Im Unterschied zum modernen Wettkampfsport basieren die traditionellen fernöstlichen Kampfkünste (Budo) auf originären Philosophien (Daoismus, Shintoismus, Zen) und buddhistischer Psychologie. Das „Geistige“ dieser Budo-Wege (Do) offenbart sich als spirituelle Lehre und Praxis.
Der Körper, die Bewegung, die Technik, die Übung des Zweikampfs als Übung der Selbstbeherrschung sind Mittel zum Zweck meditativer Arbeit im Tun. Ergänzt werden die Budo-Schulungen der Bewegung und Begegnung (Ich – Du – Wir) mit Schulungen der Besinnung. Sitzmeditation des Zazen, Gehmeditation des Zen-Kinhin, Arbeitsmeditation (Zen-Soji) der Reinigung des eigenen „Tempels“ (Dojo), Energiemeditation des Tai-Chi, Atem- und Körpermeditation des Qigong oder Yoga zählen dazu, ebenso die persönliche Unterweisung und Führung durch einen Meister (Sensei), dessen Lehrgespräche (Mondo) zur Vertiefung des Wissens und Verständnisses des „psycho-esoterischen“ Weges und seiner (offenen) „Geheimnisse“ (Okuden), die Ausübung von und Befassung mit den zum Budo gehörigen „schönen Künsten“ (Bun-bu-ryo-do) wie Poesie (Haikai), Kalligrafie (Shodo), Malerei, Musik (Gagaku), Bonsai- und Blumenarrangement (Kado) oder das Miterleben von Ritualen und Zeremonien, wie z. B. der klassischen Teezeremonie (Chado) oder der Rezitationsgesänge (Shomyo) in der Schulgemeinschaft Gleichgesinnter.
Friedlich, freundlich, fröhlich
Alle Budo-Übungen dienen dem Training des „Geistes“ (Shin), von Konzentration (fokussierte Aufmerksamkeit) oder Achtsamkeit (Geistesgegenwart) und Gewahrsein (Bewusstsein), am Ende aber auch dem als Einheit aufgefassten Phänomen „Geist-Herz-Gemüt“ (Kokoro), also der rechten „inneren Haltung“ und Schulung (Erziehung und Selbsterziehung – auch Therapie) der Persönlichkeit des Menschen. Es geht um inneres Wachstum, um fortschreitende Ent-Wicklung des eigenen Potenzials und individuelle Vervollkommnung. Insofern sind „geistige“ oder auch „innere“ Kampfkünste“ als traditionelle „Körper-Seele-Geist-Wege“ alles andere als profaner am Äußeren interessierter Sport.
Was meint „friedlich“?
Budo lehrt Friedfertigkeit und übt diese praktisch ein. Die oberste Maxime und zentraler Leitsatz (Dojo-Kun) aller vom Buddhismus geprägten Budo-Künste (Bukkyo no Budo) ist Gewaltverzicht. Die Ausbildung zum „Friedvollen Krieger“ meint, durch das Lernen von Kämpfen-Können das Kämpfen-Wollen oder -Müssen aufzugeben und letztlich den Nichtkampf (Bu) zu verwirklichen. Wer kämpfen kann, kanns auch lassen, ist souverän und lässt sich nicht provozieren oder hinreißen, hat intensiv und lange an seiner psychoemotionalen Selbstbeherrschung gearbeitet, trainiert, zu „Siegen durch Nachgeben“. Seine Kampfkraft setzt ein Budo-ka (Budo-Ausübender) allenfalls ein, um sich oder andere in Notwehr zu verteidigen und zu schützen. „Im Budo gibt es keinen Erstangriff“ (Budo ni sente nashi) und niemals also darf (und will man) etwa angreifen oder jemanden (auch Tier und Pflanze) verletzen. So setzt man – notfalls (wenn Vermeiden, Aufgeben oder Weglaufen nicht mehr klappen) – harmlose, defensive „weiche“, nur ab- und umleitende, blockierende oder den Angreifer vorübergehend lähmende Techniken zur Änderung der Angriffsabsicht des Aggressors ein. Das ist meisterlich, wahres Budo.
Im Übrigen ist Budo die immanente „geistige“ Lehre buddhistischer Philosophie ohnehin, niemandem Leid zuzufügen, ja sogar sich für die Verhinderung oder Reduzierung von Leid anderer (aller Lebewesen, auch der Natur) einzusetzen. Es geht um den Frieden in mir und in der Welt …
Wieso „freundlich“?
Gelehrt wird im Budo grenzenloses Wohlwollen, ja „Nächstenliebe“. In einem Dojo üben die Budoka mit Partnern, nicht Gegnern, und untereinander behandeln sie sich wie Familie (in manchen Systemen haben fortgeschrittenere Schüler asiatische Titel wie „Große/r Bruder/Schwester“, vice versa „Kleine/r“ für später Hinzugekommene, „Väterlicher Freund“ für den Lehrer (Sensei, Sifu), auch „Großvater“ für den Lehrer des Lehrers, Onkel, Tante usw.) und wie Freunde. In der Gemeinschaft praktizieren alle eine (konfuzianistisch geprägte) Etikette (Reigi) zur Einübung von Wertschätzung, der (aufrechten) Demut und respektvollen Würdigung allen und allem gegenüber. In der Praxis von ritueller Verneigung voreinander (Gassho), nicht etwa Beugen (und Buckeln), der symbolischen Geste einander das Herz zu öffnen, repräsentiert sich das einander Zugeneigtsein. Es gelten grundsätzlich ethische Tugenden (Ehrenkodex des Bushido) und durchgängige Höflichkeits- und Anstandsregeln, deren Übernahme sich auch nach außen etabliert.
Freundlichkeit ist gelebte Anerkennung und Würdigung des anderen als wertvoll, bedeutsam, besonders und beinhaltet eine interessierte Zugewandtheit. Budoka behandeln einander und auch Fremde stets in gutmütiger Geneigtheit, das Gute in ihnen zu sehen (sehen zu wollen). Sie wissen, Gleichgültigkeit, Respektlosigkeit oder sogar Feindseligkeit kommt zurück, wie jede Tat und auch jeder schlechte Gedanke. Überhaupt ist Budo als buddhistischer Übungsweg eine (wenn auch dynamische) Form zur Arbeit mit Gefühlen, zur Kontrolle von Wut und Angst (als Gewalt auslösende Phänomene), zur Überwindung von Neid und Missgunst und vor allem zur Entwicklung von Mitgefühl. Freundlichkeit, Güte, Milde und barmherzige Hinwendung zu allen Wesen ist grundlegende und praktisch geübte Budo-Philosophie. Insofern ist Freundlichkeit Ausdruck der rechten „inneren“ Haltung, wie sie von Budoka als Selbstverständlichkeit auch „geäußert“ wird.
Wieso „fröhlich“?
Glück ist ein Bewusstseinszustand. Zufriedenheit, Wohlbefinden durch sinnerfülltes Tun, mit Freude erlebtes Leben und eine durch „Geist-Arbeit“ im Budo erworbene größere Gelassenheit gegenüber unerwarteten oder unbequemen Umständen machen Budoka, wenn nicht resistenter, dann zumindest resilienter bei Krisen. Es ist eine Frage der Einstellung, denn, wie die buddhistische Weisheit lehrt: „Es gibt keinen Weg zum Glück. Glücklichsein ist der Weg.“ Der Schlüssel zum Glück liegt also in uns selbst, dem rechten Wahrnehmen des im Hier und Jetzt Wesentlichen, den rechten Gedanken (die ihrerseits unsere Gefühle ja erst steuern), die Aufgabe des Anhaftens an Zweifeln und Sorgen, Wünschen und Wollen.
Budoka sind geübt fröhliche(re) Menschen, da sie gelernt haben, ebenso strebsam nach dem „inneren“ Glück zu suchen, Leid als zum Leben Gehörendes zu studieren und im eigenen Leid auch die negativen Gedankenspiralen loszulassen. Wer frei(er) von Ängsten und Sorgen lebt, positiv in die Welt schaut und sie deshalb auch positiv erlebt, hat allen Grund, „von Herzen“ überzeugt fröhlich zu sein.
Fazit:
„Geistige Kampfkünste“ im oben beschriebenen Sinne schulen auf ihre eigene besondere Weise Frieden, Freude und Wohlbefinden (Glück). Sie verändern die eigene Wahrnehmung und die der Welt, wecken den „inneren Meister“ im Menschen und lehren, sein Leben als „Meister“ zu meistern …
1Vertiefungen des Autors:
Budo
- Budo – Wesen und Wirken der Kampfkunst; hrsg. gemeinsam mit C. Dorn; Norderstedt 2020
- Essays zum Budo; Norderstedt 2017
Budopädagogik und -therapie
- Achtsamkeit – der psycho-spirituelle Focus buddhistischer Körper(psycho)therapie; in: Focusing Journal – Zeitschrift für Kultur der Achtsamkeit in Psychotherapie, Beratung und Coaching, 47/2021, S. 13–17; online:
- Kampfkunst als Therapie – Die sozialpädagogische Relevanz asiatischer Kampfsportarten; Norderstedt, 2020
- Bewegung – Begegnung – Besinnung. Budo als Körper(psycho)therapie in der Kinder- u. Jugendpsychiatrie; in: körper-tanz-bewegung. Zeitschrift für Körperpsychotherapie und Kreativtherapie; 04/2018, S. 159–16
- Budo-Therapie. Zur heilenden Wirkung asiatischer Kampfkünste bei psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen; in: Bewusstseinswissenschaften – Transpersonale Psychologie und Psychotherapie; 02/2015. S. 69–76
- Budo-Therapie. Die Evokation heilender Effekte in asiatischen Kampfkünsten; in: Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik, 01/2015; online
- Budo-Pädagogik. Das erzieherische Wesen der Kampfkünste und budopädagogische Perspektiven; hrsg. gemeinsam mit J. Schröder u. H. Schmitz; Norderstedt 2014
Dr. phil. Jörg-Michael Wolters ist Erziehungswissenschaftler, Promotion im Fachbereich Soziale Therapie (1992), Sport-, Bewegungs- und Körper- Therapeut, viele Jahre Lehrbeauftragter der Sektion Sozialpädagogik & Jugendpsychiatrie der Universität Lüneburg sowie Pädagogisch-therapeutischer Leiter der Niedersächsischen Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Lüneburg. Freiberufliche Lehrtätigkeit als Bildungsreferent und Coach seit 2000, Leiter des Internationalen Instituts für Budopädagogik und Spiritus Rektor des neuen Fachgebietes. Budo-Lehrmeister (7. Dan Kempo und Karatedo) mit japanischem Hanshi-Titel. www.budopaedagogik.de / www.shoto-kempo-kai.de
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herzlichen Dank für diesen Artikel!
Entegen der weit verbreiteten Meinung hat Budo nichts mit Wettkampf gegen andere zu tun.
Das wird in diesem Artikel einmal mehr als deutlich!
Mehr noch, Budo als Weg zu mehr Freude und Freiheit mag ein harter Weg sein, den es in jedem Fall zu beschreiten lohnt!
vielen Dank für diesen Beitrag. Ihre Artikel wirken bei mir immer nach, sodass ich danach einige Tage über das gelesene nachdenke und es wirken lasse.
Ich kann ihre Schlagwörter (friedlich, freundlich, fröhlich) nur bestätigen in Zusammenhang mit Budo. Ich übe seit mehr als 10 Jahren, verschiedene Kampfkünste. Dabei haben mich besonders die ersten Jahre und die letzten drei Jahre geprägt. Es hilft mir, mit mich Selbst und den verschiedenen Problemen im Alltag auseinanderzusetzen und mahnt mich nicht nur zu powern, sondern auch an den Ausgleich zu denken. So kam es vor, das ich die Rückmeldungen bekam: „Wie kannst du das so entspannt sehen?“ (wenn es Konflikte unter Kindern gibt oder sie sich raufen) oder „Woher nimmst du diese Fröhlichkeit?“
Ich freue mich über mehr Artikel von Ihnen.