Kürzlich las ich einen Artikel des deutschen Schriftstellers Christoph Peters, der mein Interesse weckte. Er berichtete von seinen Erfahrungen in Japan und entwickelte daraus grundsätzliche Überlegungen zu Unterschieden von Denk- und Verhaltensweisen in Ost und West.
Ich möchte diese Überlegungen hier nachzeichnen, weil sie mir bedenkenswert erscheinen. Jede Gesellschaft handelt ein eigenes Gleichgewicht zwischen den individuellen Bedürfnissen und den Bedürfnissen der Gesamtheit aus. Der Westen stellt die persönliche Freiheit in den Vordergrund. Hier ist man der Überzeugung, dass die größtmögliche Entfaltung des Einzelnen auch die höchste Zufriedenheit der Gesellschaft garantiere. Dies sehen die meisten ostasiatischen Gesellschaften anders: Ein reibungslos funktionierendes Kollektiv sei Voraussetzung für ein persönlich glückliches Leben. Da Konflikte fast immer dann auftreten, wenn unterschiedliche, widerstreitende Bedürfnisse aufeinandertreffen, geht es deshalb nicht primär um Durchsetzungsfähigkeit, sondern um Tugenden wie Ruhe, Geduld und Frustrationstoleranz.
Grundsätzlich gilt zwar auch für uns, dass persönliche Freiheit dort endet, wo die Freiheit anderer beginnt. In der Praxis nehmen wir uns jedoch so viel Raum wie möglich. Stoßen wir an Grenzen, versuchen wir, diese oft entrüstet noch weiter zu unserem individuellen Vorteil auszudehnen. Das kann man schon im Alltagsleben trefflich beobachten: ob wir Verkehrsregeln grob missachten und uns und andere damit in Gefahr bringen oder einfach Dinge tun, ohne darüber nachzudenken, ob sie andere beeinträchtigen könnten.
Der Grund, warum in Ostasien eine völlig andere Art des Umgangs mit individueller Freiheit herrscht, dürfte in der buddhistischen Philosophie zu finden sein. Sie behandelt den Eindruck des Individuums als eigenständige Erscheinung, die getrennt von allem anderen ist, als Illusion. Buddhistische Philosophie nimmt stattdessen an, dass alles Seiende Teil einer unendlich komplexen Struktur kausaler Prozesse und hochgradig miteinander vernetzt ist. Deshalb wird in Ostasien die eigene Existenz zugunsten des Gemeinwohls eher in einem Zustand geschmeidiger Offenheit gehalten.
Sicherlich wäre auch die Pandemie leichter auszuhalten, wenn wir nicht in erster Linie über Sinn und Unsinn dieser und jener Maßnahmen für uns selbst streiten würden. Ebenso würde eine gelassenere Akzeptanz der Dinge, wie sie eben sind, sicher Entlastung mit sich bringen.
Unsere Existenz ist in Wahrheit nicht der permanente Kampf, in dem sich am Ende der Stärkere durchsetzt. Sie ist vielmehr eine meta- und transpersonale Einheit, in der alles mit allem verbunden ist. Die grimmige Durchsetzung der eigenen Interessen wendet sich früher oder später gegen uns selbst – und sei es nur in Gestalt der eigenen Unzufriedenheit.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 119: „Zukunft gestalten"'
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