Der Shikokou-Pilgerweg in Japan verläuft auf über 1.000 Kilometern, vorbei an 88 Tempeln. Der Autor sah die Wanderung zunächst als sportliche Herausforderung. Doch schon bald kam er in Kontakt mit der Schönheit Japans und der Freundlichkeit seiner Bewohner.
Wie es beim Pilgern normalerweise ist, macht man sich alleine auf den Weg.
Eingangstor des 63. Tempels auf dem Pilgerweg: Kichijō-ji in Saijō in der Präfektur Ehime auf der Insel Shikoku.
Doch manchmal geschieht etwas Überraschendes, und man trifft andere Menschen – und das bedeutet Glück. In Japan ging ich den zweitlängsten Pilgerweg der Welt: 1.208,7 Kilometer in 22,5 Tagen. Was mich antrieb? Ein Brennen für das, was mich glücklich macht. Ich wollte ein Abenteuer erleben.
2022 pilgerten einige Bekannte auf dem Jakobsweg. Als Long Trail Runner, einer, der gerne viele Kilometer querfeldein laufend hinter sich bringt, weckte das mein Interesse. Im Zuge meiner Recherche entdeckte ich einen Weg, der im Netz „Der japanische Jakobsweg“ genannt wird. Es ist ein Rundweg auf der Insel Shikoku, der an 88 buddhistischen Tempeln vorbeiführt.
Dieser Weg ließ mich, gepaart mit dem Wissen um die faszinierenden Werte Japans wie Respekt, Wertschätzung, Hilfsbereitschaft, nicht mehr los. Die Begeisterung war groß, und meine innere Stimme sagte unaufhaltsam: „Markus, du musst diesen Weg gehen!“
Check vor dem Abflug. Mit dieser Ausrüstung will ich rund 1.200 km zu Fuß durch Japan pilgern. Oft werde ich in freier Natur übernachten. |
Einer von vielen beeindruckenden Bambuswäldern auf dem Shikoku Pilgerweg. |
Während des Anstiegs zum 60. Tempel: ein atemberaubender Ausblick auf den Kurose-See. |
Zu sich selbst finden
Was ich anfangs als rein sportliche Herausforderung anging, entpuppte sich als eine Erfahrung von Schönheit. Schon beim ersten Schritt auf japanischem Boden beeindruckten mich die Menschen und die Vegetation. Vor allem berührte mich die respektvolle Freundlichkeit und Aufmerksamkeit der Japaner. Auf der 19.000 Quadratkilometer großen Insel Shikoku angekommen, begann eine intensive Zeit in subtropischem Klima und mit tollen Begegnungen.
Auf langen Strecken findet gerade ein Pilger schnell zu sich selbst. Dies gelang mir sogar auf meinen Märschen mit 100 Kilometern innerhalb von 24 Stunden. Doch in Japan war es noch einmal etwas anders. Wo auch immer ich unterwegs war, verbeugten sich die Menschen, wünschten mir viel Kraft und riefen mir zu, dass ich durchhalten solle. Denn Anstiege von 21 bis 30 Prozent und unzählige Treppenstufen zu den Tempelanlagen brachten viele Herausforderungen mit sich.
Rückenwind gaben mir Gespräche mit Einheimischen, das Innehalten am Meer oder das Verweilen in der Sonne. Auf Shikoku sagt man sich, dass der Begründer des Pilgerweges, der buddhistische Mönch Kūkai, postum „Kōbō Daishi“, an der Seite eines jeden Pilgers geht. Die Japaner glauben, am Segen Kūkais teilhaben zu können, wenn sie die Wanderer unterstützen und ihnen Respekt bekunden. Diese Gastfreundschaft nennt sich auf Japanisch „osettai“.
Mantrarezitation vor einer Gebetshalle im Fujii-dera-Tempel in Yoshinogawa. |
Zu Gast bei der Familie Tasaka in Imabari, Ehime. |
Schilder weisen dem Pilger auf dem Shikoku den Weg. |
Auch die Anzahl der Tempel auf dem Pilgerweg hat eine Bedeutung. Im buddhistischen Shingon-Glauben steht die Zahl 88 für alle Übel der Welt. Wer die Tempel, einen nach dem anderen, besucht, befreit sich nach und nach von diesen Übeln. Japaner genießen es, daran teilhaben und dies unterstützen zu können.
In den Tempelanlagen gibt es zwei Gebetshäuser, vor denen die Pilger ihre Mantras rezitieren. Ein Gebetshaus gilt der Gottheit, die für den jeweiligen Tempel steht, das andere ist jeweils Kūkai gewidmet. Ich habe so einige Male das gesamte Ritual in Tempelanlagen begleiten und mitleben dürfen, sogar ein Mantra gemeinsam mit Japanern rezitiert, was ihnen – und mir – eine Ehre war. Wann immer ich Japaner entlang des Pilgerwegs getroffen habe, waren sie authentisch interessiert, hilfsbereit und sehr freundlich. Ihre Gastfreundschaft hat mich über mich und die Mentalität der Europäer nachdenken lassen. Sie ist so grundlegend anders, so uneigennützig, so echt.
Teil der Familie sein
Es waren viele Begegnungen und Erlebnisse, die einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen haben. Ich denke dabei gerne an die Begegnung mit einem Mönch im Dainichi-ji Tempel. Wir sprachen über Glauben, Kampfsport, über Werte und andere interessante Themen. Der Mönch schien geistig sehr aufgeräumt und klar und war für mich repräsentativer und sympathischer Vertreter des Glaubens. Jeder Tempel hatte seine eigene Geschichte, seine eigenen Begegnungen und besonderen Nächte. Oft übernachtete ich in den Tempelanlagen unter freiem Himmel oder im Zelt.
In Imabari, einer Stadt im Norden der Insel, stieß ich nach Anbruch der Dunkelheit auf ein Familientreffen, als ich via Google Translator nach einem Restaurant in der Nähe fragen wollte. Die Mutter der Familie bat mich ins Haus und tischte ein mehrgängiges Essen auf. Alle Familienmitglieder versammelten sich neugierig um mich. Und die 14-jährige Mik Hideki zeigte mir ihr Smartphone, auf dem der Translator „Please eat a lot“, „Bitte essen Sie viel“, aus dem Japanischen übersetzte. Innerhalb von Minuten fühlte ich mich als Teil dieser Familie, wir unterhielten uns mit Händen und Füßen und lachten viel.
In den Tempeln vor den Gebetshäusern werden unmittelbar vor dem Rezitieren von Mantras jeweils zwei Kerzen und drei Räucherstäbchen angezündet. |
„osame-fuda“ sind Papierstreifen, die vor dem Rezitieren von Matras in eine Box geworfen werden. Auf ihnen sind ein Bild von Kobo Daishi, dem Begründer des Pilgerwegs, und der Satz „Ehre die Pilgerschaft zu den 88 heiligen Orten“ aufgedruckt. Der Pilger notiert auf dem Papierstreifen seinen Namen und das Datum. Der Pilger soll kurz innehalten und Wünsche formulieren, die er mit der Wallfahrt verbindet. |
In Uwajima durchwandere ich im Regen ein Tal. Überall wachsen an Bäumen und Sträuchern Zitrusfrüchte. Ich pflücke ein paar Mandarinen und lasse es mir schmecken. |
Andernorts boten mir Dorfbewohner Übernachtungen an, drückten mir auf der Straße Früchte, Gebäck, Süßkartoffeln und andere Leckereien in die Hand, um am Segen durch Kūkai teilzuhaben. Dabei konnte ich oft selbst Mandarinen, Kakis, Kiwis, Pampelmusen, Granatäpfel, Feigen vom Baum pflücken, unterwegs Rosmarin und andere Düfte riechen und den Anbau von Salaten, Chili und Ingwer bestaunen. In meinen Augen ist uns das in Europa ein wenig verloren gegangen. Wir leben als Konsumgesellschaft in Abhängigkeit von Importen aus China und den USA. Ich weiß noch, dass meine Eltern und Großeltern Gemüse und Früchte aus eigenem Anbau für den Winter eingekocht hatten.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung № 124: „Frei Sein!"
Unterwegs dachte ich regelmäßig darüber nach, wie ich der Gastfreundschaft je gerecht werden und mich revanchieren könnte. Eine Japanerin öffnete mir die Augen und brachte es im Gespräch auf den Punkt. Sie erklärte mir, welch große Bedeutung die Wertschätzung und respektvolle Unterstützung in Japan hat.
Pilgern: die Schönheit Japans
Es ist mein Wunsch, die mir entgegengebrachte Wertschätzung, Liebe und den Respekt zurückzugeben und dazu anzuregen, diese Geisteshaltungen nachzuahmen. Martin Luther King sagte einst: „Wir haben gelernt, wie Vögel zu fliegen, wie Fische zu schwimmen, aber wir haben nie gelernt, wie Brüder zu leben.“ Das hat sich für mich durch die Pilgerreise in Japan verändert. „Domo arigato gozaimasu“, so sagt man „Danke“ auf Japanisch.
Bilder Text © Markus Buthe