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Leben

Selbstakzeptanz, Metta und Mitgefühl – Befreiung im Schnittfeld buddhistischer und queerer Perspektiven.

Die erste Regenbogenflagge als das stolze Symbol der LSBTQIA+ Community wurde 1978 im Auftrag von Harvey Milk, dem offen schwulen Stadtrat von San Francisco, entworfen. Jeder der ursprünglich acht farbigen Streifen auf der Flagge stand dabei für einen spezifischen Bereich: Sexualität, Leben, Heilung, Sonne, Natur, Kunst/Magie, Harmonie und Spiritualität. Es war ein lebensbejahender, zuversichtlicher Gegenentwurf zu dem vorherigen Symbol der Community, dem rosa Dreieck, das auf Stigmatisierung, Unterdrückung und die massiven Gewalterfahrungen homosexueller Menschen im Nationalsozialismus verwies. Das Symbol des Regenbogens markierte einen Wendepunkt queeren Selbstverständnisses zu einer befreienden, kollektiven Zukunftsvision einer inklusiven Gesellschaft, in der die ganze Vielfalt geschlechtlicher und sexueller Identitäten einen Platz findet.

Auch heute noch geht es für die queere Community darum, sich von repressiven gesellschaftlichen Bedingungen, geprägt durch Exklusion, Homophobie und Transphobie, zu befreien und aufzubegehren. Doch ebenso braucht es eine innere Befreiung, die es vermag, die eigenen mentalen Begrenzungen und verinnerlichten Gewaltstrukturen zu befrieden und eine eigene queere Stimme zu finden. Dieser Ruf nach Wahrhaftigkeit und Sichtbarwerdung findet im Dharma besondere Resonanz.

Gender-Dukkha: Wer bin ich?

Die in den vergangenen zehn Jahren zunehmende Sichtbarkeit gelebter queerer Diversität verweist auf die Erweiterung und Transformation von Genderkonzepten und Lebensentwürfen. Normative Geschlechtsstereotypen brechen zunehmend auf, und gleichzeitig entfalten sich bisher negierte Möglichkeiten des Menschseins. Insbesondere Personen, die sich als nichtbinär und Trans* identifizieren, teilen die Erfahrung, dass das ihnen bei der Geburt zugewiesene Geschlecht nicht mit der eigenen Gendererfahrung übereinstimmt. Mit diesem Selbstverständnis entziehen sie sich starren, binären Genderstereotypen, wie männlich-weiblich, homosexuell-heterosexuell, dualistischen Denkweisen und begrenzenden gesellschaftlichen Kategorien. Die Des-Identifizierung von normativen, als nicht passend erlebten Identitätskonzepten und die Infragestellung der vermeintlich „natürlichen Ordnung“ auf dem Weg zu queerer Authentizität und Wahrhaftigkeit erfordern jedoch ein beständiges Schwimmen gegen den Strom, Mut und viel Selbstakzeptanz.

Normative Geschlechtsstereotypen brechen zunehmend auf, und gleichzeitig entfalten sich bisher negierte Möglichkeiten des Menschseins.

So ist die Biografie vieler queerer Personen von Scham und Kränkung geprägt, von einem Gefühl, anders zu sein und nicht dazuzugehören, da gesellschaftlichen Rollenbildern und Erwartungen nicht entsprochen wird. Wiederholt wird die Erfahrung gemacht, falsch gelesen zu werden, da die Fremdzuschreibungen durch andere, hinsichtlich der eigenen geschlechtlichen Identität, nicht mit dem eigenen Erleben übereinstimmen. Die für die Identitätsentwicklung so wichtige Spiegelung im Außen fehlt, was häufig dazu führt, dass das Vertrauen in die Selbstwahrnehmung geschwächt wird und die eigenen Gefühle abgespalten werden. Damit einhergehen dann auch leidvolle Versuche des Sich-Verbiegens, um irgendwie zu passen und Anerkennung zu finden. Die tiefe Verunsicherung hinsichtlich der eigenen Identität resultiert häufig in der Verinnerlichung einer prägenden Überzeugung: „Etwas stimmt nicht mit mir“ und „Ich muss anders sein, um geliebt zu werden.“ Die buddhistische Lehre, explizit keine Glaubenslehre, ist hier besonders anschlussfähig, denn sie bietet Zuflucht, Orientierung und Kraft durch ein zunehmendes Vertrauen in das eigene Erleben. Die Aussicht, dass es möglich ist, durch die Aufgabe von Anhaftungen an begrenzende Konzepte und Ansichten innere Freiheit zu finden, ist eine ermutigende Botschaft für queere Menschen.  

Mitgefühl

Als ich im Rahmen meiner ersten buddhistischen Unterweisungen hörte, dass es darum gehe, einfach nur zu sein, nicht etwas oder jemand Bestimmtes zu sein, war das unglaublich erlösend für mich: Die Praxis des einfachen, unhinterfragten, gegenwärtigen Seins, die Haltung nichtbewertender, radikaler Akzeptanz, die sanfte Zuwendung und das Lauschen nach innen stillten meine Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Resonanz und besänftigten meine inneren Kämpfe. Ja, ich bin willkommen und völlig liebenswert, genau so, wie ich bin. Und dieses bedingungslose Ja ermöglichte mir, zunehmend die Tendenzen der Selbstablehnung und Selbstzweifel sowie Gefühle von Scham, Getrenntheit und Wut durch Selbstakzeptanz, Selbstachtung und Mitgefühl zu ersetzen. Es war genau diese Heilung des Herzens, diese sanfte Umarmung aller Aspekte des Menschseins, die viele queere Menschen als entscheidende befreiende Wirkung der buddhistischen Praxis erfahren – sei es durch Metta-Meditation oder durch die Atembetrachtung mit einer freundlichen und erlaubenden inneren Geisteshaltung.

Es geht um einen befreienden Blick auf die Ich-Identität und entsprechende, einengende Glaubenssätze.

Herausforderungen der Anatta-Lehre

Die buddhistische Lehre von Anatta (dem Nicht-Selbst), die besagt, dass die Vorstellung eines unveränderlichen, soliden Selbst eine Illusion ist, kann bei Menschen aus der LSBTQIA+ Community aber ebenso zu Verunsicherung führen. Große Aufmerksamkeit und viel Energie richten sich ja auf die Entwicklung und Repräsentation einer stimmigen, authentischen Geschlechtsidentität. Dies geht bei manchen auch mit körperlichen, sozialen und juristischen Veränderungen im Rahmen einer Transition einher. Aber sind wir damit nicht auf dem Holzpfad unserer Ego-Anhaftungen? So, wie ich es verstehe, negierte Buddha in seiner Lehre von Anatta jedoch nicht die Unterschiedlichkeit von Persönlichkeiten, sondern wandte sich gegen die Vorstellung einer grundsätzlichen Trennung zwischen mir und den anderen.

Es geht nicht um die Infragestellung einer kohärenten Selbstidentität, beziehungsweise um die Legitimität der Suche danach. Doch es geht um einen befreienden Blick auf die Ich-Identität und entsprechende, einengende Glaubenssätze. Aus dieser inneren Freiheit heraus erlaube ich mir, als queere Person für mich zu sorgen. Ich übernehme Verantwortung für meine Lebendigkeit, für meinen Körper-Geist-Prozess, jedoch ohne in egozentrischen Tendenzen unterzugehen. In einem Artikel in der Huffington Post schreibt der queere US-amerikanische Dharma-Lehrer Larry Yang treffend: „Der Weg zur Freiheit führt nicht um die Erfahrung von Identität herum oder transzendiert die Erfahrung der Identität, sondern führt durch die Erfahrung von Identität – wie auch immer sich diese Identität für uns manifestiert.“ Im Wissen um die prinzipielle Ungewissheit menschlicher Lebenserfahrung und um die Fluidität von Identitäten kann ich immer wieder neu fragen: Wer bin ich jetzt? Mit dieser Offenheit und dem weiten Möglichkeitsraum, der sich damit zeigt, entsteht Kreativität, Leichtigkeit und Schönheit. Alles darf sein, darf sich verändern, in dem Wissen „Ich bin die Person, die ich gegenwärtig werdend bin.“ Und ich bin aufgehoben. Dieses intuitive Wissen, dass es etwas gibt, das die persönliche und begrenzte Ebene meiner Selbstwahrnehmung überschreitet und größer ist als jede Angst, Einsamkeit, Trauer und Unsicherheit, wird immer mehr zu meinem Anker. Das ist die Frucht buddhistischer Praxis.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung Special №. 1: „Buddhismus unter dem Regenbogen"

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Umso mehr erscheint gerade der Regenbogen als eine höchst treffliche Symbolik für die Verbundenheit und Diversität der queeren Community, in ihrem Ringen um Identität, Sichtbarkeit und Anerkennung. Die einzigartige Schönheit eines Regenbogens beruht ja gerade auf seiner Fragilität und Flüchtigkeitund des fast gleichzeitigen Werdens und Auflösens seiner Formen und Farben. Dies ist pure Lebendigkeit. Ein stilles Aufleuchten an einem wetterzerzausten, wilden Himmel. Vielleicht ist das meine wahre Natur.

Dr. Fynn Rettberg (He/They) hat zum Umgang mit Risiken im Fach Geografie promoviert, an verschiedenen deutschen Universitäten gelehrt, eine Fotografieausbildung absolviert und praktiziert die buddhistische Lehre bei Dr. Sylvia Kolk/Hamburg. Fynn leitet seit 2020 eine queere, buddhistische Stadtpraxis in Berlin (autorisiert durch Dr. Sylvia Kolk). www.fyrett-photography.de

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