Es braucht innere Ruhe, um die eigenen Gedanken und Gefühle wahrzunehmen. In einer Welt voller Lärm und digitaler Ablenkungen ist es daher wichtig, sich Orte der Stille zu schaffen.
Nichts wird von gestressten Menschen so sehr ersehnt wie Ruhe und Stille.
Der Grund dafür ist aber nicht, dass ihnen akustischer Lärm in den Ohren fiept, sondern, dass ihnen alles schlichtweg zu viel wird. Die Welt und die digitale Reizflut, die sie durchdringt, geht heute vielen Menschen an und auf die Nerven. Tatsächlich konsumieren wir heute täglich zwischen 30 und 40 Gigabyte an Daten, was etwa derjenigen Menge an Informationen entspricht, die ein Bauer im 18. Jahrhundert sein ganzes Leben aufnahm.
Die unzähligen Informationen, die wir heute tagtäglich mit unseren Sinnesorganen perzipieren, transportieren Botschaften und Nachrichten, wecken Bedürfnisse und schaffen neue Aufgaben und Verpflichtungen. Informationen werden dabei zur Grundlage von Wünschen und Hoffnungen, aber auch von Sorgen, Ängsten und gedanklichen Bewertungen, die lautstark durch den Schädel kreisen, die uns antreiben oder emotional aufwühlen und unruhig machen.
Die Informationslast kann nicht nur mental überfordern, sondern auch verwirren
Als Folge fällt es oft schwer, Entscheidungen zu treffen, da man sich zwischen vielen Optionen und Möglichkeiten hin- und hergerissen fühlt.
Jeder schreibt oder sagt etwas anderes. Was ist denn jetzt richtig? Das mediale Dauergeplapper erzeugt bei vielen Menschen Verwirrung. Es kann taub für die eigene innere Stimme machen, die Klarheit und Sicherheit schenkt.
Inwiefern kann Stille nun dabei helfen, wieder zu einer inneren Ruhe zu finden und Gewissheit zu erlangen?
Eine wichtige Funktion von Stille liegt bereits in ihrer Wortbedeutung: Der Begriff „Stille“ kommt nämlich ursprünglich von dem Wort „stellen“.
Stille bedeutet also, innezuhalten beziehungsweise sich für einen kurzen Moment unbeweglich zu machen. Etwas Ähnliches passiert übrigens, wenn eine Mutter ihren Säugling „stillt“. Stillen ist mehr als ein Füttern, sondern ein liebevolles „Ruhigstellen“ eines hungrig schreienden Kinds, das glückselig im Arm der Mutter seinen Frieden findet.
Auch im Erwachsenenalter stellt Stille etwas ruhig, und zwar die ganzen Stimmen, die unentwegt informieren, erinnern und auffordern.
Und auf einmal öffnen sich wieder die feinen Kommunikationskanäle zu einem selbst. Wir hören wieder unsere innere Stimme, die uns etwa mitteilen möchte, dass sie unserer eigenen inneren Wahrheit möglicherweise viel näher ist als die Meinungen, die uns ständig von außen einsouffliert werden. Stille Wasser sind nicht nur tief. Sie machen die Dinge auch wieder klar.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 130: „Stille"
Ein kleines Experiment kann helfen, um sich den Effekt der Stille auf einen verwirrten Geist vorzustellen
Nehmen Sie ein Glas Wasser, in das Sie etwas Sand und Erde einfüllen und das Sie mehrmals kräftig mit einem Löffel umrühren. Das Wasser färbt sich schmutzig.
Wenn Sie das Glas nun eine Zeit lang stehen lassen, sedimentiert der Sand am Boden, während das Wasser darüber wieder klar wird. Bald darauf hat man wieder den „Durchblick“.
Ähnlich verhält es sich mit den lauten und lärmenden Informationen, die wir tagtäglich in immer größerer Menge aufnehmen und die unseren Geist aufwirbeln.
Mit etwas Ruhe setzt sich alles wie der. Prioritäten werden deutlich, Unwichtiges rückt in den Hintergrund und Emotionen beruhigen sich. Dann macht sich ein Gefühl von Entspannung breit. Auf diese Weise führt uns die Stille zurück zu uns selbst.
In Zeiten der Stille, etwa wenn wir gemütlich durch ein Museum spazieren, in einer Kirche sitzen oder zu Hause eine halbe Stunde meditieren, wird die eigene, innere Stimme meist wieder hörbar. Wir können hinhören: Wonach ist mir gerade?
Der deutsche Philosoph Martin Heidegger schrieb einmal: „Stille ist ein Ort, in der Verborgenes Licht wird.“
Im Grunde ist Stille also eine Art Stillstand, bei dem viel in Bewegung kommt
Gedanken und Gefühle werden geordnet, eine neue Orientierung wird gefunden und der eigene Weg wiederentdeckt. Aus der neurowissenschaftlichen Forschung wissen wir heute, dass während der Stille im Gehirn spezialisierte Netzwerke aktiv werden, die diese Aufgaben vermutlich übernehmen.
Das Fehlen von Geräuschen führt also nicht zu einer geringeren elektrophysiologischen Aktivierung im Gehirn. Vielmehr ist es umgekehrt: Wenn es draußen leise wird, wird das Gehirn besonders aktiv.
Aktuelle Studien, etwa von Kirste, konnten kürzlich belegen, dass Momente der Stille sogar ein Wachstum neuer Nervenzellen in Gang setzen. Insbesondere im Hippocampus, dem Ort unserer Orientierung und Gedächtnisleistung, entstehen neue Nervenzellen, wenn man zur Ruhe kommt.
Stille mag sich zunächst unangenehm anfühlen, erst recht, wenn man sie nicht gewohnt ist.
Denn einerseits kann das Wegfallen von Gesprächen, Musik oder an derer Unterhaltung regelrecht Entzugssymptome verursachen.
Und andererseits können in der Stille auch unschöne Gedanken und Gefühle aufsteigen. Solange wir Informationen konsumieren, bleiben sie im Hintergrund. Aber im Vakuum fehlender Ablenkungen drängen sie plötzlich ganz nach vorn.
Der österreichische Schriftsteller Ernst Ferstl schrieb einmal: „Die Stille zieht Gedanken an, die der Lärm verjagt.“ Dann schrecken wir vielleicht vor der Stille zurück, um nicht mit unschönen Gedanken und Gefühlen konfrontiert zu werden.
Das ist auch der Grund, warum viele Menschen heute ein ständiges kommunikatives Grundrauschen um sich herum brauchen.
Die äußere Reizflut verhindert, in möglicherweise schmerzvolle Innenwelten abzugleiten. Aber damit erweisen wir uns einen Bärendienst: Wir berauben uns wichtiger Momente der Klarwerdung und des persönlichen Wachstums, wenn wir uns mit einer Ablenkung nach der anderen betäuben. Stattdessen werden wir abhängig vom Informationskonsum. Der Kontakt zum eigenen Selbst bricht ab, und im Lauf der Zeit erfolgt eine zunehmende Entfremdung von sich selbst.
Es ist wichtig, immer wie der stille Momente im Leben zuzulassen, auch wenn dies anfangs schwerfallen mag
Kappen Sie mutig die digitale Nabelschnur, die Sie permanent mit Informationen versorgt.
Schalten Sie etwa Ihr Smartphone aus, wenn Sie im Café sitzen und Menschen beobachten.
Verzichten Sie auf das Hören eines Podcasts, wenn Sie einen Waldspaziergang machen.
Lassen Sie Ihre Aufmerksamkeit frei umherschweifen.
Die geringere Ablenkung von Reizen wird neue Wahrnehmungsräume eröffnen. Vielleicht machen Sie eine spannende Beobachtung, die Ihnen sonst gar nicht aufgefallen wäre?
Mit etwas Glück und Übung kann nach einiger Zeit wieder die innere Stimme gehört werden. Sie äußert sich meist durch ein Bauchgefühl in Form eines feinen Gespürs.
Falls Sie gerade vor einer wichtigen Entscheidung stehen und sich über das eine oder andere in Ihrem Leben im Unklaren sind, gewinnen Sie auf diese Weise möglicherweise wertvolle Erkenntnisse: Was ist der richtige Weg für mich? Wie möchte ich es machen?
Stille ist also zusammengefasst weitaus mehr als akustische Ruhe
Es ist die Freiheit von Denk- und Gefühlsimperativen, die uns die Außenwelt permanent einimpft. Der Kopf wird frei, wenn man sich nicht ständig von außen verführen, ermahnen, maßregeln oder anderweitig aufwirbeln lässt. Dann setzt sich der ganze Schmutz an Informationen endlich am Boden ab und gibt den Blick darüber wieder frei, so wie in dem Experiment mit dem Glas Wasser.
Es ist hilfreich, täglich für einige kurze Momente Stille aufzusuchen und auszuhalten, insbesondere nach Stunden, die laut, voll und geistig besonders anstrengend waren. Ein Ort, an dem es akustisch einigermaßen ruhig ist, eignet sich gut für solche Momente. Das „stille Örtchen“ muss nicht die Toilette sein. Das Flussufer in der Nähe, der Waldabschnitt vor der Haustür oder der Wintergarten und Balkon sind schöne Plätze hierfür.
Die Dinge zur Ruhe kommen lassen, den aufgewirbelten Sand im Gehirn sedimentieren und so Sandkorn für Sandkorn Klarheit zurückgewinnen. In der Bibel heißt es im Matthäusevangelium, Kapitel 11, Vers 29: „Ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen.“
Genau darum geht es: um die Ruhe in uns. Das hat weit weniger mit äußeren Bedingungen zu tun, sondern viel mehr mit der Bereitschaft, Stille zu suchen und sie zuzulassen.
Selbst in einer Welt, in der alles in ständiger Bewegung ist, dürfen wir einmal alles still stellen, damit wir uns erholen und wieder Kraft tanken können, damit unsere Wunden heilen und damit frische Motivation für etwas Neues entsteht. Je schnelllebiger die Welt wird, in der wir leben, und je drängender die Probleme sind, die wir lösen müssen, desto größer wird die Notwendigkeit gelegentlicher Stille. Es wäre wünschenswert, uns gegenseitig an ihren kostbaren Wert zu erinnern und sie uns gegenseitig zu erlauben beziehungsweise zuzugestehen.
Der deutsch-französische Maler und Lyriker Hans Arp sagte einmal: „Einst wird man von der Stille wie von einem Märchen erzählen.“ Als Psychiater und Neurowissenschaftler würde ich vorschlagen, wir lassen es niemals dazu kommen.
Illustration © Ursache\Wirkung
