Der Bergführer und Meditationslehrer Thomas Schneider und Hendrik Hortz, Herausgeber von Ursache\Wirkung, sprechen über Momente, die einen auf heilsame Wege bringen.
Das Kleinwalsertal in den Allgäuer Alpen ist fast vollständig von Bergen umschlossen. Der Ifen, die Kanzelwand, das Fellhorn und nicht zuletzt der mehr als 2.500 Meter hohe Große Widderstein recken sich majestätisch dem Himmel entgegen. Kundige Bergwanderer möchten beim Klang dieser Namen unwillkürlich zu ihren Wanderstöcken greifen. Die Landschaft ist – ohne zu übertreiben – spektakulär. Die Touren, die man hier absolvieren kann, gehören zu den schönsten, die das Allgäu zu bieten hat. Das Kleinwalsertal ist politisch Bregenz zugeschlagen, also österreichisch. Aufgrund der Geografie kann dieses bezaubernde Fleckchen Erde aber ausschließlich über eine Verbindungsstraße aus Deutschland erreicht werden. Der freundliche Menschenschlag stammt von Schweizern ab. Die kamen im 13. Jahrhundert aus dem Oberwallis und besiedelten das Tal. Hier ist die Heimat von Thomas Schneider. Er ist im Kleinwalsertal aufgewachsen. Er ist Bergführer und Meditationslehrer, bietet seit vielen Jahren Kurse an, bei denen er das Wandern mit Meditation und Achtsamkeitsübungen verbindet.
Hortz: Lieber Thomas, es freut mich, dich zu treffen. Wir sitzen hier gemütlich in einem der Seminarhotels zusammen, in dem du deine Kurse anbietest. Ich möchte gern mit dir über dein Projekt „Wege zum Sein“ sprechen.
Schneider: Hallo Hendrik, schön dich wiederzusehen. Wir hatten uns ja bei einem meiner Kurse kennengelernt. Du warst Teilnehmer. Und offenbar hat es dir gefallen, sonst würden wir jetzt hier nicht sitzen (lacht).
Ja, die Mischung hat mich angesprochen: Auf der einen Seite die Innenschau und dann das Gehen. Welche Menschen kommen in deine Kurse?
Das ist unterschiedlich. Manche wollen sich einfach eine kleine Auszeit nehmen, sich selbst reflektieren. Manche leiden an einem Burn-out oder befinden sich in einer Umbruchphase ihres Lebens. Sie haben ihren Arbeitsplatz verloren oder eine Beziehung ist zu Ende gegangen. Es kommt die Hausfrau, die sich um drei Kinder kümmert, Künstlerinnen und Künstler ebenso wie Manager.
Die Gruppen sind also sehr heterogen?
Das macht die Dynamiken in der Gruppe so spannend. Viele der Teilnehmer sagen, dass durch das Thema Achtsamkeit viel Schönes in der Gruppe passiert. Menschen, die sonst im Alltagsleben aneinander vorbeilaufen würden, begegnen sich wirklich.
Du versuchst, eine Wohlfühlatmosphäre zu schaffen?
Die Teilnehmer sind in familiengeführten Seminarhotels untergebracht, die alle Annehmlichkeiten bieten. Wir machen keine spirituellen Retreats, bei denen man nachts im Zendo, im Meditationsraum, auf dem Boden schlafen muss. Es wechseln sich geführte Meditationen, mit Körperübungen ab, und dann machen wir täglich unsere kleineren bis mittleren Wanderungen. Die Wanderungen beinhalten immer wieder kurze Achtsamkeitsübungen. Und am Abend darf es dann beim Essen ein Gläschen Wein sein. Wir gehen auch in Firmen und bieten dort Achtsamkeitskurse an. Das Wesentliche meiner Arbeit ist die ethische Grundlage. Wir machen mittlerweile nur noch Seminare, die auf dieser Grundlage basieren.
Dann ist Deine Lehrtätigkeit mehr, als gestressten Managern Entspannungsübungen zu vermitteln, die sie leistungsfähiger und resilienter machen sollen?
Schneider: Absolut. Wenn zum Beispiel eine Firma zu uns kommt und sagt, „wir wollen, dass unsere Mitarbeiter performanter, effektiver und widerstandsfähiger werden“, dann hinterfragen wir das erst einmal. Wenn eine Firma aber kommt und sagt, „hey, ihr macht jetzt was zum Thema Wertschätzung“, dann sind wir dabei. Wir versuchen, den Teilnehmenden zu vermitteln, dass Wertschätzung bei einem selbst anfängt. Es ist kein übergeordnetes Konzept. Sondern es geht darum, was passiert bei mir in den Situationen des täglichen Lebens, was macht mein Geist.
Wie sah der Anfang deines eigenen Weges aus?
Ende der 1990er-Jahre hatte ich eine persönliche Krise und irgendwann das sichere Gefühl, dass man mir hier nicht helfen kann. Als ich die ersten Tabletten bekam, wurde mir klar, die würden nicht die Ursachen der Probleme lösen. Deshalb machte ich mich auf nach Indien. Ich lebte zwei Jahre in einem hinduistischen Ashram und studierte Patanjali Yoga. Dort bin ich zum ersten Mal zur Ruhe gekommen. Das werde ich nie vergessen. Es kamen dann unglaublich viele Tränen und viel Traurigkeit. Sachen, die einfach im Körper waren; die ich unterdrückt hatte. Das war eine sehr heilsame Erfahrung für mich. Das hat mich auf den Weg gebracht.
Und dein Weg hat dich danach zum Buddhismus geführt?
Ich merkte, dass Leute im Ashram die gleichen Probleme hatten wie die Menschen im Westen. Das zeigte mir, dass dieser Ort nicht die Lösung ist. Die Lösung musste woanders liegen. Ich erkannte, sie liegt im eigenen Geist. So gab es für mich keinen Grund mehr zu bleiben. Wir Menschen neigen dazu, Lösungen im Außen zu suchen, bei anderen Personen oder Organisationen, wie Religionen. Doch das funktioniert nicht. Wenn man einem guten Lehrer begegnet, wird der einem sagen, dass der Guru in dir zu finden ist. Ich habe einen tibetischen Meister getroffen und absolvierte eine dreijährige Ausbildung in der Gelugpa-Linie. Das ist die Tradtitionslinie im tibetischen Buddhismus, die der Dalai Lama repräsentiert.
Was hast du da für den Westen mitgenommen?
Ich habe an mir selbst gemerkt, dass wir im Westen ein Selbstwertthema haben. Damit wollte ich arbeiten. Wir suchen jemanden, der an unserer Stelle unsere Probleme löst. In der Folge bilden wir Gruppen, die andere ausschließen; Einzelne oder andere Gruppen. Die meisten guten Psychologen, die ich kenne, sagen, dass das größte Thema im Westen mangelnde Selbstliebe ist.
Verstehe. Da kommt ein Guru dann gerade recht. Wir kompensieren damit unseren fehlenden Selbstwert. Erst benutzen wir Konzepte wie Erfolg oder Attraktivität. Wenn das nicht hilft, projizieren wir alles in einen angeblich erleuchteten Meister. Das ist die Dynamik, die wir erkennen müssen.
Das ist das größte Hindernis, dass wir aus allem ein Konzept machen. Der Kopf hinterfragt immer „warum“ und „wieso“. Er versucht zu begreifen, was nicht zu begreifen ist. Meine Arbeit basiert auf einer grundlegenden Einheitserfahrung: zu erkennen, was Geist, was Psyche und was Bewusstsein ist. Und: Wie relativ Geist ist und wie viele Probleme uns und anderen Menschen dieser Geist bereiten kann, wenn wir ihn für real halten.
Geht es zugespitzt am Ende nicht einfach um ‚sein lassen‘? Da sein und nicht bewerten?
Richtig. Zunächst zu erkennen, jetzt bewerte ich. Dann sollte man sich fragen, ist diese Bewertung hilfreich? Reflektieren. Unsere emotionale und unsere rationale Intelligenz dürfen wir schon gebrauchen. Das Wissen über Geist und Bewusstsein schafft uns die Möglichkeit, unser Denken und Handeln zu hinterfragen, und dadurch haben wir die Möglichkeit, positive Geistes- und Bewusstseinszustände zu entwickeln.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 111: „Unterwegs - ein Abenteuerheft"
Was willst du letztlich mit deiner Arbeit erreichen?
Mir persönlich ist es ganz wichtig, dass nicht so was wie ein Meister-Schüler-Gefälle entsteht. Ich bin kein Meister oder Guru, keiner aus dem Wege-zum-Sein-Team ist das. Wir sind Freunde und Wegbegleiter. Wenn wir auf unseren Wanderungen sind, entstehen oft sehr tiefe Gespräche. Das Gehen löst da etwas. Und wenn jemand von sich erzählt, was ihn bewegt oder quält, dann ist allein das darüber Reden oft schon hilfreich. Zusammen mit dem, was wir anleiten, kann dann wirklich etwas Neues entstehen. Viele Teilnehmer melden sich nach einiger Zeit noch einmal und berichten von positiven Veränderungen in ihrem Leben. Wenn ich solche Geschichten höre, dann weiß ich, wir haben etwas richtig gemacht.
„Wege zum Sein“ finden Sie online unter: www.wegezumsein.com
Fotos © Wege zum Sein