Über die eigene Identität hinausblicken, die Verbundenheit spüren und sich für das Erwachen aller einsetzen. Wie buddhistische Lehren zu einem sozialen Wandel beitragen können.
Die frühen Lehren von Gautama Buddha standen allen Mitgliedern seiner Gesellschaft offen, einschließlich Frauen und Mitgliedern unterschiedlicher Kasten und Gesellschaftsschichten. Das Bodhisattva-Gelübde: „Ich beabsichtige, mit allen Wesen zu erwachen – oder sie zu befreien“, ist die früheste Ausprägung des engagierten Buddhismus. Diese Lehren, vor allem in ihrer modernen Interpretation von Thích Nhất Hạnh, erinnern daran, dass buddhistische Praxis durch alltägliche Handlungen und in der Auseinandersetzung mit den Problemen des täglichen Lebens stattfindet. Während zum täglichen Leben von Mönchen das Bodenfegen, das Reiskochen und das Holzhacken gehören, ergeben sich die Praxisgelegenheiten für den Rest der Menschen aus den jeweils eigenen Lebenswelten.
„Wenn Einzelne in unserer Gesellschaft aus einem auf oberflächlichen Erscheinungen beruhenden Hass gegen eine ganze Gruppe von Menschen sprechen oder handeln, dann ist das ein Spiegelbild des Geisteszustands unserer gesamten Gesellschaft. Wir entkommen dem nicht, bloß weil wir selbst nicht die Hassenden sind. Der spirituelle Pfad des Erwachens verlangt von uns Anwärtern des Friedens, uns genau diesen Herausforderungen von Rasse, Sexualität und Geschlecht zu stellen“, aus „The Way of Tenderness“ von Zenju Earthlyn Manuel.
Zenju Earthlyn Manuel lebt in Oakland, Kalifornien, und bezeichnet sich selbst als eine afro-amerikanische, lesbische, behinderte Zen-Priesterin. Als ich in ihrem Buch „The Way of Tenderness“ auf das obige Zitat stieß, war ich von seiner Klarheit und Weisheit beeindruckt. Ihre Perspektive bietet nicht nur eine der besten Darlegungen des engagierten Buddhismus. Sie hat mir auch die Augen dafür geöffnet, wie Diskriminierung und Ausgrenzung Übungsfelder, „Dharma-Tore“, sein können, um Mitgefühl zu entwickeln, Erleuchtung zu erlangen und sozialen Wandel herbeizuführen.
Das Bodhisattva-Gelübde fordert uns auf, das Erwachen erst dann zu akzeptieren, wenn alle Wesen miteingeschlossen sind.
Jeder Aspekt von Identität kann ein Weg zum Erwachen bieten: sexuelle Orientierung, Geburtsort, Ethnie, Geschlecht oder Klasse. Obwohl meine queere, männliche, cisgender Identität vordergründig ist, erkenne ich auch Prägungen durch mein Aufwachsen in einer ukrainischen Einwandererfamilie. Ich sehe den Arbeiterklassenhintergrund meiner Eltern und meinen Möglichkeitshorizont als weiße Person in den USA. Als Buddhist versteht man, dass Menschen ein Selbstempfinden in Form einer persönlichen Identität haben und gleichzeitig mit allen Wesen verbunden sind.
Üblicherweise wird diese gegenseitige Verbundenheit nur dann als existent betrachtet, wenn sie gut oder vorteilhaft ist. Doch auch alle Spannungen zwischen einzelnen Menschen oder Menschengruppen sind Teil dieser Verbundenheit. Zenjus Beobachtung ist wesentlich: Wenn Hass entsteht, dann hat jeder ebenso daran Teil, der Hassende, wie der Gehasste. Das war für mich nicht leicht zu akzeptieren. Ich gab anderen die Schuld für auftretende Probleme und benutzte meine buddhistische Praxis als Schutzschild vor möglicher Mitbeteiligung. Indem ich mich von denjenigen distanzierte, die ich nicht mochte, die ich nicht verstand und die grundlegend anders zu sein schienen, leugnete ich die gegenseitige Verbundenheit.
Wenn Hass ensteht, dann hat jeder ebenso daran Teil, der Hassende wie der Gehasste.
Wie kann man sich also Hass und Diskriminierung stellen? Der erste Schritt ist, zurückzutreten und die Welt so klar wie möglich zu beobachten. Es gilt, sie leidenschaftslos in ihren Ursachen und Bedingungen zu betrachten. Indem ich über die Erfahrungen von Menschen mit einer anderen Identität las und hörte, wie zum Beispiel von Frauen, von Menschen mit einem anderen ethnischen Hintergrund oder einer anderen Geschlechtsidentität, begann ich, die Welt aus mehreren Perspektiven zu sehen. Ich erkannte, wie unvollständig die Sichtweise war, die durch meine Erfahrung als weißer, cis-geschlechtlicher, homosexueller Mann geprägt ist.
Der nächste Praxisschritt besteht darin, die eigene Rolle beim Erschaffen von Realität zu verstehen. Obwohl ich selbst schwul bin, habe ich zu Homophobie beigetragen. Ich habe mich nicht klar genug positioniert und heteronormative Verhaltensweisen angenommen. Das war nützlich, um in der Schule, bei der Arbeit oder einfach auf der Straße dazugehören zu können. Ich habe unbewusst Rollenklischees akzeptiert und Privilegien genutzt, die ich als weißer, cisgender Mann in der Gesellschaft habe, andere aber nicht.
Jeder Aspekt von Identität kann ein Weg zum Erwachen bieten: sexuelle Orientierung, Geburtsort, Ethnie,Geschlecht oder Klasse.
Dieses Erkennen und Erleben sind nur ein Teil des Weges. Ich bin mir meiner selbst ausreichend bewusst, um nicht Hass und Trennung erschaffen zu wollen. Doch wie können ich und andere sicherstellen, dass unsere Handlungen die von uns gewollte Form von Gesellschaft erschaffen? Einige Theorien des sozialen Wandels behaupten, dass sich der Einzelne ändern muss, bevor sich die Gesellschaft ändern kann. Andere wiederum betonen, dass nur strukturelle Änderungen zu individuellem Wandel führen. Buddhismus unterstützt beide Theorien. Ich habe es zum Teil meiner Praxis gemacht, andersartige und an den Rand gedrängte Stimmen aktiv zu suchen, um von ihnen zu lernen. Ich verbündete mich mit ihnen und schloss mich ihrem Kampf für Menschenrechte an. Im letzten Jahr habe ich an Mahnwachen und Demonstrationen gegen die zunehmende Gewalt gegen Schwarze und Asiaten in den USA teilgenommen und mich für gesetzliche und politische Änderungen eingesetzt.
Das Bodhisattva-Gelübde fordert uns auf, das Erwachen erst dann zu akzeptieren, wenn alle Wesen miteingeschlossen sind. Dieses scheinbar unmögliche Versprechen erkennt die gegenseitige Verbundenheit der unterschiedlichen Identitäten an. Was das Bodhisattva-Gelübde in der Praxis bedeutet, wird sich im Laufe der Zeit immer wieder ändern, denn alles verändert sich stetig. Die Lösungen für den Hass in den 2020er-Jahren müssen ganz andere sein als etwa die Lösungen für die problematischen Bedingungen in den 1920er-Jahren.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung Special №. 1: „Buddhismus unter dem Regenbogen"
Das Bodhisattva-Gelübde macht es unumgänglich, sich im Regenbogen-Buddhismus zu engagieren. Als queere Menschen erleben wir täglich Verbundenheit in ihren positiven und negativen Formen. Wir betreten jene Dharma-Tore, die sich aus unseren individuellen und kollektiven Erfahrungen öffnen. Und so entdecken wir immer wieder neue Tore, während wir uns unseren Verblendungen stellen und unser eigenes kollektives Erwachen erkennen.
Alan Lessik ist Gastlehrer bei der „San Francisco LGBTQ Sangha“. Er ist ein Schüler von Kiku Christina Lehnherr im San Francisco Zen Center. www.sflgbtsangha.org
Übersetzung: Dennis Johnson
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