Unsere Gesellschaften sind polarisiert. Besonders extrem ist es in den USA. Dort sind öffentliche Debatten fast unmöglich. Der amerikanische Philosoph Jay Garfield ist überzeugt: Ohne einen stabilen öffentlichen Raum für Diskussionen können wir in der Demokratie keine Probleme lösen.
Sein Appell für Respekt und den aufrichtigen Dialog mit Andersdenkenden kann auch für uns nützlich sein.
Ein Spandpunkt von Jay Garfield
Schon lange ist der politische Diskurs nicht mehr so polarisiert geführt worden wie heute. Tiefe Gräben haben sich zwischen linken und rechten Gruppierungen aufgetan, nicht nur in den USA, sondern weltweit. Diese Gräben zeigen sich in den Debatten über die Corona-Pandemie, Flüchtlingspolitik, nationale Identität, wirtschaftliche Verteilung innerhalb einzelner Länder und zwischen den Staaten, aber auch beim Thema Globalisierung versus nationale Interessen. In den USA tun sich Abgründe zwischen den Parteien auf, egal welches Thema wir anschauen.
Diese Lage ist erschütternd. Und die möglichen Folgend sind erschreckend, denn genau dadurch könnten der öffentliche Diskurs und Diskussionen unnmöglich gemacht werden. Es sind aber gerade politische Diskussionen, die die Demokratie voranbringen, Gemeinschaft entstehen lassen und die Menschen durch gemeinsame Visionen für die Gestaltung des Gemeinwohls verbinden.
Diskurs ist das Herz der Demokratie
Die öffentliche Debatte ist das schlagende Herz der Demokratie und der Zivilgesellschaft. Das legten Kant in seinem Essay “Was ist Aufklärung?” , Mill in seiner Schrift “On Liberty” und in jüngerer Zeit Philosophen wie John Rawls und Jürgen Habermas dar.
Ohne einen stabilen öffentlichen Raum, in dem Ideen ausgetauscht, kritisiert, geändert und mit allgemeiner Zustimmung umgesetzt werden, gibt es keine wirkliche Demokratie oder Zivilgesellschaft, egal wie viele Wahlen abgehalten werden. Und dieser öffentliche Raum kann nur dann effektiv funktionieren, wenn der Diskurs offen und respektvoll geführt wird.
Der sachliche, zivile Diskurs wird jedoch rasant durch laute, heftige Verbalattacken verdrängt. Solche Auseinandersetzungen kommen bei denen, an die sie eigentlich gerichtet sind, nicht an. Überdies bewirken sie, dass sich die Fronten zwischen gegnerischen Gruppierungen verhärten und eine Öffnung für den Austausch in der Zukunft unmöglich gemacht wird.
Bedenkt man, wie notwendig ein breiter öffentlicher Dialog ist, um Fortschritte bei der Lösung von Problemen zu erzielen, mit denen wir als Menschheit konfrontiert sind, allen voran die Erderhitzung, ist diese Situation schlicht katastrophal.
Warum Diskurse scheitern
Das Scheitern des zivilen Diskurses hat mehrere Gründe. Der erste ist ganz einfach die Angst. Die ganze Menschheit und fast jede Nation der Welt ist von einer Vielzahl von Katastrophen bedroht. Ich habe bereits die Erderhitzung erwähnt, die viele weitere Krisen hervorrufen wird.
Krieg ist ein weiteres weit verbreitetes Problem, aber auch die Corona-Pandemie und die Einkommensunterschiede. Letztere wiederum führen zu verstärkter Migration, und diese verändert unweigerlich das soziale Gefüge der Gesellschaften, aus denen die Migranten aus- und in die sie einwandern.
Solche Entwicklungen können große Ängste verursachen. Angst vor Veränderung wiederum führt dazu, dass man auf Positionen beharrt und Gesprächspartner dämonisiert. Eine solche Dämonisierung ist gefährlich, denn sie bringt alle Teilnehmer der Debatte dazu, die Positionen und Worte derer, mit denen sie nicht übereinstimmen, zu ignorieren und sich in Filterblasen zurückzuziehen, in denen nur ihre Meinung gilt.
Neben der Angst sind massive ideologische Differenzen der zweite Grund für das Scheitern des Diskurses. Diese Differenzen werden durch die Angst vor Veränderung und die Globalisierung noch verstärkt.
So kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen offenen und geschlossenen Gesellschaften, Demokratien und totalitären Regimen, pluralistischen versus monokulturellen Nationalstaaten, religiösen kontra säkularen Gesellschaften, Staaten, die dem Unilateralismus verpflichtet sind, gegen Staaten, die auf Multilateralismus setzen.
Die in diesen Debatten eingenommenen Positionen sind so gegensätzlich, dass es sehr schwierig ist, überhaupt eine Basis für die Kommunikation zwischen den gegnerischen Parteien zu finden.
Allein der Gedanke, dass andere Ansichten Respekt verdienen, scheint unvorstellbar
Der dritte Grund, warum der zivile Diskurs scheitet, liegt in der moralischen Auslegung aller politischen Diskussionen. Da die Themen für die an diesen Debatten Beteiligten jeweils von größter Bedeutung sind, wird schnell jede Meinungsverschiedenheit in einen Kampf zwischen Gut und Böse gemacht.
Jeder Anhänger einer Ansicht oder Partei ist überzeugt, dass er oder sie auf der Seite des Guten steht. Da es ja nicht notwendig ist, „böse“ Meinungen und „böse“ Menschen ernst zu nehmen, argumentieren sie, bestehe auch keine Notwendigkeit für eine vernünftige Debatte. Wieder einmal verhärten sich die Fronten, immer mehr Menschen bewegen sich in Filterblasen und werden so immer weniger empfänglicher für Einflüsse von außen.
Schließlich werden moderne Kommunikationsmittel, darunter sowohl soziale Medien als auch private oder staatlich geförderte ideologische Medien, dazu benutzt, Unterschiede zu verstärken, Informationen zu verfälschen, Angst, Fremdenfeindlichkeit und Hass zu schüren und so die Diskussion noch weiter zu polarisieren.
Da die meisten Menschen weltweit Nachrichten und Informationen aus einer einzigen oder nur wenigen Quellen erhalten, wird allein der Gedanke, dass andere Ansichten stichhaltig sein und Respekt verdienen könnten und dass diejenigen, mit denen man nicht einverstanden ist, gute Absichten haben, unvorstellbar.
Menschen, die anderer Meinung sind, respektieren
Wenn diese Polarisierung anhält, gibt es keine Hoffnung für die Zukunft. Es können keine Probleme gelöst, keine Fortschritte erzielt und keine gemeinsamen Ziele erreicht werden. Die tiefe Spaltung der Gesellschaft, deren Zeuge wir jetzt sind, ist eine tödliche Bedrohung für die Demokratie und damit für die menschliche Zivilisation.
Wir müssen uns daher unbedingt alle darum bemühen, in unserer Kommunikation Grenzen zu überschreiten. Dazu gehört – außer in extremen Fällen -, unsere Gegner als unsere Gesprächspartner anzunehmen. Das heißt, diejenigen, die nicht unserer Meinung sind, als Menschen zu respektieren, die möglicherweise etwas sehen, was wir eben nicht sehen. Vor allem müssen wir auch weiterhin miteinander im Dialog bleiben.
Das kann schwierig werden, denn wir haben fast alle mehr oder weniger das von mir skizzierte Stammesdenken verinnerlicht. Jeder und jede von uns hat aber die Verantwortung, von dieser eingeengten Haltung Abstand zu nehmen.
Ich schlage zum Beispiel konkret vor, dass wir jemanden, dem wir in keinster Weise zustimmen, in einen Dialog treten, der sowohl Zuhören, und zwar mit wirklich offenem Geist und Herzen, als auch Diskussion beinhaltet.
Ich schlage vor, die Medien der anderen Seite zu lesen oder zu hören, mit dem Ziel, sie zu verstehen und sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen. Ich schlage vor, ein wenig Abstand von den eigenen Positionen zu nehmen, um zu erkennen, was daran für andere anstößig sein könnte.
Dies ist keine Aufforderung, die eigenen Ansichten und Werte aufzugeben und mit allem einverstanden zu sein, was von denen gesagt wird, mit denen man nicht übereinstimmt. Die Idee ist vielmehr, Überzeugungsarbeit zu leisten.
Unsere Gegener als Gesprächspartner einladen
Wenn Sie wirklich begeistert sind von Ihren Ideen, Werten, Projekten und Ihrer Politik, müssen Sie sich dafür einsetzen, diese erfolgreich voranzubringen. Dies ist garantiert nicht möglich im Rahmen lauter, polarisierender Schimpfkampagnen.
Sie werden diejenigen, die Sie für Ihre Politik einnehmen wollen, nur durch einen offenen, respektvollen Dialog überzeugen, der alle mit Engagement und Vernunft mitnimmt. Nur so besteht Hoffnung, die großen Probleme unserer Zeit zu lösen, sowohl in unseren eigenen Ländern als auch auf bilateraler und multilateraler Ebene.
Natürlich gibt es Ausnahmen. Es gibt diejenigen, deren Ansichten oder Methoden so ungeheuerlich, unmoralisch und gefährlich sind, dass ein rationaler Dialog mit ihnen oder gar Respekt für ihre Ansichten unmöglich ist.
So können wir beispielsweise keinen ernsthaften Dialog mit überzeugten Nazis oder Boko-Haram-Terroristen führen. Ihre Ansichten sind so irrational, unzumutbar und moralisch so abstoßend, dass sie nicht als Möglichkeit in Betracht kommen können. In diesen Fällen müssen wir einen Machtkampf führen, was immer das auch mit sich bringt.
Allerdings sind solche Fälle selten, solche Meinungen Randerscheinungen. Wir sollten das, was ich eben sagte, nicht als Vorwand nehmen, um uns gegenüber Leuten massviv abzugrenzen, mit denen wir nur nicht übereinstimmen.
Allzu oft dämonisieren wir Menschen, deren Meinung wir nicht teilen, indem wir sie als Nazis, Clanmitglieder, islamistischen Extremisten, kommunistischen Revolutionären usw. beschimpfen oder einkategorisieren. Unter diesem Vorwand wird der öffentliche Diskurs vermieden oder sogar unmöglich gemacht. Es handelt sich dabei tatsächlich meist um eine haltlose Übertreibung.
Es ist an der Zeit, die Haltung der Abgrenzung durch ein grundlegendes Wohlwollen, eine freundschaftliche Verbindung zu ersetzen. Wir müssen die, mit denen wir nicht übereinstimmen, als Mitwirkende am selben großen Projekt sehen, als Individuen, mit denen wir grundsätzlich eine Einigung erzielen können, als Gesprächspartner, die unseren Respekt verdienen und von denen man ebenso Respekt erwarten kann.
Und wir müssen dieses Engagement ihnen gegenüber klar ausdrücken, indem wir unsere Gegner dazu einladen, unsere Gesprächspartner zu werden. Nur dann haben wird die Möglichkeit, von anderen zu lernen, falls wir uns irren sollten. Nur dann können wir unsere eigenen Ansichten voranbringen, wenn sie denn richtig sind und nur dann ist es uns möglich, Gemeinschaften zu formen, in denen wir gerne leben wollen.
Zuerst am 5.11.2020 veröffentlicht auf www.ethik-heute.org - ein kostenloses Online-Magazin rund um Ethik und achtsames Leben.
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