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Leben

Auf einem Retreat im ehemaligen Konzentrationslager Ravensbrück wird der dort ermordeten Frauen gedacht. Das Lesen ihrer Namen soll sie in Erinnerung rufen, dem Unrecht ein Gesicht geben, Trauer und Entsetzten Platz gewähren und Widerstand zum Ausdruck bringen.

Ein Morgen im ehemaligen Konzentrationslager für Frauen in Ravensbrück. Wir sind auf einem Retreat, um in Stille und Meditation der Opfer zu gedenken. Mit einigen Personen stehe ich in dem engen Raum, wo das Buch der Namen liegt. Dieses riesige Buch mit den schweren, laminierten Seiten enthält die Namen der Frauen, von denen bekannt ist, dass sie im Konzentrationslager ermordet wurden.
Eine Person beugt sich über das Buch, eine kleine Glocke in der Hand. Die anderen sind stumm und lauschen. Ein Name wird gelesen mit der Nationalität, dem Geburts- und Todesdatum – soweit bekannt. Dann ertönt der helle Ton der kleinen Glocke. Die Fenster sind offen, noch ist es kühl, die Hitze des neuen Tages kündigt sich an.
Die Tage des Gedenkens sind inspiriert von den Auschwitz-Retreats der Zen Peacemaker und den Meditationstagen von Sylvia Wetzel. Täglich sind Zeiten der Stille und Meditation auf dem ehemaligen Gelände des Lagers Ravensbrück vorgesehen. Kreisgespräche bieten einen sicheren Raum, um die Erfahrungen und das, was die Teilnehmenden bewegt, zu teilen. Das Retreat findet teilweise im Schweigen statt.

Jeder Name ist eine ganze Welt.

Die Menschen, deren Namen wir lesen, waren im Konzentrationslager unvorstellbaren Qualen ausgesetzt: Hunger, Durst, unbehandelten Krankheiten, schwerster körperlicher Arbeit, grausamer und willkürlicher Gewalt und stets drohenden Strafen. Es gab Gefangene, deren Körper für medizinische Experimente verstümmelt und vergiftet wurden. Nur wenige überlebten. Sie berichteten von unvorstellbaren Schmerzen.
Es ist schwer, dort zu stehen und die Namen zu hören, auch wenn dies mein eigener Entschluss ist. Trotzdem fühlen sich Arme und Beine bleiern an. Trotzdem tut manchmal der ganze Körper weh.
Das Lagerleben war gekennzeichnet von Regeln, die bei Überschreitung brutal bestraft wurden und jegliche Entspannung verhindern sollten: stundenlanges Stehen beim Appell in Kälte, Hitze, Nässe. Alle Möglichkeiten, sich auszuruhen, wurden den Menschen verwehrt.
Der Kopf steht nicht still, während ich den Namen lausche, er versucht schnell, das Alter der Ermordeten zu erfassen, zwanzig Jahre, 54 Jahre, wenige Monate, ein paar Tage nur. Auch Kinder wurden getötet, sie starben an Hunger oder weil ihre Mütter verhungerten. Fassungslosigkeit und Entsetzen.

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Die SS und die Aufseherinnen entwickelten ein perfides System, die Gefangenen auf allen Ebenen zu verletzen. Sie wollten die Person zerstören und gleichzeitig deren Arbeitskraft ausbeuten. Das begann schon beim Betreten des Lagers mit Demütigungen.
Die Aufseherinnen verweigerten den Frauen jegliche Individualität, nicht einmal ihren Namen durften sie tragen. Den Frauen wurden die Haare geschoren, sie mussten sich mit einer ihnen zugeteilten Nummer melden. Sie sollten unterschiedslose „Sträflinge“ werden.
Ich lausche der Glocke, den Namen und Daten – in dem Wissen, dass nur ein Bruchteil der Ermordeten heute namentlich bekannt ist. Die SS hat vor der Aufgabe des Lagers noch versucht, alle Aufzeichnungen über die gefolterten und ermordeten Menschen zu vernichten.
Immer wieder haben Gefangene es geschafft, unter Lebensgefahr Listen von Namen aus dem Lager zu schmuggeln oder sich trotz der unglaublich langen Zeit des Grauens an Namen zu erinnern. Jeder Name, den ich höre, steht auch für diese unglaubliche Kraft.
Jeden Morgen, vor der Meditation, stehen wir hier und lesen Namen, weniger als dreißig Minuten lang, die sich unendlich auszudehnen scheinen. Jeder Name ist eine ganze Welt. Ich will hinaus an die frische Luft. Mein Verstand gibt auf, und ich stehe da und begreife diese Ungeheuerlichkeit nicht.

Ich will Unrecht benennen, Trauer und Entsetzen zulassen und nicht wegschauen.

Die Gefangenen mussten für die Rüstungsindustrie und die SS arbeiten. Willkürliche Bestrafungen und ein hoher Akkorddruck setzten ihnen zu. Wer das Pensum nicht erfüllte, den traf zügellose, mörderische Gewalt und der Entzug des sowieso nicht ausreichenden Essens. Eine französische Überlebende erinnert sich, dass sie vor lauter Arbeit nicht einmal mehr die Kraft hatte, an ihre Familie zu denken, die ihr so viel bedeutete.
Und doch erinnern sich viele Überlebende des ehemaligen Frauenkonzentrationslagers an die Solidarität und gegenseitige Fürsorge im Lager, die ihnen auch von Helfenden unter Lebensgefahr entgegengebracht wurde.
Ich gehe zum aufgeblätterten Buch und übernehme die Glocke. Eine große Klarheit erfüllt mich. Die Schwere der Situation ist nicht mehr wichtig. Ich fühle mich geehrt, all diese Namen laut lesen zu dürfen. Ich spüre eine große Verbundenheit zu der Welt, in die ich die Namen, begleitet vom Klang der kleinen Glocke, hinausschicke.
„Erinnere dich an deinen Namen“, haben Eltern oft ihren Kindern, die wie sie selbst verschleppt wurden, als Mahnung mitgegeben. Nicht immer gelang das. Viele Kinder fanden im Lager andere Eltern, immer wieder. Die gefangenen Frauen versuchten trotz aller Härten, trotz des Hungers, das Leid der Kinder zu mildern. Wenige haben überlebt. Doch es gibt dieses Buch mit den Namen, die jetzt erneut zu hören sind. Die Namen der Vermissten, von deren Schicksal niemand wissen sollte. Die Namen der Personen, die nicht nur ausgebeutet und ermordet, sondern die auch als Menschen vernichtet werden sollten. Jeder Mensch hat einen Namen.
Ich lese die Namen laut vor und versuche, auch diejenigen annähernd richtig auszusprechen, deren Sprache mir weniger vertraut ist. Unbedingt möchte ich auf die Bedeutung der Person, die Teil unserer Welt, Teil des Miteinander ist, hinweisen. Ein Name zeigt auf einen Zusammenhang, auf die grundlegende Zugehörigkeit zur Familie der Menschen. Es sind Namen, die ins Bewusstsein gebracht, aufgeschrieben und bewahrt werden konnten – von Menschen aus über dreißig Nationen. Nur 13.161 Namen von wahrscheinlich ungefähr 92.000 Menschen, die allein in Ravensbrück dem Massenmord zum Opfer fielen.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 122: „Resilienz"

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Namen lesen ist eine traurige Tradition. Seit 1997 lesen die Mitglieder der Zen Peacemaker in ihren jährlichen Auschwitz-Retreats die Namen der in Auschwitz Ermordeten. Die Initiative „offene kirche bern“ initiierte 2019 das Lesen der Namen für die Menschen, die heute auf der Flucht über das Mittelmehr ertrinken. Das sind nur einige Beispiele.
Namen lesen ist für mich weniger Anklage als der Entschluss, der Ideologie der Nazis zu widerstehen und aufzustehen für alle Menschen, die sie töteten – Männer, Frauen, ja sogar Kinder. Ich will Unrecht benennen, Trauer und Entsetzen zulassen und nicht wegschauen.
Im Retreat in Ravensbrück lesen wir jeden Tag eine halbe Stunde 75 Namen, in jedem Jahresretreat also 300 Namen. Wir werden weiterlesen, mehrere Jahre. Wenn wir alle Namen aus dem Buch ausgesprochen haben, wenn wir jemals all die aufgezeichneten Namen gelesen haben, werden wir wieder auf der ersten Seite beginnen. Wir werden alle uns bekannten Namen erneut lesen und die Glocke erklingen lassen.

Hintergrund

Das Ravensbrück-Retreat für Frauen findet jedes Jahr auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers statt. Teilnehmen können alle Frauen und Menschen, die trans, intergeschlechtlich oder nichtbinär sind, unabhängig von religiösem Hintergrund oder Meditationserfahrung. Unterbringungsort für die Zeit des Retreats ist die Jugendherberge Ravensbrück. Es findet mit Katharina Schmidt und Lily Besilly statt.
Information zum weiteren Ravensbrück-Retreat gibt es hier: www.ravensbrueck-retreat.org.

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Lily Besilly

Lily Besilly

Lily Besilly leitet Meditationskurse unter anderem zur Grünen Tara, einer weiblichen Buddha-Form, und zu anderen Themen des Buddhismus. Ausbildung und Autorisierung (2008) von Sylvia Wetzel. Als Heilpraktikerin für Psychotherapie arbeitet sie in Berlin. www.besilly.de 
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