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Leben

Die Biologie sieht Leben als Wettkampf der Gene und blendet die innerlichen Erfahrungen aus.

Was ist Leben? Eine mögliche Antwort wäre: Leben ist das, was innere Erfahrungen machen kann. Leben heißt, betroffen sein. Leben heißt, vor Lust auf mehr Leben schier zu bersten. Leben ist geteilt und erfreut sich daran, dass es geteilt ist. Leben ist das, was über der Bodenlosigkeit schwebt und wieder in sie zurücksinken wird. Leben ist das, was in jedem Frühjahr neu aus der Leere hervortritt.

Eine andere Antwort gibt die Biologie, die auch die „Lehre vom Leben“ genannt wird. Danach ist Leben das, was sich selbst bewegen kann, etwas empfindet, sich fortpflanzt, was also Gene hat, so heißt es in den Lehrbüchern. Mehr kommt nicht.

Alle paar Jahrzehnte traut sich ein Forscher, ein Buch zum Thema zu veröffentlichen wie jüngst der britische Genetiker Paul Nurse. Auch er zählt vornehmlich wieder Eigenschaften auf. Das ist ungefähr so, als würde jemand auf die Frage „Was ist das Universum?“ antworten: Das Universum ist das, was Bäume hat, Schwalben und ein paar große Wolken.

Das erste Buch mit dem Titel „Was ist Leben?“ schrieb der Physiker Erwin Schrödinger 1944. Ihm gelang noch am ehesten eine Antwort auf die Frage, was die Wesen im Innersten zusammenhält: In ihnen muss es etwas geben, was sich selbst stabilisiert, auch wenn sich der Kosmos beständig in seine Einzelteile zerstreut.

Als 1953 die DNA entdeckt wurde, glaubten die Biologen zu wissen, wo diese Beharrungskraft herkam. Natürlich, es mussten die Erbinformationen sein, die dem Körper die Befehle zur Existenz gaben. Daraus wurde die Kurzform: Leben gleich Gene, populär übersetzt: Maschine plus Steuerungsinformationen.

Dabei ist es bis heute weitgehend geblieben. Die Option, dass das Beharrungsvermögen des Lebens noch etwas anderes als eine technische Steuerung sein könnte, stand nicht mehr zur Debatte. Für die Idee, dass Leben vielleicht nicht nur ein maschineller Prozess ist, sondern innerliche Erfahrung, erklärte sich die Biologie nicht zuständig. Ja, diese Idee galt viele Jahre geradezu als tabu. Sie klang zu unwissenschaftlich.

Wir – und alle anderen Mitglieder dieses Kosmos – haben eine Innensicht auf die Welt.

Schrödinger wäre vermutlich aufgeschlossener als viele zeitgenössische Forscher. Schließlich verdanken wir ihm das Wissen, dass Elektronen den Atomkern nicht umkreisen, wie es noch heute in Schulbüchern abgebildet wird, sondern dass die Wirklichkeit eines Teilchens immer erst im Moment der Messung festgelegt wird. Vorher ist es buchstäblich irgendwo und nirgends.

Biologie

Warum sollte dann nicht auch Leben irgendwo und nirgends sein? Nämlich irgendwo, verteilt in der biologischen Form eines organischen Körpers, und nirgends – als das, was nicht körperlich ist, aber seinen Körper immer bewahren will, als ein Begehren, das nach jener empfindenden Individualität ruft, die sich dann als Körper manifestiert?

Das Gute ist, dass wir zu dieser Idee alle etwas sagen können. Denn Menschen sind von Geburt an Philosophen und Naturwissenschaftler. Sie gehören mit Haut und Haaren zur Welt, über die sie nachdenken. Während sie sich das Hirn löchern, was Leben sei, beantworten sie die Frage schon. Denn sie fragen sich das, indem sie leben. Das heißt: Wir – und alle anderen Mitglieder dieses Kosmos – haben eine Innensicht auf die Welt. Dieses Wissen über die Welt kommt nicht daher, dass wir sie zum Ding machen, das wir messen und beschreiben können. Es stammt vielmehr daher, dass wir diese Welt eigentlich selbst sind.

Weil wir am Leben teilhaben, weil wir Leben sind, wissen wir, was Leben ist. Derzeit wird freilich den meisten aberzogen, dieser lebendigen Erfahrung zu vertrauen. Als real gilt, was sich als Ding darstellen lässt – bis zu dem Punkt, wo wir selbst nur noch als Ding real sind. Das ist die Stoßrichtung unserer Zivilisation. Aber zugleich erleben wir als wirklich immer das, was sich von innen als Erfahrung erleben lässt – also das Gegenteil eines Dings.  

Es ist bemerkenswert, dass Biologinnen und Biologen auf das Leben der anderen Wesen von außen schauen, ihr eigenes dabei aber ignorieren müssen. Wer eine weiße Maus am Schwanz aus dem Zuchtkäfig hebt, hat im eigenen Fühlen gerade das auszuschalten, was der Anteil des Lebens an ihm selbst ist.

Wer etwa einen Teich ökologisch untersucht, Wasserproben nimmt und dafür in diesen Proben die Wesen, die in der transparenten Flüssigkeitssäule schweben, erst tötet und dann zählt, muss alle Gefühle ausschalten, die mit dem erlebten Moment am Ufer des Gewässers verbunden sind: die sommerliche Hitze, die Rufe der Mönchsgrasmücken, die seidige Kühle des Wassers auf der Haut, seinen Duft, den Geruch der Blätter und des frisch gemähten Grases, das Gefühl, zu Hause zu sein, das Begehren, in dieses Wasser einzutauchen, gemeinsam mit den anderen Wesen zu schweben in seiner Bodenlosigkeit, die trägt.

Aus diesen vergessenen Erfahrungen lässt sich ebenso eine Wissenschaft des Lebens destillieren. Sie ist nicht weniger präzise als die klassische Biologie, aber sie ist inklusiv, nicht binär. Die Dinge des Lebens hier, die katalogisierende Biologin dort. Die Prinzipien dieser inklusiven Körperwissenschaft des Lebens lassen sich auf eine ähnliche Weise festhalten, wie es die Biologie derzeit mit den äußeren Eigenschaften von Organismen macht. Heraus kommt allerdings etwas ganz anderes – eine Sicht, die man als Empirie aus der Perspektive der ersten Person bezeichnen könnte, als mitfühlende Objektivität.

Weil wir am Leben teilhaben, weil wir Leben sind, wissen wir, was Leben ist.

Leben ist ein innerlich erfahrenes Selbstsein, das aus dem geteilten Ganzen kommt, nur als Teil dieses Ganzen existieren kann und sich wieder an dieses Ganze hingeben wird.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 121: „Mit allen Sinnen"

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Während die Idee, dass Leben aus Genen besteht, die um die Vorherrschaft kämpfen, die Blaupause für eine zerstörerische und zerstörte Welt liefert, folgt aus der Erfahrung von Leben als geteilter Innerlichkeit das Gegenteil. Solches Leben arbeitet instinktiv daran, den Kosmos produktiv zu halten. Das Plankton des kleinen Weihers, das im Herbst in die Tiefe hinabsinken wird, ist eine Weise, die Welt zu nähren, damit sie weiter Leben spenden kann.

Der Mensch hat andere Möglichkeiten. Aber er kann sie nur ausschöpfen, wenn er unter Leben etwas anderes als anderes als den Wettkampf der Dinge versteht. Nämlich die Leere, die nicht anders sein kann als fruchtbar.

So ist das mit den entscheidenden Fragen. Trauen wir uns, an einem Zipfel der Welt zu ziehen, halten wir sogleich das ganze Universum in den Händen.

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Andreas Weber

Andreas Weber

Dr. Andreas Weber ist Biologe, Philosoph und Publizist. www.autor-andreas-weber.de
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