein gelingendes Leben hat nicht nur eine individuelle Dimension, sondern auch immer eine gesellschaftspolitische.

Wir leben in einer Gesellschaft, die sehr stark individualistisch ist. Einerseits ist dies sehr positiv. Wenn aber strukturelle Probleme auf das Individuum abgewälzt werden, geht es in die falsche Richtung, meine ich. Es ist die Aufgabe eines funktionierenden, modernen Sozialstaats, gewisse Sicherungsfunktionen zu übernehmen. Man kann nicht dem Einzelnen das auferlegen, was eigentlich Aufgabe einer Gemeinschaft oder einer Gesellschaft ist. Prinzipiell sind wir soziale Wesen und als solche auch immer Teil von Gemeinschaften – egal, wie groß die sind oder wie diese strukturiert sind. Diese Dimension kann man nicht einfach abschneiden und so tun, als wäre man in einem luftleeren Raum.

Manche alten Weisheitstraditionen sehen das aber vollkommen anders.

Im klassischen Buddhismus oder in der antiken Stoa ist man überzeugt, dass man mit der richtigen inneren Haltung, und zwar der Leidenschaftslosigkeit in der Stoa und der Befreiung von Anhaftung in der buddhistischen Tradition, auch die schlimmsten von außen kommenden Herausforderungen bewältigen kann. Das kann man sicher trainieren. Aber der Preis wird irgendwann relativ hoch. Man kommt an den Punkt, an dem man sich von allen Einflüssen des Lebens distanzieren muss, bis hin, dass man von gar nichts mehr innerlich berührt wird. Lebenspraktisch ist es schon fraglich, ob das ein großer Gewinn ist – auch für das Miteinander, wenn sich jemand emotional komplett rausnimmt.

Die psychologische Sinnforschung identifiziert sogenannte Bedeutungsfelder. Unter anderem das „Sich-für-andere-Engagieren“. Dabei müsse es nicht immer um die großen Themen gehen, schreiben Sie: den Klimawandel aufhalten oder soziale Ungerechtigkeit bekämpfen. Schon ein Engagement im Kleinen trägt zu einem gelingenden Leben bei.

Unser eigenes Handeln erzeugt ja immer eine Resonanz. Wenn man als freundlicher Zeitgenosse durchs Leben geht und anderen mit einer gewissen Freundlichkeit im Alltag begegnet, manifestiert sich das im Leben der anderen und auch in dem eigenen. Das kann bereits ein „Sich-für-andere-Engagieren“ sein. Dann gibt es aber natürlich die großen Themen, wo das Engagement nicht unmittelbar meinem eigenen Ego dient. Das ist ebenfalls etwas, wo ich Sinnerfüllung erfahren kann. Die Palette ist sehr groß. Vom kleinen Nachbarschaftsdienst bis hin zu einem intensiven Engagement für die Themen, die uns politisch, global, gesamtgesellschaftlich angehen.

Dann ist nicht das Resultat das Entscheidende, sondern der Einsatz?

Vollkommen richtig. Das ist auch das, was Camus in Die Pest thematisiert. Das Wissen, dass der Feind, gegen den hier gekämpft wird, diese Krankheit, nicht besiegt werden kann. Die Hauptfigur, Dr. Bernard Rieux, kämpft trotzdem weiter. Diese Haltung ist auch deshalb von Bedeutung, weil sie Überforderung vorbeugen kann. Das ist gerade für Menschen wichtig, die sich für die großen Themen engagieren. Da geht es um zähe Prozesse, über die man verzweifeln kann. Die Weisheit, „vielleicht wird mein Engagement die Sache rocken, vielleicht aber auch nicht, ich mache dennoch weiter“, schützt vor einem Burn-out.

Ein weiterer Baustein zu einem gelingenden Leben sei Selbsterkenntnis, schreiben Sie: „Wer sich selbst kennt, kann sein Leben bewusster steuern und eigene Akzente setzen.“

Für ein gelingendes Leben ist es ganz wesentlich, etwas über sich selbst zu erfahren. Wir wähnen uns generell autonomer, als wir wirklich sind. Es gibt einfach viele Muster, die in uns aktiv sind, durch Sozialisation, Persönlichkeit, familiäre Prägungen und so weiter. Wir sind oft im Leben in Filmen unterwegs, von denen wir glauben, es sind unsere eigenen. Aber die Skripte haben ganz andere geschrieben. Das führt dann dazu, dass wir uns ein Leben lang an Baustellen abarbeiten, die nicht die eigenen sind. Wenn wir nie unsere eigenen Potenziale heben, dann fehlt etwas. Es ist ein wichtiger Schritt, sich klar zu werden, was die eigenen Bedürfnisse, Talente und Fähigkeiten sind, aber auch die eigenen Schwächen zu kennen. Schon bei Sokrates ist dies eine zentrale Komponente. Philosophieren bedeute, sich selbst zu erkennen. Hannah Arendt betont, dass der Mensch im Selbstgespräch sein müsse, um sich über sich selbst Rechenschaft ablegen zu können.

Ein weiterer Aspekt ist Dankbarkeit. Dankbarkeit über die Dinge im Leben, die man sich nicht ausgesucht hat, die aber positiv wirken.

Wir halten vieles für selbstverständlich, denken, wie grandios wir sind und was wir uns alles erarbeitet haben. Aber so vieles in unserem Leben ist Zufällen geschuldet. Mit einer dankbaren Grundhaltung lernt man Dinge als Geschenk wahrzunehmen. Das erst versetzt mich auch in die Lage, mit anderen Menschen wertschätzender oder weniger herablassend umzugehen, denen diese Geschenke nicht zuteilwurden. Dankbarkeit ist sicher eine der Kardinaltugenden für ein zufriedenes Leben. Da sind wir auch schon wieder bei den großen Religionen. Dankbarkeit spielt in allen spirituellen Traditionen eine Rolle. Sie ist eine Herzenstugend.

Viele Weisheitstraditionen pflegen ein asketisches Ideal. Der Welt müsse entsagt werden. Das sehen Sie anders, nicht wahr?  

Das ist heute nicht anders als früher: Der Gesellschaft und der Welt wirft man vor, sie sei zu oberflächlich. Ich plädiere aber für eine Freundschaft mit der Welt! Für eine gesunde Form der Ablenkung. Bertrand Russell, einer der Väter der analytischen Philosophie, sagte, je mehr es uns gelinge, die Freuden der Welt in den guten Zeiten zu kultivieren, desto größer ist der Schatz, auf den wir in schlechten Zeiten zugreifend können. Diesen Gedanken finde ich sehr bezaubernd. Das ist wieder einer Frage der Haltung: sich einlassen können, sich für Dinge interessieren, sich begeistern. Das hat nichts mit Oberflächlichkeit zu tun. Das ist ein gesundes Interesse am anderen und an der Welt um uns herum. Wir sind als körperliche Wesen Teil dieser Welt. Moderne Spiritualität setzt ja ebenfalls Kontrapunkte zu den klassischen Überzeugungen, dieses Leben sei nur ein Trauerspiel, das man schnell hinter sich lassen müsse, um Nirwana, ewige Glückseligkeit oder den Himmel zu erreichen. Man muss sagen, nein: Ich bin hier und dieses Leben ist auch Teil meiner Aufgabe. Eine gute Form von Ablenkung, Entspannung und Inspiration zu finden, gehört da wesentlich dazu.

Vielen Dank für das inspirierende Gespräch!


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 120: „Lebendiger Buddhismus"

UW120


Foto Teaser © Sabine Jakobs

Bild Header © Pixabay

Hendrik Hortz

Hendrik Hortz

Frank Hendrik Hortz, Jahrgang ‘65, im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen, Religionswissenschaftler (studierter ev. Theologe und Philosoph), Journalist und Unternehmer. Erste Meditationserfahrungen vor fast 40 Jahren, Buddhist seit mehr als 10 Jahren. Herausgeber und Chefredakteur der Ursache\Wirk...
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