Wolfgang Seifert war Berufsmusiker, als er vor mehr als dreißig Jahren an einem Vipassana-Kurs teilnahm und kurz darauf seinen Beruf aufgab. Seither widmet er sein Leben dieser Übung und der Verbreitung der dazugehörigen Lehre. Er lebt bescheiden, manchmal nur in seinem Wohnmobil, und glaubt an die Radikalität der buddhistischen Lehre, die die größte Herausforderung in seinem Leben ist.
Seit mehr als zwanzig Jahren kommen Sie ins Waldhaus und leiten hier Meditationskurse. Ich weiß, dass die buddhistische Übung und Praxis Ihre Lebensaufgabe darstellt. Wie kam es, dass Sie diesen Weg gewählt haben?
Vor dreißig Jahren hat die Begegnung mit dem Meditationslehrer Dhiravamsa mein Leben völlig umgestellt. Ich war Berufsmusiker, doch weil ich die Vipassana-Meditation kennenlernte, habe ich ein halbes Jahr später meinen Beruf ganz aufgegeben, um mich für die Übung, für Klöster und Reisen nach Asien freizumachen. Das Feuer für die Meditation hatte mich völlig erfasst.
So zu leben ist sicher nicht einfach. Hatten Sie nie Sehnsucht nach einem normalen bürgerlichen Leben?
Ich habe oft Rückschau gehalten, doch ich habe nie auch nur den Hauch eines Bedauerns verspürt. Die Entscheidung, diesen Weg zu gehen, kam so klar und tief in der Meditation, dass nie Zweifel auftraten.
Sie leben ja sehr bescheiden und ich habe gehört, dass Sie in den letzten Monaten nur noch im Wohnmobil leben und das scheint Ihnen auch noch sehr zu gefallen. Hat das auch etwas mit Ihrem buddhistischen Weg zu tun?
Ich glaube, ich hätte mit oder ohne Buddhismus dieselbe Freude daran. Ich habe Zigeunerblut und für europäische Verhältnisse lebe ich sehr einfach. Ich bin nicht obdachlos, aber zurzeit lebe ich nur im Auto und habe nicht das geringste Ansinnen, irgendwo eine Wohnung zu suchen (lacht).
Buddhistische Mönche leben ja auch in der Hauslosigkeit. Hatten Sie jemals den Wunsch, als Mönch zu leben?
Nein, den hatte ich nie. Manchmal habe ich darüber nachgedacht und zeitweise habe ich mich einer solchen Disziplin in Klöstern oder Ashrams unterzogen. Doch ich glaube, dass ich zu stur oder eigensinnig bin, um mich für mein ganzes Leben solchen Regeln zu unterwerfen. Im Grunde genommen bin ich doch mehr der frei fliegende Vagabund (lacht herzlich).
Sie haben ja auch einmal versucht, eine Ehe zu führen, und haben eine Tochter. Doch das Familienleben ging nicht gut.
Ja, das war schwierig. Doch ich habe jetzt eine gute Beziehung zu meiner geschiedenen Frau und zu meiner Tochter, die inzwischen zwanzig geworden ist. Doch das Hausleben war nicht so meine Sache (lacht).
Was ist für Sie das Besondere, das Feuer an der Vipassana-Meditation?
Für die Vipassana-Meditation sind die wichtigsten Punkte: Alles zulassen, im Körperlichen, Seelischen und Geistigen. Alles ohne Grenzen zulassen. Zweitens geht es darum, all das, was aufsteigt und entsteht, auszuhalten. Nur durch das Sehen allein ist noch keine Veränderung da. Doch im Aushalten, gerade in der Sitzmeditation, entsteht die Reinigung im Geist. Das Dritte bedeutet, dass aus dem Zulassen und Aushalten die Klarheit und die Einsicht entstehen, dass ES geschieht. Nicht wir sind die Täter, sondern die Verwandlung geschieht, das ist meine Erfahrung. Wie der Buddha sagt: „Die Tat gibt es, aber nicht den Täter."
Gehen Sie denn Ihren Weg, der von tiefer Selbstreflexion bestimmt scheint, allein oder haben Sie andere Lehrer oder Meister, die Sie begleiten?
Die ersten 15 Jahre war ich regelmäßig bei Dhiravamsa, doch zuletzt habe ich den Kontakt etwas verloren. Für mich ist seit Jahren einer der wichtigsten Lehrer Nisargadatta, der 1981 in Bombay gestorben ist und den ich nur aus Büchern kenne, doch er berührt mich immer wieder sehr tief, weil er in einer Radikalität lehrt, die meinem eigenen Ansatz entspricht. Er sagt z.B.: „Spiritualität ist kein Kinderspiel, wenn Sie diesen Worten lauschen, wie ich sie sage, werden diese Worte Sie zerstören." Er stellt alles infrage, was wir aus den Traditionen, aus Religion und Kultur mitbekommen haben. Wenn wir alles hinterfragen, dann werden die scheinbaren Sicherheiten infrage gestellt. Das Bodenlose kann sich öffnen und man muss den Mut aufbringen, sich da hineinfallen zu lassen. Daraus können allerdings auch Krisen kommen.
Vor einigen Monaten habe ich selbst eine große Krise überstanden. Ich wusste nicht mehr, ob ich für diese Meditation wirklich geeignet bin. Ich sah, dass die Radikalität dieser Lehre so einschneidend ist, dass ich glaubte, ich sei nicht fähig oder würdig, diesen Weg zu gehen. Ich zweifelte an mir selbst.
Ist die Lehre des Buddha wirklich so radikal?
Ja, für mich auf jeden Fall. Vor allem die Lehre von ‚anatta', vom Fehlen einer festen Persönlichkeit. Das bedeutet folgerichtig, dass es keinen freien Willen gibt.
Ist es nicht so, dass diese Lösung vom Ich das allerletzte Ziel eines langen Übungsweges ist?
Ich übe die Vipassana-Meditation schon über dreißig Jahre und ich sah, dass es Zweifel gab. Nicht an der Lehre, doch in Bezug auf die Umsetzung gab es eine Krise. Doch indem ich in die Krise hineingegangen bin und sie wie ein Feuer habe wirken lassen, hat sie sich wieder aufgelöst. Es erforderte den Mut, sich selbst infrage zu stellen und zu bemerken, dass es immer wieder neue Fragen gibt. Denen nicht auszuweichen, das ist einer der wichtigsten Punkte.
Ich kann sagen, dass für mich die Stille und die Verbindung mit dem Herzen sehr wichtig sind. Das Gefühlsleben wird ja in der Meditation extrem angesprochen. Viele Menschen weinen, gehen durch Verletzungen hindurch, die lange zurückliegen. Diese Aufweichung führt dazu, dass man immer mehr in die Geistesstille eintauchen kann.
Ich bewundere es, dass Sie den Weg allein gehen, doch ist es da nicht natürlich, dass dann auch solche Krisen auftreten? Sie scheinen allerdings nicht den Wunsch nach Begleitung durch andere Lehrer zu verspüren.
Nein, das muss ich korrigieren. Ich bin immer offen für alle lebendigen Begegnungen, die auch stattfinden, doch es war nie so, dass ich sagte, das ist jetzt mein Lehrer für eine unbestimmte Zeit.
Kann das auch daran liegen, dass in der Theravada-Tradition mehr Raum ist für den individuellen Weg als in anderen Richtungen?
Ich versuche, überhaupt keine Grenzen zwischen den verschiedenen spirituellen Wegen zu ziehen. Es ist eines meiner wichtigsten Anliegen, über die Grenzen der verschiedenen Religionen und Lehren hinwegzugehen und die Essenz der großen Lehren zu vermitteln.
Ich weiß, dass Sie auch hinduistische und christliche Wege beschreiten. Warum ist das für Sie wichtig und wie können Sie das mit der buddhistischen Lehre und Übung verbinden?
Ich begegne allen Religionen oder Philosophien mit Offenheit, um zu sehen, wie sie in ihrer Essenz eine Einheit bilden. Das Entscheidende ist nicht der Name, sondern die Essenz, die, so wie ich das sehe, immer gleich ist: die Auflösung des Ichs und die einfache Stille, wie Meister Eckhart es nennt.
Was gibt es Ihnen, eine Woche mit einer indischen Heiligen zu chanten oder an Ritualen teilzunehmen, wo gar nicht aus buddhistischer Sicht gelehrt wird? Mir würde das schwerfallen, doch Sie scheinen damit keine Probleme zu haben.
Doch, das ist für mich auch nicht so leicht. Gerade im Hinduismus werden ja die Dualität und das Göttliche sehr stark betont. Doch meine Offenheit ermöglicht es mir, das zu akzeptieren. Ich gehe gern zur hinduistischen Lehrerin Amma und da werde ich sehr berührt, eine Herzensöffnung findet statt und das ist das Wichtigste.
Ich bin den ganzen Jakobsweg gegangen und es ist mir egal, ob das aus der christlichen Tradition kommt. Das Äußere ist nicht entscheidend, es zählen die Begegnungen und Erfahrungen. Der Jakobsweg war für mich mit 2500 km die längste Gehmeditation meines Lebens (lacht herzlich).
Kann es vielleicht sein, dass in der Meditation, wie sie aus Asien zu uns kommt, nämlich vorwiegend still zu sitzen, etwas fehlt?
In meinen Kursen singen wir auch Mantren und spielen Musik und das bewegt die Menschen immer sehr und gibt ihnen eine Beruhigung des Geistes. Um dann aus der Stille, die nach dem Singen kommt, in die Übung des Vipassana zu gehen, um als Beobachter das zu sehen, was aufsteigt und was aus dieser Haltung heraus geschieht.
Soweit ich weiß, sind Sie jedoch in Ihren Kursen sehr strikt und fordern sehr lange Zeiten des stillen Sitzens. Sie bringen nicht allzu viele andere Elemente in die Übung ein.
Nein, gar nicht. Das Singen oder Tanzen ist nur ein kleiner Teil. Ich habe bei den Kursen ja elf Stunden Übung, wovon bis zu acht Stunden nur im stillen Sitzen verbracht werden, verbunden mit der Gehmeditation. Natürlich gibt es auch Gespräche, doch das stille, unbewegte Sitzen und das Schweigen bilden die Essenz der Vipassana-Meditation.
Damit erzeugen Sie ja einen gewissen Druck. Ist es nicht für manche Menschen schwierig, so viele Stunden zu sitzen? Ich erfahre, dass immer mehr Lehrer und Lehrerinnen verschiedene Übungen einbauen, um es den Menschen leichter zu machen.
Ich möchte das nicht als Druck bezeichnen. Eine Teilnehmerin sagte, dass die Disziplin des Kursleiters beispielgebend für alle sei. Deswegen bleibe ich auch bei den langen Sitzzeiten. Die Menschen dürfen sich auch bewegen, doch sie haben die Gelegenheit zu hoher Intensität der Übung. Mein Rahmen ist strikt und herausfordernd, weil es bei einem Kurs von mehreren Tagen durchaus an das Eingemachte geht.
Durch die Intensität öffnet sich der Geist für tiefere Erfahrungen.
Ich versuche, das weiterzugeben, was ich selbst durch das lange Sitzen erfahren habe. Ich versuche, das, was ich weitergebe, selbst zu leben und es scheint in der Resonanz auch so anzukommen.
Buddhistische Methoden verbreiten sich immer weiter, finden Eingang in Medizin, Therapie und in den Bereich Wellness und Entspannung. Finden Sie das gut oder sehen Sie darin die Gefahr einer Verwässerung der ursprünglichen Lehre?
Ich habe nichts dagegen, wenn die Methoden in das tägliche Leben aufgenommen werden, doch man sollte sie nicht in Verbindung mit der buddhistischen Lehre bringen, nur um Geschäfte zu machen. Man sieht es an der Werbung mit Buddha-Figuren und an verschiedenen Ankündigungen, die Glückseligkeit und Gelassenheit versprechen. Da bin ich strikt dagegen. Ich weiß aus der Praxis, dass es große Disziplin erfordert, um diesen Weg zu gehen, und vor allem den Mut, sich selbst so zu begegnen, wie man wirklich ist.
Ich bin kein Missionar, doch wer zu mir in die Kurse kommt und mit mir spricht, der hört die ganz klaren Aussagen der Lehre. Das ruft manchmal auch Widerstand hervor. Viele Menschen wollen das nicht hören und schon gar nicht leben. Für mich ist der Inhalt der buddhistischen Lehre die größte Herausforderung des Lebens.
Könnten Sie den tiefsten Inhalt dieser Lehre in wenigen Sätzen zum Ausdruck bringen?
Das ist erstens die Vertiefung in ‚anicca', in die Vergänglichkeit, in der das Leiden steckt und die folgerichtig zu ‚anatta' führt, denn wenn alles vergänglich ist, wie sollte es dann eine feste, unvergängliche Persönlichkeit geben? Wenn man das ganz tief versteht, dann stellt sich Verwandlung ein. Man sieht, dass ES geschieht und ich nicht mehr der Täter bin. Wir kommen aus unserer Egostruktur heraus und erkennen, dass wir in diesem unendlichen Zusammenspiel aller Kräfte ein Teil sind, der ununterbrochen in Verwandlung ist.
Ist das Ihre Definition von Erwachen?
Im letzten Kurs hat eine Frau gefragt, was eigentlich eine gute Meditation ist. Ich habe gesagt, das ist für mich ganz einfach zu beantworten, aber nicht leicht auszuführen: Wenn es dich nicht mehr gibt, dann hast du gut meditiert. Natürlich ist dein Körper da. Wenn jedoch dein Wille weg ist, deine Vorstellungen, deine Hoffnungen, deine Illusionen, dein vergangenes Wissen, wenn das alles nicht mehr da ist, dann bist du nicht mehr da und dann ist es eine wunderbare Meditation.
Die Menschen wollen meistens wissen, ob ihnen der Buddhismus hilft, ihr Leben besser zu bewältigen. Was ist für Sie die wichtigste Anwendung der Lehre im täglichen Leben?
Die Achtsamkeit ist sicher einer der wichtigsten Hinweise für unsere Praxis. Sie ist so wunderbar, weil sie für alle Menschen gilt, jenseits jeden Glaubens. Jeder kann beobachten, jeder atmet, jeder hat Gefühle. Der Buddha hat uns damit ein wunderbares Werkzeug gegeben, um tatsächlich in eine immer größere Freiheit hineinzuwachsen.
Man versucht, da achtsam zu sein, wo die Haftungen entstehen, aber sich nicht darin verstricken zu lassen. Doch das Wichtigste ist, diese große geistige Weite zu entfalten, auch Freiheit genannt, die als Gegenpol die Angst kennt. Wo sich Angst auflöst, wächst auf der anderen Seite im gleichen Maß die Freiheit.
Die Meditation, die wir üben, zeigt, dass wir Ängste haben, aber auch Wege, mit den Ängsten umzugehen. Wir lassen sie zu und halten sie aus und indem wir das tun, verringern sich die Ängste und das Maß der Freiheit steigt.
Gibt es noch etwas, wovor Sie Angst haben?
Ja, natürlich (lacht). Wenn ich jetzt die Diagnose einer schlimmen Krankheit erhielte, würde ich vermutlich mit den Knien schlottern. Doch im Moment könnte ich in meinem Leben keinen Punkt nennen, wo ich Angst hätte. Vergangene Ängste sind verschwunden. Das ist ein Prozess, der nicht aufhört. Ich sage immer: Meditation ist lebenslänglich. Vom Gericht wirst du vielleicht irgendwann begnadigt. Hier nicht, hier geht es bis zum Tod.
Oder bis zur endgültigen Freiheit.
Oder bis sonst wohin (Lachen).
Das Leben wird zeigen, wie weit wir sind und wo wir stehen, wenn wir den Mut haben, uns radikal ehrlich selbst zu begegnen. Dann sind wir nicht eingemauert in unsere Konzepte, dann sind wir lebendig in diesem Fluss der Vergänglichkeit, der sich unendlich wandelt.