Kaum Ablenkung, wenig Konsum, dafür Gemeinschaft und der Blick aufs Meer. Ein Lieblingsort unseres Autors.
Nachdem ich im vergangenen Jahr von Kassel nach Münster umziehen musste, um dort mein 13-jähriges Kind zu versorgen, das gerade seine Mutter verloren hatte, suchte ich in diesem für mich noch fremden Umfeld nach einem Ort, der für mich Oase der Stille und Auszeit sein könnte. Und für Treffen mit Menschen, die eben das auch suchen. Und fand ihn: in einem Hotel auf dem Deich, nicht weit von Bremerhaven.
Heute bin ich nun zum sechsten Mal hier. Für mich ist dies ein perfekter Ort zum Relaxen und für den immer wieder neuen Blick auf meinen Alltag. Der ja, wie das mit den Alltagen eben so ist, immer die Tendenz hat, sich aus Routinen aufzubauen, die einerseits Halt geben, andererseits aber auch zu einem Gefängnis werden können.
Heute bin ich jedoch nicht privat hier, sondern um ein Seminar zu geben. Dieses Hotel auf dem Deich mit dem weiten Blick in die Unendlichkeit des Meeres ist ein guter Ort auch für mehrtätige Retreats und Seminare, die das Einsinken in die Stille umkreisen, denn das Haus selbst sorgt schon durch seine Struktur für Einkehr. Es bewirkt ein Ankommen bei sich selbst, im Wesentlichen, in der Stille.
Meine Schuhe habe ich schon am Eingang abgelegt und gehe nun barfuß die Marmortreppe hoch, Fuß vor Fuß setzend, so wie ich es in der Gehmeditation mit Thich Nhat Hanh (1926–2022) erlebt habe. Still küssen meine Füße den Boden unter mir, ohne Eile, eher so, als müsste ich nirgendwohin, denn hier, wo ich bin, ist es gut. Wer mir auf dem Gang oder der Treppe begegnet, ist meist still, ganz bei sich oder lächelt mich an. Keine Worte, nicht einmal ein Gruß, aber wir nehmen einander wahr.
Blick aufs Meer und keine Ablenkungen
Im Zimmer angekommen, umfängt mich wieder dieser sakrale Raum der Einfachheit. Kein Fernseher, fast keine Bilder an der Wand. Ein paar schlichte Möbel aus Eichenvollholz strukturieren den Raum: Hocker, Tisch, Bett und eine Kommode zur Ablage. Große Fenster mit Blick aufs Meer oder ins weite Land. Kein Autolärm, keine Ablenkung, nur Stille.
Ich lege meine Sachen im Zimmer ab und gehe dann in den dritten Stock hoch zur Meditation, die hier sechsmal am Tag angeboten wird, jeweils für eine halbe Stunde. Einer vom Hausteam schließt dazu pünktlich die Tür von innen und schlägt dann dreimal die große Klangschale an. Mit jedem Verklingen dieses einen Tons tauche ich wieder ein in das, was dieses Haus so kostbar macht: die Stille in einem geschützten Raum. Gemeinsam mit anderen, die das ebenso schätzen. Auch wenn wir in der Stille dies oder das durchmachen, damit im Prozess sind, vereint uns doch die Gemeinsamkeit dieser Praxis, zu der dieses Haus so offenherzig einlädt.
Blick ins Unendliche
Im Mai 2022 war ich zum ersten Mal hier. Elf Tage lang hatten wir vom Bachelor of Being, einem gemeinschaftlichen Orientierungsprojekt für junge Erwachsene, das Haus ganz für uns. Da wurde es manchmal auch laut – wenn 24 Menschen im Alter von um die 20 fast zwei Wochen unter sich sind, ist das unvermeidlich. Zwischen dem Tanzen, Singen, Jubeln und Klagen kehrten sie aber auch in die Stille ein, manche hier zum ersten Mal.
Der Blick aufs Meer half dabei: Wasser, so weit das Auge reicht. Die vom Wind bewegten Wellen in permanenter Veränderung sind Teil des großen Ganzen. Aus dem Meer ist alles Leben entstanden, und auch wir Menschentiere, die nun von hier oben auf dem Deich in die Unendlichkeit des Wassers und des Himmels schauen, versuchen dabei, dem Trubel und Lärm der Welt zu entkommen und in das einzutauchen, was sich nicht bewegt.
Bei einem Aufenthalt erzählte mir der Hotelier Oliver Scheit, wie die Idee zu diesem Klosterhotel nach einem Aufenthalt in Thich Nhat Hanhs Plum Village zu ihm kam, er daraufhin das Konzept ersann und nach einem Ort suchte, wo er es verwirklichen konnte. Als er es dem Inhaber der Upstalsboom-Hotelkette Bodo Janssen vorstellte, sagte dieser auf Anhieb zu. Nach zwei tiefgehenden Schocks in seinem Leben hatte Janssen durch Anselm Grün im Benediktinerkloster Münsterschwarzach die Stille entdeckt und daraufhin sein Leben umgekrempelt.
Auch die Teamer, die das Haus instand halten und die Gäste versorgen, sind Meditierende. Sie empfangen die Gäste, bereiten und reinigen die Zimmer, waschen die Wäsche, helfen in der Küche und erledigen, was solch ein Haus sonst noch alles braucht. Auch bei den geführten Meditationen jeden Tag um zwölf Uhr mittags wechseln sie sich ab und führen, jeder ein bisschen anders, mit Worten in die Stille.
Tischgespräche
Dreimal am Tag treffen sich die Gäste zum Essen. Wer nicht am Stille-Tisch sitzt oder das rote Band umgehängt hat, das „Ich bin im Schweigen“ signalisiert, ist dann meist in die Tischgespräche eingebunden. Das ist kein Small Talk, hier spricht niemand nur, um sich wichtig zu machen. Im Nullkommanichts entstehen vertraute Gespräche unter Menschen, die sich gerade erst kennengelernt haben. Dabei lachen wir viel und empfinden die ausgetauschten Gedanken und Erfahrungen der anderen als so wertvoll, dass wir sie gerne in unsere Solozeit mitnehmen.
Immer wieder habe ich dabei das Gefühl: Das hier ist eine echte Sangha, eine Gemeinschaft. Niemand muss dazu Buddhist werden. Das Haus ist transreligiös, religiöse Symbole findet man hier nirgends. Aber das Miteinander in der Stille und bei den Tischgesprächen verbindet die Menschen so sehr, dass mir dabei das „Sangham saranam gacchami“ in den Sinn kommt, das ich in meiner Mönchszeit in Thailand mitgesungen habe. Dieses Miteinander der Menschen auf dem Weg entsteht, weil wir uns in der Tiefe miteinander verbinden. Wir teilen uns ebenso unsere Ängste und Sehnsüchte mit wie auch das innere Glück, mit sich und der Welt in Frieden zu sein.
Transformationen innen und außen
Mit der Welt in Frieden – wie soll das gehen, wo es gerade wieder so viele Kriege gibt? Dass das Hotel dort oben auf dem Deich überhaupt stehen darf, hat einen Grund. Kein anderes Haus darf dort stehen oder bekommt eine Baugenehmigung, schon gar nicht ein Hotel. Dort stand aber am Ende des Zweiten Weltkriegs ein Bunker als Unterbau für eine Kanone, die die Einfahrt zu dem großen Handelshafen an der Wesermündung vor den heranrückenden Alliierten schützen sollte.
Nur weil es diesen Bau als Fundament schon gab, durfte dann darauf das Hotel Deichgraf errichtet werden, der Vorläufer des Hotels Upleven. Aus Schwertern können Pflugscharen werden, aus einer Einrichtung des Militärs wurde das Haus der Stille, in dem Menschen Frieden finden. Frieden mit sich selbst, sodass sie sich nicht in unnötige Konflikte hineinziehen lassen. Innerer Frieden ist die beste Voraussetzung auch für äußeren Frieden.
Mit der Natur sein
Auch noch zu einem anderen Frieden lädt dieses Haus ein, dem Frieden mit der Natur. Vor unseren Augen sehen wir zwar die Containerschiffe passieren, die deutsche Autos in die Welt exportieren – Bremerhaven ist der weltgrößte Umschlagplatz für Neuwagen. Andere Schiffe bringen uns jeden Winter Früchte von der Südhalbkugel. Im Upleven aber deutet nichts auf Konsumförderung hin.
Es gibt hier keine Medien und in der Bibliothek nur wenige ausgewählte Bücher. Mittags und abends steht nur ein einziges gesundes und leckeres Essen auf dem Tisch. So muss die Küche nicht für zig per Karte bestellbare Gerichte frische Nahrungsmittel bereithalten, die, wenn nicht bestellt, weggeworfen werden. Außerdem ist das Essen vorwiegend vegetarisch. Nur zum Frühstück bietet das Büfett auch etwas Lachs und Fleisch.
Für uns, die wir in der Überflussgesellschaft leben und auf Konsum getrimmt sind, erhalten wir durch diese Reduktion auf das Wesentliche einen Zugang zu Werten, die fast verloren gegangen sind: Liebe, Trauer, Dankbarkeit und das stille Glück, einfach da zu sein. Wer hierherkommt, weiß das zu schätzen.
Das Wort „upleven“ ist Plattdeutsch für „aufleben“. Das Upleven, auf dem Deich bei Wremen, etwa 20 Kilometer nördlich von Bremerhaven gelegen, ist ein Hotel für Zeit in Stille. Früher einmal Hotel Deichgraf, gehört es jetzt zur Upstalsboom-Hotelkette von Bodo Janssen. Seit 2020 ist es eine Mischung aus Kloster und Hotel und als solches ein Unikum. www.upleven.de
Bilder © Wolf Schneider