Buddhismus wird im Westen oft in Ost und West oder Moderne und Tradition unterteilt. Dies wird dem global gelebten Buddhismus nicht gerecht. Es ist Zeit für eine neue Betrachtungsweise.
„Wir sind schon die ganze Zeit hier“ ist der Titel eines Artikels, der im Jahr 2016 in der kanadischen buddhistischen Zeitschrift Lion’s Roar erschien. Die Autorin ist Funie Hsu, Professorin im Fachbereich American Studies an der San José State University in Nordkalifornien. Hsu zeigt, wie buddhistisch Praktizierende asiatischer Abstammung aus der historischen Erzählung des Buddhismus im Westen kontinuierlich ausgeschlossen werden. Im Zentrum dieser Erzählung steht das Bild eines von Weißen praktizierten Buddhismus, als modern, rational, säkular und frei von kulturellen Überlagerungen. Meditation, dargestellt als im Einklang mit der Wissenschaft, ist die zentrale Praxisform für diesen Buddhismus. Doch dieses Bild hat ein Spiegelbild. Dem Bild des aufgeklärten, von Weißen praktizierten Buddhismus steht ein anderes entgegen. Auch dieses beschreibt einen gelebten Buddhismus. Der jedoch ist geprägt von Aberglaube, Ritualismus, Rezitationen und befleckt von den kulturellen Traditionen Asiens. Seine Anhänger sind asiatischstämmige Menschen sowohl im Westen als auch in Asien selbst.
Die Erzählung geht zurück auf die Kolonialzeit. In ihr konstruierten europäische Orientalisten, basierend auf einer selektiven Lesart früher Texte und unter Ausschluss der gelebten buddhistischen Traditionen Asiens, einen vermeintlich ursprünglichen Buddhismus. Beeinflusst von protestantischen Grundannahmen wurde postuliert, dass es einen reinen Buddhismus gäbe und dieser ausschließlich in Texten zu finden sei. Auf diese Weise wurden über Jahrtausende in großer Vielfalt gelebte dynamische Traditionen negiert und durch die eigene Interpretation eines kleinen Fragments des riesigen historisch gewachsenen buddhistischen Textkörpers ersetzt. Bis heute dominiert diese Erzählung das Buddhismusbild der europäischsprachigen Gesellschaften weltweit. Binär gedachte Kategorien wie Ost und West oder Tradition und Moderne formen diese Lesart. Sie unterbindet eine differenziertere, fast möchte man sagen achtsamere, Wahrnehmung.
Der global gelebte Buddhismus ist, und er war es natürlich schon immer, multipel.
Dies gilt sowohl für die enorme Vielfalt der zeitgenössischen buddhistischen Traditionen Asiens als auch für den Einfluss der europäisch geprägten Kultur auf die eigene Dharma-Praxis. Europäischstämmige Praktizierende leben zum Beispiel oft einen Buddhismus, dessen Form mindestens von so viel Individualismus, Romantik, Exotismus und der Abgrenzung von der eigenen christlichen Tradition beeinflusst ist wie von den textbasierten Studien der orientalistischen Forschung des 19. Jahrhunderts.
Der global gelebte Buddhismus ist, und er war es natürlich schon immer, multipel. Eher Buddhismen als Buddhismus. Es gibt nicht den einen asiatischen oder europäischen Buddhismus, sondern viele. Buddhistisch Praktizierende in Städten wie Bangkok oder Tokio zum Beispiel üben sich nicht einfach im thailändischen oder japanischen Buddhismus. Stattdessen gibt es eine Vielzahl von Strömungen – modernistische und progressive, aber auch konservative und sogar fundamentalistische – in den jeweiligen nationalen Mainstreamtraditionen. Und auch innerhalb dieser Strömungen gibt es noch weitere Differenzierungen. Es gibt intellektuell ausgerichtete buddhistisch Praktizierende, die sich hauptsächlich für doktrinäre Studien interessieren und oft auch die kanonischen Sprachen beherrschen. Andere hingegen sind mehr an einer populär ausgerichteten Praxis interessiert. Hinzu kommt, dass auch die Auswahl an Schulen und Traditionen in asiatischen Großstädten mittlerweile oft größer ist als in vielen Städten des Westens.
Die Idee, dass buddhistisch Praktizierende im Westen hauptsächlich weiß sind, ist längst widerlegt.
Es gibt Buddhismuspraktizierende in China, die Vipassana praktizieren, oder auch Taiwaner, die tibetische Zentren besuchen, und junge Thais, die sich für Zen interessieren. Auch Trends, die aus der Beschäftigung mit dem Buddhismus in den USA entstanden sind, wie zum Beispiel die Psychologisierung des Buddhismus durch die Achtsamkeitsbewegung, sind mittlerweile in Asien angekommen. Sie werden dort auf unterschiedlichste Weisen mit den eigenen Traditionen neu kombiniert. Diese Vielfalt potenziert sich noch weiter durch die stetig wachsende innerasiatische Migration, aber auch durch den Pilger-, Tempel- und Meditationstourismus der neuen asiatischen, global ausgerichteten Mittelschicht. Gleichzeitig ist der Buddhismus im Westen natürlich auch alles andere als einheitlich und erst recht nicht immer rational und säkular. Für viele europäischstämmige Zen-Praktizierende zum Beispiel sind japanische Rituale, Kleidung und Etikette wichtige Komponenten ihrer Praxis. Kalachakra-Einweihungen des Dalai Lama ziehen Zehntausende Menschen im Westen an, und Soka-Gakkai-Praktizierende in den USA bevorzugen Rezitationen über Meditation.
Auch die Idee, dass buddhistisch Praktizierende im Westen hauptsächlich weiß sind, ist längst widerlegt. Es waren chinesische Lohnarbeiter, die als Erste im 19. Jahrhundert einen gelebten Buddhismus in die USA brachten. Und auch heute ist die Mehrheit der buddhistisch Praktizierenen in vielen westlichen Ländern asiatischstämmig. Allerdings sind diese häufig in der Öffentlichkeit der jeweiligen Mehrheitsgesellschaften kaum sichtbar. Vietnamesische buddistische Praktizierende etwa machen einen wichtigen Teil des deutschen Buddhismus aus. Aber man liest kaum etwas über sie in den Medien. Dass manche asiatischstämmige Praktizierende ihren Buddhismus transnational leben, also durch ihre Praxis sowohl mit ihrer neuen Heimat als auch mit ihren Herkunftsländern verbunden sind, macht sie nicht weniger westlich als europäischstämmige Westler, die in ihr lokales Dharma-Zentrum gehen und einmal im Jahr ein Retreat in Thailand oder Nepal besuchen. Westliche Anhänger des sozial engagierten globalen Tempelnetzwerks Fo Guang Shan zum Beispiel praktizieren einen Buddhismus, dessen Form sich aus den spezifischen Modernisierungsbewegungen des chinesischen Mahayana in Ostasien entwickelt hat. Aber sie tun dies im Kontext ihrer neuen Lebensmittelpunkte. Die Mehrheit der Teilnehmer an Fo-Guang-Shan-Tempelaktivitäten in den Ländern des Westens sind, was deren Ethnie betrifft, oft chinesischer Abstammung. Viele sind bereits seit vielen Jahrzehnten Staatsbürger der jeweiligen neuen Heimatländer. Durch die globale Verbreitung des Ordens haben sich neue lokale Dynamiken entwickelt, die die Zusammensetzung der Besucher der außerhalb von Taiwan gegründeten Tempel beeinflussen. Fo-Guang-Shan-Buddhisten im Westen stammen nicht mehr nur aus Taiwan. Stattdessen trifft man mehr und mehr Praktizierende vietnamesischer, malaysischer, chinesischer, aber auch nichtasiatischer Abstammung in Tempeln in Berlin oder Los Angeles an. Darüber hinaus involvieren Fo Guang Shans unzählige kulturelle, soziale und Bildungsprojekte Menschen mit allen möglichen Hintergründen. Der Orden unterhält weltweit zum Beispiel fünf Universitäten, zwei in Taiwan und jeweils eine in Australien, den Philippinen und den USA. Die Studierenden an den Buddhismusstudien- und religionswissenschaftlichen Instituten dieser Universitäten sind mit allen buddhistischen Traditionen assoziiert und kommen aus allen Teilen der Welt.
Es gibt eine Vielzahl von Strömungen, modernistische und progressive, aber auch konservative und sogar fundamentalistische in den jeweiligen nationalen Mainstreamtraditionen.
Die buddhistische Praxis der zweiten und späteren Generationen asiatischstämmiger Personen im Westen ist oft noch diverser. Die US-amerikanische Autorin Chenxing Han hat für ihr im letzten Jahr auf Englisch erschienenes Buch „Be the Refuge“ über Jahre junge asiatischstämmige buddhistisch Praktizierende in den USA interviewt und ihre Geschichten aufgeschrieben. Han unterteilt ihre Interviewpartner in Kategorien wie Wegbereiter, Brückenbilder, Integrierende und Zufluchtbereiter und zeigt dadurch detailreich die vielschichtigen und komplexen Weisen, in denen junge asiatischstämmige Amerikaner und Amerikanerinnen aus den verschiedensten buddhistischen und kulturellen Traditionen schöpfen. Sie tun das mit ausgesprochener Sensibilität und Achtsamkeit. Es ist genau diese Sensibilität und Achtsamkeit, mit der sich junge asiatischstämmige buddhistisch Praktizierende mit der Komplexität des gelebten Buddhismus beschäftigen, von der Europäischstämmige viel lernen können.
Durch gegenseitigen Respekt, Neugier und die Bereitschaft, voneinander zu lernen, können wir die alte koloniale Dichotomie überwinden.
Bei vielen von ihnen hat Funie Hsus Artikel 2016 noch das Gegenteil ausgelöst. Hsus einfache Botschaft, dass auch asiatischstämmige Menschen Teil des Buddhismus im Westen sind, führte dazu, dass Lion’s Roar unzählige wütende und sogar hasserfüllte E-Mails erhalten hatte. Erst als bekannte europäischstämmige buddhistisch Praktizierende Hsu zur Hilfe kamen, legten sich diese Reaktionen.
Der gelebte Buddhismus, egal ob in den Ländern des Westens oder auf globaler Ebene, war immer schon multipel. Durch gegenseitigen Respekt, Neugier und die Bereitschaf,t voneinander zu lernen, können wir alte koloniale Dichotomien wie Ost und West oder Moderne und Tradition überwinden. Wir können neue Erzählungen schaffen, die der Vielfalt des gelebten Buddhismus besser gerecht werden.
Fo Guang Shan „Fo Guang Shan“, deutsch: „Buddhas Berg des Lichtes“, ist ein chinesisch-buddhistischer Orden der Mahayana-Tradition. Der Orden gründet und leitet weltweit Tempel und Gruppen unter seinem Namen. Der Hauptsitz von Fo Guang Shan liegt nahe Kaohsiung in Taiwan. Gegründet wurde Fo Guang Shan 1967 durch den buddhistischen Mönch und Gelehrten Hsing Yun. Der Orden entwickelt und fördert den humanistischen Buddhismus, eine moderne buddhistische Philosophie, die in chinesischsprachigen Gesellschaften weltweit zurzeit sehr populär ist. Mehr zu Diversität, Dynamik und Kreativität eines global gelebten Buddhismus: |
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 120: „Lebendiger Buddhismus"
Jens Reinke ist Assistant Professor for Religious Studies an der University of the West in Los Angeles und Direktor des Institute for the Study of Humanistic Buddhism. Sein Buch mit dem Titel „Mapping Modern Mahayana: Chinese Buddhism and Migration in Age of Global Modernity“ ist bei De Gruyter erschienen.
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