Im Oktober 2019 fand die Kalachakra-Weltfriedenswoche mit dem tibetischen Meister Khentrul Rinpoche in Wien statt – eine Inaugenscheinnahme.
Tibet, New York und jetzt erstmals Europa. Unweit des Wiener Pratersterns, in einem großen Veranstaltungszentrum herrscht feierliche Betriebsamkeit in der buddhistischen Gemeinde. Es ist später Vormittag. Einige Menschen in bunten, traditionellen Gewändern arbeiten konzentriert und gewissenhaft, aus den Lautsprechern tönen Gebete. Es sind die letzten Arbeiten am Kalachakra-Mandala, einer dreidimensionalen Skulptur, die die innerste Wahrheit des Menschen darstellt. Die, die es aufbauen, werden Himmelstänzer und Himmelstänzerinnen genannt, Daka und Dakini auf Sanskrit. „Das dreidimensionale Kalachakra-Mandala ist etwas ganz Besonderes“, schwärmt eine Teilnehmerin, die den Aufbau still beobachtet, „es hilft, den Weg zum inneren Frieden verständlich zu machen.“
Ganze acht Monate hat die Herstellung dieses einzigartigen Mandalas in Anspruch genommen. Doch nun ist alles hier in Wien bereit. Zur feierlichen Eröffnung wird der tibetische Mönch und Schöpfer des Kalachakra-Mandalas, Khentrul Rinpoche, höchstpersönlich anreisen. Er ist ein Vertrauter des Dalai Lama, und seine Botschaft lautet: „Frieden in der Welt ist möglich.“ 250 Menschen aus zwanzig Nationen sind zu diesem Friedensfest nach Wien gekommen, sogar Buddhisten aus der Mongolei und Südafrika sind angereist, um die Unterweisungen der Kalachakra-Lehren und die Einweihung durch Khentrul Rinpoche mitzuerleben. Denn wer hier bei dieser Zeremonie dabei ist, bekommt auch die Ermächtigung, sich auf den Weg zu machen, also das Kalachakra zu praktizieren. „Es ist eine Anleitung für das eigene Wohl und das Wohl der anderen“, erklärt Martin Schaurhofer von der österreichischen Buddhistischen Religionsgemeinschaft.
Das Mandala ist eine symbolische Darstellung dessen, was im Buddhismus als Buddha-Natur bezeichnet wird, also die innerste Wahrheit des Menschen.
Es zeigt den Weg zur erleuchteten Realität. „Als Leitfaden auf dem Weg zur Glückseligkeit“, bezeichnet es Martin Schaurhofer, weil damit jeder erkennen kann, „welch großes Potenzial an Frieden in jedem von uns liegt.“
Endlich ist es so weit. Die große Zeremonie beginnt. Khentrul Rinpoche sitzt in einer leuchtend roten Robe auf der Bühne, flankiert von zwei Mönchen. Um sie herum sind geschäftige Dakinis in ihren farbenfrohen Gewändern zugange. Sie tragen Perücken aus langen schwarzen Haaren, ihre Gesichter sind von vielen kleinen Schnüren bedeckt, man kann ihre Augen nicht erkennen. Der Rinpoche spricht Gebete, gibt Unterweisungen auf Tibetisch und Englisch, die dann unter anderem ins Deutsche und Ungarische übersetzt werden. Er strahlt eine große Ruhe aus und hat, so wie der Dalai Lama, auch immer wieder einen Scherz auf den Lippen. „Das Kalachakra von so einem hohen tibetischen Meister zu erfahren, ist eine einmalige Chance in Wien“, schwärmt eine Teilnehmerin.
Jeder, der zu dieser Zeremonie gekommen ist, hat ein Buch im Schoß, in dem der Ablauf genau mitverfolgt werden kann. Khentrul Rinpoche selbst liest seine Texte immer wieder von einem iPad ab. Er erklärt die verschiedenen Ebenen der Buddha-Natur, dann spricht er Gebete, manchmal alleine, dann wieder gemeinsam mit allen anderen. Alle im Raum hängen an seinen Lippen. Sie sitzen aufrecht, viele haben die Hände vor der Brust gefaltet und lauschen andächtig.
Im Zentrum: das Mandala. Es hat die Form eines quadratischen tibetischen Palastes und besteht aus drei Ebenen, jede hat ihre eigene Symbolik. Die erste Ebene stellt den Köper dar und ist am größten, darüber eine Versinnbildlichung der Sprache und ganz oben, im dritten Stockwerk, der Geist auf dem Weg zur Erleuchtung. „In diesem Palast wohnen 636 Gottheiten, die die unterschiedlichen Aspekte der groben sowie subtilen Erfahrungen im Leben repräsentieren“, erklärt Schaurhofer, „wir finden diese in Form von kleinen Figuren um den Palast angeordnet.“ Das Mandala ist eine Meditationshilfe, die den Meditierenden helfen soll, die verschiedenen Gottheiten zu visualisieren und damit den Weg zur Erleuchtung beziehungsweise zur Glückseligkeit zu erfahren.
Und viele hier sind ganz offensichtlich beseelt von der Zeremonie, an deren Ende es die Möglichkeit gibt, persönlich von Rinpoche einen Segen zu empfangen. Es bildet sich eine lange Menschenschlange vor der Bühne. Viele haben Tücher in der Hand, warten geduldig, bis sie an der Reihe sind. Mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen nehmen sie dann die Segnung entgegen. Es ist ein farbenprächtiges und ehrfürchtiges Ritual. „Der Segen bedeutet sehr viel für mich“, meint eine der Teilnehmerinnen sichtlich gerührt. Rinpoches Lehre und somit die Glückseligkeit und der Frieden sollen auf diese Weise nämlich auch an die Welt übertragen werden.
Den großen Abschluss bildet schließlich ein feierlicher Festzug vom Praterstern zum nahe gelegenen Donaukanal. Rinpoche führt die feierliche Prozession an, Dakinis, Dakas und alle anderen Teilnehmenden folgen ihm mit brennenden Räucherstäbchen durch den Sonntagabendverkehr zum Fluss. Rinpoche spricht Gebete, die Dakinis tanzen, und schließlich werden Teile des Mandalas aus Sand zusammen mit Blumen feierlich dem sanft strömenden Wasser übergeben, damit sich die Botschaft vom Frieden von Wien aus über den Kontinent verteilt.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 110: „Familienbande"
Fotos © Kalachakra Vienna/Chris Punzengruber/Gabriela