Spirituelle Schulung und konkretes soziales Engagement müssen sich nicht ausschließen. Ein spiritueller Weg kann eine Basis für soziales Engagement sein.
Für mich schließen sich Buddhismus und soziales Engagement nicht aus.
Als ich mich dem Buddhismus zuwandte, ging es mir darum, mich selbst zu verändern. Ich wollte etwas gegen meinen Geiz, Egoismus und mein teilweise kriminelles Verhalten tun. Mein hedonistisch-egoistischer Lebensstil erschien mir nicht richtig und auf eine unheilsame Zukunft zusteuernd. Es ging mir also um Veränderung bei mir selbst, nicht bei anderen.
Ich musste mich erst mal an den Gedanken gewöhnen, anderen zu helfen, oder es zu unterlassen, Spinnen mit dem Staubsauger aufzusaugen. Mit zunehmender Gewöhnung und dem geistigen Gewinn aus der buddhistischen Praxis – wie mehr Zuneigung und Wertschätzung für andere zu empfinden oder dem Loslassen von Hass, Feindbildern und unethischem Verhalten – war es dann eher natürlich für mich, dass ich etwa vier Jahre später anfing, mich auch im sozialen Bereich zu engagieren.
Es gab damals einen Kontakt zwischen unserem buddhistischen Verein und der JVA Oranienburg, einem Jugendstrafvollzug in Brandenburg. Auf die Frage, was sie brauchen, antworteten sie, dass achtzig Prozent der Strafgefangenen rückfällig würden. Es wäre gut, etwas anzubieten, das die Rückfallquote reduziert.
„Zuerst sollte man sich selbst in dem verankern, was richtig ist, und dann andere anleiten.“ – Buddha im Udānavarga
Ich dachte mir, nicht wieder im Gefängnis zu landen, sollte eigentlich auch der Wunsch der Jugendlichen sein. Ich überlegte weiter: Was ist es, das sie ins Gefängnis bringt? Mir fielen die buddhistischen Geistesgifte ein, „Gier“, „Hass“, „Neid“, „Unwissenheit“ oder etwa „Rache“. Sicherlich tragen auch bestimmte Sichtweisen, eine fehlgeleitete Werteorientierung und schlechte, nicht hinterfragte Gewohnheiten dazu bei, straffällig zu werden. Ich entwarf daraufhin einen Kurs, der auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Jugendlichen zugeschnitten war. Er war eine Mischung aus der Theorie des Bewusstseins – basierend auf dem Abhidharma –, Meditation, Diskussion und Reflexion. Das Angebot richtete sich an etwa acht bis zwölf Jugendliche im Alter von vierzehn bis 24 Jahren und zielte auf die Überwindung zwanghafter krimineller Gewohnheiten ab. Der Kurs fand wöchentlich statt und dauerte neun Monate.
Für drei Jugendliche mündete der Kurs in ein individuelles Verhaltenstraining. Zwei übten, ihre Aggressionsmuster zu regulieren, ein anderer, seine zwanghaften Diebstahlimpulse hinter sich zu lassen. Wir übten etwa, dass er sich zuerst bewusst wird, dass er stiehlt. Dann, wie er mit dem bereits erfolgten Diebstahl oder dem Impuls zu stehlen umgehen kann, um das Stehlen entweder nachträglich zu korrigieren oder in Zukunft ganz zu vermeiden. Ein Beispiel: Eines Tages realisierte er in seiner Zelle, dass er ein Duschgel aus der Dusche gestohlen hatte. Er brachte es zurück. Das war ein Erfolg. Zigaretten zu stehlen, wenn er keine hatte, konnte er anfänglich nicht überwinden. Wir fanden für ihn einen legalen Weg, an Zigaretten zu kommen. Das hat funktioniert. So hat er neue Verhaltensweisen eingeübt und alte verändert und losgelassen.
Soweit mir bekannt, musste nur einer der vielen Strafgefangenen, die ich seit dem Jahr 2000 betreute, zurück ins Gefängnis. Zusammen mit einem Theravada-Freund bot ich noch einen Kurs zum Umgang mit Sucht in dieser JVA an. Später kamen Anfragen aus anderen JVAs. Auf Vorschlag des erwähnten Theravada-Freundes bot ich einen siebenjährigen, wöchentlichen Meditationskurs in einem Drogenpräventionsprojekt an, das vom Berliner Senat finanziert wurde. Später kam immer mehr soziales Engagement hinzu, von Sterbebegleitung, Trauerfeiern, seelsorgerischem Tun bis hin zur Unterstützung von Sekten- und Missbrauchsopfern, dem Aufsetzen und Betreiben von Blogs und Websites.
Wenn ich den Bodhisattva-Pfad, also die Schulung in großem Mitgefühl, verbunden mit Weisheit, und das Training in den „Sechs Vollkommenheiten“ ernst nehme, mich darin übe, wie kann ich mich dann nicht engagieren? „Mögen alle Wesen frei von Leiden sein!“ zu wünschen und dann nichts zu tun, das stimmt einfach nicht für mich. Und tatsächlich finden sich ja in den Bodhisattava-Nebengelübden viele Aktivitäten, die das Ziel haben, anderen auch temporär – also nicht nur auf dem spirituellen Pfad – zu helfen.
Für mich heißt das aber nicht, dass jemand, der ohne viel soziales Engagement primär den Dharma durch Studium, Nachdenken und Meditation verinnerlicht, Einsichten und geistige Freiheiten entwickelt oder anderen Dharma lehrt, anderen nicht nutzt. Das Geben von Dharma ist aus buddhistischer Sicht sogar das größte Geschenk, das man anderen machen kann, weil es zu langfristigen heilsamen Wirkungen beiträgt.
Den Nutzen anderer zu bewirken, geht aber voraus – so heißt es auch in den Kommentaren zu den Bodhisattva-Gelübden –, als Fundament zu lernen, aufzugeben, anderen zu schaden und stabile innere Qualitäten und Einsichten zu entwickeln. Ansonsten läuft das Engagement Gefahr, zum Ego-Trip zu werden, an den Bedürfnissen und der Realität anderer vorbeizugehen, und egozentrische Motivationen oder gar Missbrauch könnten es unheilsam werden lassen.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 120: „Lebendiger Buddhismus"
Hier muss jeder ehrlich und selbstkritisch prüfen, wo er oder sie steht, welche Motivationen und Geisteshaltungen sie oder ihn antreiben.
Wichtig erscheint mir, eine Mitte zu finden zwischen sozialem Engagement und geistiger Praxis – zu der auch der Rückzug gehört. Bezüglich des Helfens nennt Buddha vier Arten von Menschen und gewichtet wie folgt: Wer weder sich selbst noch anderen hilft, ist der Geringste. Wer anderen hilft, ohne sich selbst zu helfen, ist diesem überlegen. Hilft ein Mensch sich selbst, ohne anderen zu helfen, ist diese den beiden Ersteren überlegen. „Wenn ein Mensch sich selbst hilft und auch anderen hilft, ist er der Höchste; ein solcher Mensch ist der Beste.“ (AN 4.95)
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