Alle Menschen gehören dem großen Ganzen an. Sind Auseinandersetzungen da überflüssig?
„Du verstehst mich nicht“, das sei laut der Zeitschrift „Psychologie heute“ kulturell- und generationsübergreifend der am häufigsten genannte Grund, warum Paare sich trennen. Die Kommunikation misslingt oft. Manchmal ebbt sie sogar ganz ab, nicht nur in romantischen Beziehungen, auch zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Nationen und Kulturen. Wie kann dann Reden Silber und Schweigen Gold sein?
Würde ich mein Welt- und Selbstverständnis in einem Wort ausdrücken müssen, wäre das vielleicht „Anatta“, der Kernbegriff der Buddha-Lehre. Er bedeutet „An-atta“ – „Nicht-Selbst“. Das Selbst, Ich oder Ego wird dabei als lebendige Fiktion verstanden, die nur ein Partikel ist im gesellschaftlichen Ganzen. Ein faszinierend nützliches Partikel, weil es uns Menschen einander wiedererkennen und miteinander kooperieren lässt. Zugleich ein schädliches, weil wir so leicht vergessen, dass es nur eine Fiktion ist. So, wie unser individueller Körper im fließenden Ganzen der organischen Materie nur separat zu sein scheint, so ist unser Ich ebenfalls nur ein fließendes, winziges Partikel im Ganzen der uns beherbergenden Gesellschaft.
Wie wirkt sich diese Tatsache auf unsere Kommunikation aus? Wenn ich nur ein Partikel des gesellschaftlichen Ganzen bin, ebenso wie du, dann sind wir wie zwei Moleküle in einem großen Organismus. Holografisch gesprochen, ist zudem in jedem von uns beiden das Ganze zu finden: Ich bin du und du bist ich. Wir sind ihr und ihr seid wir. Jeder Kommunikationsvorgang zwischen uns ist demnach so, als spräche in ein und demselben Baum ein Zweig mit einem anderen oder in einem Organismus der Magen mit der Leber oder eine Welle mit einer anderen in demselben Ozean. Dann können wir uns von Welle zu Welle in unserer Verschiedenheit zufunkeln, können diese Verschiedenheit bewundern, uns aber nicht missverstehen, denn wir sind doch aus demselben Stoff. Auch die Schönheit des Schweigens wird dann verständlich – was hätte eine Welle einer anderen denn dann noch zu sagen? Sie können sich voreinander aufbäumen und interferieren. Sie können auch zusammenfließen und so zu einer einzigen Gestalt werden, aus Wasser, aus demselben Ozean. Bei Windstille endet jede Wellenindividualität, alles glatt, Schluss mit der Eigenheit.
Ich bin nur ein Partikel im gesellschaftlichen Ganzen.
Da wir normalerweise nur mit unserem kleinen, individuellen Ich identifiziert sind, bilden diese Ausführungen zu Anatta noch keine anwendbare Kommunikationspraxis, wie etwa die von Marshall B. Rosenberg entwickelte „Gewaltfreie Kommunikation“, kurz „GfK“. Oder das „Vier-Ohren-Modell“ des Schulz von Thun. Oder die vier Schritte von Byron Katies in „The Work“. Alles Methoden, die dem „Du verstehst mich nicht“ vorbeugen können. Das Anatta-Modell ist jedoch eine gute Basis für diese Methoden und sogar noch mehr: Das Bewusstsein des Ich als eine nützliche, bewegliche, aber begrenzte Fiktion kann der Trickserei mit den genannten Methoden vorbeugen. Ein geschulter GfKler kann nämlich voll GfK-konform seinen Kommunikationspartner in dessen nicht GfK-mäßiger Kommunikation blamieren, das ist dann gar nicht mehr gewaltfrei. Im Bewusstsein, dass ich auch du bin und du ich bist, geht das nicht mehr; da würden wir uns dann nur selbst verletzen. Ebenso kann bei der Methode des Vier-Ohren-Modells das Wissen, dass ich nicht nur „wie du bin“, sondern „du bin“, helfen, eine Frage nicht als Appell misszuverstehen oder eine Selbstkundgabe als Angriff auf den Status des Empfängers. Denn man kommuniziert ja immer nur mit einem Teil von sich selbst.
Ich bin du, und du bist ich.
Für einen Nichtmeditierer mag das naiv klingen oder wie das Allheilmittel eines Scharlatans. Anatta ist jedoch etwas, das sich „im Offensichtlichen versteckt“: Man findet das Selbst einfach nicht, auch wenn man es sucht. Das Verständnis von Anatta ist deshalb eine Praxis, die sich auf mindestens zwei Ebenen entfaltet: Kognitiv fordert sie auf, sich selbst schonungslos zu beobachten und sich dabei des Einschränkenden all dessen gewahr zu werden, was mit dem „Ich“ zu tun hat. Auf der emotionalen Ebene ist sie eine Praxis des tiefen Mitfühlens: Schmerz ist Schmerz, Leiden ist Leiden, egal, wo es auftritt, in deinem oder meinem Körper oder in dem eines anderen fühlenden Wesens. Leidminderndes oder lustförderndes Handeln, das uns Tieren wie Menschen angeboren ist, hat dabei aber Wertungen vorzunehmen und eine Vielzahl von Prognosen: Wie gewichte ich zum Beispiel meinen Genuss beim Essen von Fleisch gegenüber dem Leiden, das die Aufzucht und das Schlachten des Tieres in ihm verursacht? Oder wie schätze ich die Wahrscheinlichkeit ein, dass ein Verzicht von mir auf etwas, das auch ein anderer Mensch schätzt, in diesem Lust, Genuss oder Glück bewirkt?
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 115: „Rede mit mir!"
Dem füge ich nun noch zwei Ansätze hinzu, die nicht aus dem Buddhismus stammen, sondern aus dem Hinduismus. Beide bedeuten im Wesentlichen das Gleiche wie das Anatta des Buddha. Vielleicht könnte man sie die hinduistischen Varianten der transkulturellen Mystik nennen. Der erste ist die Metapher von „Indras Netz“, das die ganze Welt darstellt und in dem jeder Knoten ein Juwel ist, in dem sich das Ganze widerspiegelt. Der zweite ist das berühmte „Tat twam asi“ – „auch das bin ich“. Es besagt, dass das, was wir für uns selbst halten, das Ich oder Selbst oder Ego oder Atman, nicht etwas vom Rest der Welt Getrenntes ist. Wer in sich ein solches Ich sucht, findet dort nur flüchtige Phänomene wie Gefühle und Gedanken, die, kaum wahrgenommen, schon wieder verschwunden sind. Ich nehme zwar wahr, dass ich als von mir gesteuerter Körper in der Welt wirke, aber die Ursache dieser Wirkungen kann ja auch eine Fiktion sein – und das ist sie. Eine mächtige Fiktion.
Wolf Sugata Schneider, ehemaliger Mönch in der buddhistischen Theravada-Tradition, ist heute Autor und Humorist.
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