Der österreichische Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier spricht im Interview mit Christina Klebl und Elisabeth Riedl über eine Jugend, die sich aus Individualisten, Pragmatikern und Sozialrealisten zusammensetzt.
U&W: Was sind die Herausforderungen für die Jugend?
Wir leben in einer Zeit, in der die Werte einem ständigen Wandel unterliegen und es immer weniger Fixpunkte gibt, die Halt und Kontinuität bieten. Jeder muss seine Position im Leben selbst finden und das ist eine lebenslängliche Aufgabe – denn es gibt keine biografische Gewissheit mehr.
Wer ist die Jugend von heute?
Sie ist pragmatisch, realistisch, am Vorteil orientiert und stellt sich selbst an die erste Stelle. Nach dem Motto: Was muss ich tun, damit ich bekomme, was ich möchte? Idealistische Werte finden wir noch am ehesten im Bildungsbürgertum, Pragmatismus hingegen gibt es in allen sozialen Schichten. Moral und Ethik sind nur ein Merkmal derer, die auf der Bildungspyramide oben angesiedelt sind. Sozial schwache Menschen können sich solche Tugenden schlichtweg nicht leisten und ersetzen sie durch das simple Kosten-Nutzen-Prinzip. Stellen sich also die Frage: Was habe ich davon, wenn ich etwas gebe?
Was ist das Erscheinungsbild der Jugendlichen?
Individualität ist angesagt – jeder muss sie sich selbst designen. Das Verwerfliche aber ist, dass es trotz dieser individualisierten Welt niemandem freisteht, so zu sein, wie er möchte, denn wir leben im Zwang der individuellen Freiheit. Heute kann man soziale Gruppierungen oft wieder mit dem Verhalten von ‚Stämmen’ vergleichen, denn sie organisieren sich wie diese und formieren sich zu kleinen Einheiten mit eigenen Symbolen, Codes und Ritualen. Nur die Mitglieder der eigenen Gruppierung zählen dann zu den wahren Freunden.
Wo sehen Sie die Perspektiven für die Jugend?
Die sehe ich sehr eingeschränkt, denn wir haben einen mittellosen Jugendanteil, der von Anbeginn seines Lebens beinahe gesellschaftlich ‚exkludiert’ lebt. Die, die dazu zählen, wissen das auch, sie haben einen erschreckenden Sozialrealismus, der beängstigend ist. Soziale Hierarchien werden immer bedeutender, Milieus klaffen weiter auseinander und Ungleichheiten werden immer deutlicher. Die Mittelschicht will sich definitiv über ihren Lebensstil von den sogenannten ‚Unteren’ abgrenzen – und das schaffen sie durch unkonventionelles Verhalten. Die schwächeren sozialen Gruppen hingegen definieren sich durch Ablehnung des unkonventionellen Lebensstiles der ‚Oberen’ und sehnen sich nach Konvention und Tradition.
Solche Rahmenbedingungen schaffen doch ein hohes Aggressionspotenzial? Wie äußert sich dieses?
Wir sind in hohem Maße zivilisiert und Gewalt kommt kaum noch vor. Zeigt sie sich einmal in ihrer Härte und Gnadenlosigkeit, sind wir geschockt und können es gar nicht glauben, dass solch ein Verhalten überhaupt in uns steckt.
Eine Möglichkeit, mit den Aggressionen umzugehen, ist Sport – wir verwenden gerne den Begriff ‚Versportung’ der Gesellschaft. Eine andere Möglichkeit stellt das Einnehmen von Drogen dar, die verschaffen jedoch nur kurzfristig Erleichterung und Beruhigung.
Was ist der heutigen Jugend wichtig?
An erster Stelle stehen immer die Freunde, danach kommen die Bereiche Bildung und Familie. In Umfragen sind gerade Freunde in den letzten 25 Jahren durch den Strukturwandel um 20 Prozentpunkte gestiegen. Leistungen, die bisher die Familien erbrachten, erfüllen nun die Freunde. Umso mehr sich also Eltern von ihren Kindern zurückziehen, umso mehr steigt die Wichtigkeit des Freundeskreises.
Woran glaubt die Jugend, was ist ihr religiöser Ansatz?
Auch hier kommt es zu einer Individualisierung, jeder bastelt sich seine eigene Religion zusammen – ein bisschen Hinduismus, ein bisschen Buddhismus und ein bisschen Bachblüten.
Wie wirken sich die harten Gesetzmäßigkeiten unserer Gesellschaft auf die Psyche junger Menschen aus?
Zu Freuds Zeiten war die typische psychische Erkrankung die Neurose, heute ist es die Depression. Junge Menschen müssen einfach gemütskrank werden, stehen sie doch auf einem freien Feld von Möglichkeiten, auf dem alles möglich zu sein scheint, und trotzdem kommen manche nicht vom Fleck.