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Leben

Ich erinnere mich an die ersten Unterrichtsstunden bei meiner damals 90-jährigen Körperachtsamkeitslehrerin. Sie hatte ein drei Meter langes armdickes Schiffstau auf ihren roten Teppichboden gelegt, und wir sollten darauf balancieren.

Barfuß natürlich. Die Kinder in ihren Klassen lachten sich dabei kringelig. Ich war zunächst gelangweilt. Balance halten? Herunterfallen, hinaufsteigen, wieder herunterfallen. Ja, und? Die Lehrerin lenkte unsere Aufmerksamkeit auf Mikrobewegungen, zum Beispiel auf all die kleinen Muskeln rund um die Hüftgelenke. Konnten wir die Wirbelsäule und den Raum zwischen den Rippen spüren? Im Fallen und im Aufrichten ist es schwer, kontrolliert zu bleiben. Genau genommen verlieren wir mit jedem Schritt, den wir machen, das Gleichgewicht. Ist es nicht ein Wunder, wie schnell wir unsere Balance wiederfinden? Was lehrt uns der Körper, wenn wir mit aller Aufmerksamkeit erspüren, was zigtausendmal am Tag passiert?

Ist nicht auch unser Innenleben ein andauernder Hochseilakt? Mal fallen wir auf dieser Seite herunter, mal auf der anderen. Mal bemühen wir uns zu wenig, mal eindeutig zu viel. Wir wissen nur, was heiß ist, weil wir erfahren haben, was kalt ist. Leicht und schwer, süß und sauer, spitz und stumpf, dick und dünn: Unser Nervensystem und unsere Wahrnehmung werden bestimmt durch die Erfahrung von Gegensätzen, die wir bereits im Moment des Erlebens als angenehm oder unangenehm bewerten.

Körperachtsamkeitslehrerin

Sobald wir eine unangenehme Erfahrung machen, grenzen wir uns dagegen ab. Wir möchten sie loswerden und entwickeln Aversionen. Eine angenehme Erfahrung weckt in uns Verlangen nach mehr, wir bewegen uns zu ihr hin und möchten sie festhalten. Dieser sagenhaft schnelle Prozess, einen Sinnesreiz zu empfangen, zu bewerten und mit einer ablehnenden oder zustimmenden Bewegungsenergie anzureichern, das ist aus buddhistischer Sicht der Grundbaustein von Gefühlen, die Wurzel von Abwehr und Verlangen. Viktor Frankl hat sehr treffend bemerkt: „Zwischen Stimulus und Reaktion gibt es einen Raum. Hier haben wir die Freiheit und die Macht, unsere Reaktion zu wählen. In unserer Reaktion liegen unser Wachstum und unsere Freiheit.“

Wo bleibt die Erfahrung des Neutralen, der Mitte, des weder Angenehmen noch Unangenehmen? Das ist ein spannender Forschungsauftrag, liebe Leser, durch den wir viel über unsere Ich-Konstruktion lernen können, denn wir definieren die Ich-Erfahrung unter anderem durch das Besondere, Herausragende.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 114: „Balance finden"

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Buddha hat seine Lehre „den mittleren Weg“ genannt. Ein Loslassen der Extreme, weder das Verlangen noch die Abwehr nähren. Im Neutralen erkennen wir das höchst Besondere, den Mikromoment der Balance auf dem Seil. Statt andauernd außergewöhnliche, aufregende Erfahrungen anzustreben, sollten wir lieber die Ausgewogenheit im Alltag schätzen. Schauen wir genau hin: Die Mitte, das Gleichgewicht, das ist nichts Statisches, sondern eher eine andauernde Pendelbewegung, ein Kreisen um ein stets aufs Neue zu eroberndes Zentrum. Dort ist der Ort, an dem Frieden und Harmonie zu Hause sind und wir das Leben so sein lassen können, wie es gerade ist.

Marie Mannschatz praktiziert seit 1978 Achtsamkeits- und Metta-Meditation. Die Gestalttherapeutin und Autorin von Büchern über Meditation lebt und schreibt in Schleswig-Holstein.

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Marie Mannschatz

Marie Mannschatz

Marie Mannschatz hat mehr als zwei Jahrzehnte in freier Praxis als Gestalt- und Körpertherapeutin gearbeitet. Sie praktiziert Vipassana-Meditation seit 1978 und wurde in den neunziger Jahren von Jack Kornfield zur Lehrerin ausgebildet.Marie Mannschatz lebt in Schleswig-Holstein und lehrt in Europa ...
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