26 Tage in einem komplett abgedunkelten Raum. Um Klarheit und Ruhe zu finden und ihr wahres Selbst zu entdecken, geht die Autorin in ein Dunkelheit-Retreat. Bericht über eine ungewöhnliche Erfahrung.
Viele Menschen fürchten die Dunkelheit. Für mich ist die Dunkelheit eine Lichtbringerin, so paradox es klingen mag. Die Einkehr im Dunkelraum half mir, sehen zu lernen, erlaubte mir, meinen Blick komplett nach innen zu richten und mich mit den zentralen Fragen des Lebens zu beschäftigen: Wer bin ich? Wo komme ich her? Was ist meine Aufgabe? Dreimal habe ich diesen Weg für mich gewählt, das letzte Mal für 26 Tage am Stück. Wenn ich von einem Dunkelretreat spreche, meine ich damit einen Aufenthalt in einem komplett abgedunkelten Raum. Darin stehen nur ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl und ein kleiner Schrank. Die Fenster im Raum und im angrenzenden Bad sind abgeklebt. Ablenkungen wie Handy, Laptop oder Fernseher gibt es nicht. Ich werde zwangsläufig auf mich zurückgeworfen. Alles fing mit einem Artikel in einer Zeitschrift an, in dem es um Licht- und Gotteserfahrungen ging. Irgendetwas daran hat mich berührt. 2003 habe ich das Dunkelretreat dann erstmals ausprobiert – mit jeder Menge Angst im Gepäck. Aber genau darum geht es: sich den Ängsten zu stellen. Dabei erkannte ich, dass nicht die Dunkelheit das Problem war, sondern eine tief sitzende Angst, die ich auf die Dunkelheit projiziert hatte.
Diese Form der Innenschau ist aus dem tibetischen Kulturkreis bekannt. In den Dzogchen- und Kalachakra-Linien des tibetischen Buddhismus und in der Bön-Tradition gehört der Rückzug in den Dunkelraum zu den fortgeschrittenen Praktiken. Die Mönche bleiben über Tage, Wochen, Monate oder Jahre in der Dunkelheit, um ihr Bewusstsein zu erweitern und auf einer höheren Stufe zu konsolidieren. Als sich zum ersten Mal die Tür meines Dunkelraums schloss, fing ich an zu meditieren. Mein Sehsinn zog sich zurück, und die anderen Sinne traten in den Vordergrund. Spannend war, dass ich zu Beginn keine Stille wahrnahm. Im Gegenteil! Ich erlebte, wie viel Lärm in mir ist, wie viele Gedanken täglich durch meinen Kopf ziehen. Gleich einer zehnspurigen Autobahn, wo ohne Unterbrechung ein Auto nach dem anderen vorbeirauscht. Nach einiger Zeit gelang es mir, die Gedankenschicht zu durchbrechen und in die Bereiche darunter zu gleiten. Hier fand ich tiefe Ruhe und Stille. Frieden.
Gespräche gegen die Angst
Die Zeit in der Dunkelheit war herausfordernd, tief berührend und bezaubernd schön zugleich. Ein wichtiger Anker waren die täglichen Gespräche mit meiner Psychologin. Diese versorgte mich auch mit Getränken, während ich fastete. Sie kam einmal am Tag für eine Stunde vorbei und half mir, meine Erfahrungen einzuordnen, meine Träume zu verstehen und meine Ängste zu integrieren.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung № 124: „Frei Sein!"
Gerade in meinem ersten Retreat hatte ich Angst, dass ich sterbe, Geister sehe oder verrückt werde. Meine Erfahrung mit der Inneren-Kind-Arbeit und die gemeinsamen Gespräche halfen mir, durch die Angst hindurchzugehen und sie zu transformieren. Die Dunkelheit brachte mich in einen tiefen Kontakt mit dem Selbst, mit dem Kern. Diese Verbindung balancierte mich neu aus, heilte meinen Körper. Ich gewann an Klarheit und Selbstsicherheit. Lange wusste ich nicht, was meine Aufgabe in diesem Leben ist. Jetzt weiß ich: Ich bin hier, um Licht in die Dunkelheit zu bringen und zu heilen. Aber ich musste erst selbst heilen, um andere Menschen in den Herausforderungen ihres Lebens hilfreich begleiten zu können. Spätestens, wenn mein nächster innerer Entwicklungsschritt ansteht, gehe ich wieder in den Dunkelraum – dann für 49 Tage.
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