Wie eine Wohnsiedlung aus der Nazizeit zu einem Lebensgarten wurde. Ein Bericht über die Gemeinschaft in Steyerberg.
Morgen wollte ich mich mit Christoph Hatlapa, unserem Zen-Meister, zusammensetzen und diesen Artikel zum Thema „Zukunft“ schreiben. Heute früh kommt ein Anruf: Er wurde in der vergangenen Nacht mit Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert. Manchmal gibt es kein morgen.
Viele der bekannten Zen-Anekdoten schildern drastische Maßnahmen, mittels derer die in Gedanken verlorenen Schüler von ihren Meistern in die unmittelbare Gegenwart zurückgeholt werden. In gewisser Weise kann man auf die Frage, was Zen denn nun letztendlich anstrebt, antworten: Ankommen in der Gegenwart! Das Gewahrsein für die unmittelbare Gegenwart schließt aber das Bewusstsein unserer Verantwortlichkeit für die Zukunft ein. Heute lernen wir, auch in den öffentlichen Debatten um den angeblichen Konflikt zwischen Ökologie und Ökonomie mit dem Begriff der „Enkeltauglichkeit“ zu argumentieren.
1985 trafen sich ein paar mit ihrer damaligen Gegenwart unzufriedene Menschen. Darunter auch der Jurist Christoph Hatlapa. Der Ort war eine leer stehende ehemalige Wohnsiedlung für Arbeiter einer Pulverfabrik aus der Nazizeit im niedersächsischen Steyerberg. Es sollte um einen Schritt in eine bessere und enkeltaugliche Zukunft gehen. Inspiriert unter anderem von der spirituell und ökologisch orientierten Gemeinschaft „Findhorn“ in Schottland und mit der Vision einer gesunden und naturverbundenen Lebensweise gründeten sie die Gemeinschaft Lebensgarten. Die damaligen Pioniere der deutschen Alternativbewegung nahmen die Herausforderung der düsteren lokalen Vergangenheit bewusst an und transformierten über die Jahre diesen ehemaligen Ort der Kriegsführung in ein Friedensdorf.
Die Gebäude des ehemaligen Arbeiterlagers wurden unter ökologischen und zukunftsweisenden Gesichtspunkten umgebaut. Sie bieten heute etwa 120 Menschen ein Zuhause. Damals, in den Achtzigern, wurden allerdings die ersten Solarkollektoren auf dem Dach noch als Dorfverschandelung kritisiert. Das kleine grüne E-Auto, an der ersten Solartankstelle Niedersachsens aufgetankt, wurde belächelt. Die Zen-Praktizierenden, die in dunkler Meditationskleidung Gehmeditation übten, veranlassten den eilig herbeigeholten Sektenbeauftragten der evangelischen Landeskirche, über die Schließung der Gemeinschaft nachzudenken.
Das Gewahrsein für die unmittelbare Gegenwart schließt aber das Bewusstsein unserer Verantwortlichkeit für die Zukunft ein.
Drei Jahrzehnte später gehören Solarkollektoren auf dem Dach standardmäßig zu jedem ordentlichen deutschen Niedrigenergiehaus. Der Kauf von E-Autos wird staatlich gefördert, und die Mitarbeiter derselben Landeskirche, die einmal diskutierte, ob der Lebensgarten eine Sekte sei, halten im Gästehaus ihre Weiterbildungsveranstaltungen ab. Der jetzige Bürgermeister sagt zum neuen integrierten Klimaschutzkonzept der Gemeinde: „Wenn keiner anfängt, bleiben wir stehen.“ Wenn das, was einmal wagemutig visionierte Zukunft war, Gegenwart geworden ist, kann man sich kaum mehr vorstellen, dass es noch vor nicht allzu langer Zeit gegen enorme gesellschaftliche Widerstände erkämpft werden musste. Als die Gemeinschaft Lebensgarten im Jahr 2000 externes Projekt der Weltausstellung EXPO Hannover geworden war, mokierte sich noch das Magazin FOCUS über „esoterische Gutmenschen aus dem niedersächsischen Wesertal“, die „ihr Tagwerk fröhlich mit einem Kreistanz beginnen“. So geht es eben. Eine wünschenswerte Zukunft erscheint zuerst unmöglich, wird dann lächerlich gemacht und ist schließlich selbstverständlich.
Schon einer der Lehrer des japanischen Gründers der Steyerberger Zendo, der Philosophieprofessor und Zen-Lehrer Shin’ichi Hisamatsu (1889–1980), bemühte sich gegen die Tendenz des damals nationalistischen Japans, soziale und politische Anliegen in das traditionelle Zen-Training zu integrieren. Oi Saidan Roshi (1915–2018), der bei Hisamatsu gelernt hatte, ließ sich nach seiner Zeit als Abt im Myōshin-ji im abgelegenen Hōkō-ji bei Hamamatsu nieder, wo es ihm möglich war, das Training für Laien und auch für Frauen zu öffnen. Bei einem Besuch in Deutschland weihte er 1985 einen damals nur von Rotschwänzchen bewohnten Dachstuhl im Gemeinschaftsgebäude des Lebensgartens Steyerberg als „Choka Zen Kutsu“, wörtlich: „Vogelnest-Zen-Höhle“, ein. Bei seinem letzten Besuch, während der EXPO 2000, betraute er Christoph Rei Ho Hatlapa mit der Repräsentation seiner Lehrtradition in Deutschland.
Die Gemeinschaft Lebensgarten ist ein eher loser Zusammenschluss von Individualisten und Idealisten. Der Lebensgarten wurde über die Jahre zu einem Entstehungsort für eine Reihe von Projekten, etwa einer Firma für ökologische Bausanierung oder einigen Heilpraktiker-Praxen. Ebenso findet sich hier eine Schule für Mediation, deren Mitbegründer Christoph Hatlapa ist, das Zentrum für Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg und zeitweise das Permakultur Institut sowie die Zen-Gemeinschaft Choka Sangha mit ihrem Lehrhof für Zen und Permakultur. Völlig neu ist die CAIA Academy, eine Genossenschaft zur Entwicklung gemeinwohlorientierter Orte, die Wirtschaft und Wissenschaft, Kultur und Bewusstsein miteinander verbinden. All dies konnte und kann sich nur aus der Bereitschaft von Pionieren entwickeln, persönliche Risiken einzugehen. Zukunft findet, so zeigt sich im Rückblick, dort statt, wo Menschen sich gegen überlebte Konventionen auf eine radikal offene Zukunft einlassen.
Die jungen Menschen, die sich heute im lebendigen Netzwerk der Permakultur-Bewegung organisieren, legen Stadtteilgärten an, bauen Niedrigenergiehäuser aus Naturmaterialien und etablieren Selbstversorgersysteme. Sie lernen es dann aber auch zu schätzen, etwa während einer Seminarwoche im „Zen und Permakultur Lehrhof“ der Choka Sangha, morgens still auf dem Kissen zu sitzen und offenes Gewahrsein ohne Konzepte und ohne Vorstellungen zu üben. Die Zen-Praktizierenden üben, den Regeln Hyakujō Ekais (720–814) folgend, aktive Meditation bei der Gartenarbeit.
Julia, Biologiestudentin und Praktikantin bei Choka Sangha, meint dazu: „Die regelmäßige Meditation führt zur Fähigkeit, sich ganz auf den Moment konzentrieren und die Umgebung mit allen Sinnen wahrzunehmen zu können. Ich übe mich, mir meiner Gedanken bewusst zu werden und mich aktiv auf die Atmung oder die Sinneseindrücke zu konzentrieren. Ich lerne innerhalb des Praktikums, leichter das Wesentliche vom Nebensächlichen zu trennen und bessere Entscheidungen zu treffen.“
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 119: „Zukunft gestalten"'
Spirituelle Praxis wird hier in den Alltag integriert. Jedoch nicht im Sinne einer Instrumentalisierung zur Selbstoptimierung. Vielmehr im Dienst einer lebendigen Integration von innerer und äußerer Natur. Konkret werden die Designmethoden der Permakultur nach Bill Mollison, David Holmgren und Masanobu Fukuoka als Hilfsmittel für einen wahrhaft angemessenen Lebenserwerb integriert – im Sinne des Pfadglieds 5 des Achtfachen Pfades. Auch das Konzept der Gewaltfreien Kommunikation als Konkretisierung von Punkt 3 dieses Pfades, angemessene Rede, wird geübt und gelehrt. Caro, eine Krankenschwester und Choka-Sangha-Mitarbeiterin, erzählt: „Der Garten lehrt mich Geduld, Respekt und Verbindung. Zusammenhänge spüre ich hier im Garten sehr direkt. Wenn ich die Terra-Preta-Mischung beiseiteschiebe und die emsigen Regenwürmer auf dem braunen Boden betrachte, sehe ich, wie die Vielfalt sich wieder entfalten kann und wir können damit in Kontakt kommen.“ Sie meint weiter: „Etwas, was ich mir auch im Inneren und im Außen für unsere Welt und unser Miteinander wünsche.“
Unsere Zukunft, so scheint es uns – wenn wir denn eine haben –, kann nur eine sein, in der unsere innere Natur in die uns tragende äußere Natur integriert sein wird.
Zen-Meister Christoph Hatlapa ist inzwischen auf dem Weg der Besserung.
Nähere Infos zu den erwähnten Projekten: |
Jürgen Windhorn ist seit 1991 Schüler von Christoph Hatlapa und erhielt die Laienordination durch Oi Saidan Roshi (1996). Er ist seit 1999 im Lebensgarten Steyerberg und im Aufbau des ToGenJi-Projekts von Choka Sangha tätig.
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