Die moderne Wirklichkeit orientiert sich an ein paar Leitlinien. Effizienz ist ein Schlüsselbegriff und eine Messgröße, die der koreanisch-deutsche Philosoph Byung-Chul Han seit vielen Jahren beobachtet.
In seinen Zeitdiagnosen beschreibt er eine Gesellschaft, die in der Beschleunigung des Alltags aus dem Takt zu geraten scheint. „Die Müdigkeitsgesellschaft“ war 2010 einer jener scharfsinnigen Essays, der der modernen Welt auch ein Gefühl von Sinnlosigkeit und Depression diagnostizierte und Han einem breiten Publikum bekannt machte.
„Eines Tages spürte ich eine tiefe Sehnsucht, ja ein akutes Bedürfnis, der Erde nahe zu sein. So habe ich den Entschluss gefasst, tagtäglich zu gärtnern.“ So beginnt das neue Buch dieses Philosophen. Es ist der Versuch einer Entschleunigung. Han schildert darin jene drei Jahre, die er nun schon in und mit seinem Garten verbracht hat. Er nennt ihn „Bi-Won“, was auf Koreanisch „Geheimer Garten“ bedeutet. Sommers wie winters gräbt und pflanzt er, kümmert sich um seine Gewächse. Während er das tut, meditiert und philosophiert er über Platon, Kant, Heidegger, Augustinus, Laotse, die Liebe, über Gegensätze und vieles mehr. Han findet, dass jede Pflanze ein eigenes Zeitbewusstsein hat. Er lernt zu staunen, erfährt, was Fürsorge bedeuten kann. Und er kommt zu dem Schluss: Die Erde ist schön, weshalb man sie schonen müsse.
Der Band ist in zwei etwa gleich große Abschnitte gegliedert. Im ersten bringt der Autor vor allem Lyrik in Beziehung zu seinem Garten. Er zitiert Schubert, Schumann, Hölderlin und Rilke. Der zweite Abschnitt ist in Tagebuchform gehalten. Als Leser ist man quasi unmittelbar bei der Gartenarbeit dabei: „Die Sonnenblumen, die ich diesen Frühling außerhalb des Gartenzauns gesät habe, blühen nun trotz gefräßiger Schnecken, die ihre Samen lieben. Diese Sonnenanbeterinnen umzäunen meinen Garten mit strahlendem Gelb.“ Der poetische Text wird durch Schwarz-Weiß-Illustrationen der Berliner Künstlerin Isabella Gresser ergänzt. Sie wirken wie die Negative zu diesem Text. Die Grundfarbe ist Schwarz, und auf ihr sehen wir in feinen weißen Linien die Pflanzen abgebildet, die Han beschreibt.
Im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ist dieses Buch durchgefallen: „Geschwafel“ hieß es. Ich sehe das anders und möchte eine Empfehlung aussprechen. Vor allem deshalb, weil wir hier eine zärtliche Annäherung an die Natur vorfinden, die zum Ausdruck bringt, dass alles Teil von ihr ist. Das Buch ist ein Sonett über die Kraft und Fülle der Erde, das sich vor Lyrik und Philosophie verbeugt. Eines ist sicher wichtig: Für die Lektüre sollte man sich ein wenig Muße gönnen. Nur wer Zeit mitbringt, dem gelingt es, in die Gedankenwelt Byung-Chul Hans einzutauchen.
Byung-Chul Han
Lob der Erde – eine Reise in den Garten
Ullstein 2018
160 Seiten
Print: 24,00 €, E-Book: 22,99 €