Grenzen setzen, die eigene Stärke erkennen und traumatische Erlebnisse verarbeiten. Ein Einblick in einen Selbstbehauptungskurs für geflüchtete Frauen und Mädchen.
Eine junge Frau schlägt ein Brett mit ihrer Faust durch, ihre Entschlossenheit ist sichtbar. Für sie ist das auch eine Konfrontation mit den eigenen Ängsten und Unzulänglichkeitsgefühlen. Eine eindrückliche Erfahrung, etwas zu können, was sie sich vorher nicht zugetraut hatte.
Seit vielen Jahren gebe ich, vor allem in Berlin und Brandenburg, feministische Selbstbehauptungskurse: „Wendo“. Das Wort Wendo ist eine Neuschöpfung aus dem englischen „Women“, „Frau“, und dem japanischen „Do“, „Weg“. Es bedeutet: „Weg der Frauen und Mädchen“. Wendo ist ein Präventionsprogramm gegen Gewalt gegen Frauen. Es geht um Selbstermächtigung, und jede Teilnehmerin kann ihre Erfahrungen und Kompetenzen einbringen. Die individuellen Erfahrungen werden so zu Ressourcen und tragen zu einem stärkeren Selbstvertrauen bei.
Meine Motivation, diese Kurse zu geben, beruht unter anderem auf eigenen Gewalterfahrungen, denen ich in meiner Kindheit und Jugend ausgesetzt war. In der Auseinandersetzung mit ihnen und letztlich in der Überwindung der damit verbundenen Traumata konnte ich entdecken, wie Kraft und Stärke entstehen können. Daraus entwickelte sich in mir der Wunsch, Mädchen und Frauen in ihren Fähigkeiten zu unterstützen, sich selbst zu behaupten. Selbstfürsorge ist die Grundlage dafür, dass wir unserer Wahrnehmung vertrauen und in die Lage versetzt werden, eindeutige Grenzen zu setzen.
Eine unserer Übungen besteht darin, ein Brett zu durchschlagen. Eigene Ängste und Unzulänglichkeitsgefühle wandeln sich dabei in Entschlossenheit. In Rollenspielen wird geübt, bei Übergriffen und Grenzüberschreitungen angemessen zu reagieren. Oft erzählen die Frauen und Mädchen von belastenden Situationen, die sie erleben mussten. Durch den Gruppenprozess und die Übungen werden die Teilnehmerinnen in die Lage versetzt, ihre Fähigkeiten und Stärken wahrzunehmen, die ihnen zuvor nicht zugänglich waren. Bewegung hilft, die eigene Kraft zu spüren. Wenn Teilnehmerinnen sich einfach hinsetzen und die Stille erfahren, werden die psychischen Verletzungen oft sehr laut. Das kann retraumatisierend wirken.
„Selbstfürsorge ist die Grundlage dafür, dass wir unserer Wahrnehmung vertrauen und in die Lage versetzt werden, eindeutige Grenzen zu setzen.“
Die Wendo-Kurse finden häufig in den Gemeinschaftsunterkünften statt und sind von Sozialarbeiterinnen initiiert. Für mich geht es darum, den Frauen und Mädchen aus dem Herzen zuzuhören und dabei die Empathie, die ich in meiner buddhistischen Praxis kultiviere, zu nutzen. Die Teilnehmerinnen erzählen von ihren Erlebnissen, und daraus entstehen für sie passende Übungen und Worte. Durch empathisches Nachfragen finde ich heraus, ob ich ihre Bedürfnisse wirklich verstanden habe oder ob ich etwas auf sie projiziere.
Gelebter Buddhismus drückt sich für mich auch durch die konkrete Anwendung der „Vier unermesslichen Geisteshaltungen“ aus. Dies fließt in meine Kurse ein: „Freundliche Zugewandtheit“, also wirkliches Interesse an meinem Gegenüber, „Mitgefühl“, das immer wieder überprüft werden will, damit es nicht vom nahen Feind, dem Mitleid, gefressen wird, und „Mitfreude“. Die geflüchteten Frauen und Mädchen erleben in ihrem oft schwierigen Alltag auch sehr schöne und besondere Situationen. Hinzu kommt noch die „Gelassenheit“. Die Situation in den Unterkünften ist oft schwer planbar. Mal klappt es, dass die Frauen und Mädchen kommen und mitmachen können, mal nicht. Viele der Kursteilnehmerinnen sind traumatisiert. Zudem erleben sie im Alltag Rassismus, der ihre Psyche krank werden lässt.
Normalerweise werden die Frauen und Mädchen nur als Hilfenehmerinnen wahrgenommen. Eine wertschätzende Haltung, sie als Menschen, die viel zu geben haben und die über einzigartige Fähigkeiten verfügen, zu sehen, ist für sie wie Regen in der Wüste. Es ist immer wieder eine große Freude für mich, zu sehen, wie sie von neuem Selbstbewusstsein und der Freude, die eigene Kraft zu spüren, erfüllt werden.
Es gibt in diesen Kursen auch immer wieder schöne Begegnungen mit beeindruckenden Frauen, die spannende Geschichten zu erzählen haben. Mit ihnen wäre ich sonst wahrscheinlich nicht in einen so persönlichen Kontakt gekommen. Diese Erfahrungen erweitern meine Perspektive – emotional und mental.
Ich sehe die Wendo-Kurse nicht nur als Überlebenstraining, sondern auch als eine Möglichkeit, neue Fähigkeiten zu entwickeln. Ich habe das tiefe Vertrauen, dass bei allen Menschen die Buddha-Natur vorhanden ist – ein weites Spektrum von Möglichkeiten. Durch dieses Vertrauen wird die Entwicklung der schlummernden beziehungsweise verschütteten Potenziale gefördert und werden vorhandene Ressourcen gestärkt. Sich mit der eigenen Buddha-Natur in Verbindung zu bringen, bedeutet, sich auf Offenheit, Klarheit und Feinfühligkeit auszurichten. Meine eigene regelmäßige Meditationspraxis unterstützt mich hierbei.
Anderen Menschen das Überwinden von Hindernissen zuzutrauen, fällt mir aufgrund meiner eigenen Biografie und meiner Erfahrungen sehr leicht. Ich habe mir jenseits von Universitäten Wissen und Bildung angeeignet. Wenn ich diese Barrieren überwinden konnte und Wege aus beengenden traumatischen Erfahrungen gefunden habe, dann können das andere auch. Davon bin ich überzeugt.
„So hilfreich Identitäten sein können, so hinderlich können sie gleichzeitig sein.“
Meine Identität als Lesbe ist weder etwas, das ich verberge, noch etwas, das ich immerzu anderen nahebringen möchte. Ich bin vor allem als Persönlichkeit präsent. Ich erzähle deshalb nur in manchen Situationen, in denen es mir passend erscheint, wie ich lebe und liebe. Manchmal ist das Label „Lesbe“ eben auch hinderlich. Etwa, wenn Frauen und Mädchen aus anderen Kulturen sich nicht mit diesem Wort verbinden können oder wollen. Dann sage ich manchmal, dass es ja auch Frauen gibt, die nicht mit einem Mann verheiratet sind, sondern ihr eigenes Leben führen. Das wird sofort verstanden.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung Special №. 1: „Buddhismus unter dem Regenbogen"
Denn so hilfreich Identitäten sein können, so hinderlich können sie gleichzeitig sein. Für mich ist es ein Geschenk, das ich als buddhistische Feministin wirken darf. Ich sehe Dharma und soziales Engagement als etwas, das zusammengehört. Spannend ist, wie wir das jeweils in unser Leben integrieren. Aus meiner Sicht hat jede Person etwas ganz Besonderes, das sie dieser Welt schenken kann. Oft hat sie es erst durch Schwierigkeiten und Hindernisse in ihrem Leben entwickeln können. Das macht es aber nur noch wertvoller.
Nives Bercht, buddhistische Lehrerin aus der Tara Libre Sangha, Wendo-Trainerin und Yoga-Lehrerin aus Berlin. www.wendo-berlin.de
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