Natürlich nichts, er war von A bis Z ein Ärgernis. Aber die Verhaltensänderungen, die er uns aufnötigte, hatten auch die eine oder andere positive Auswirkung.
Das Gute im Lockdown zu sehen, hört sich zunächst etwas zynisch an. Denn natürlich war er – bis dato waren es hierzulande ja bereits drei, und wer weiß, was uns noch blüht – zunächst einmal eine Zwangsmaßnahme, und wer würde eine solche schon gutheißen? Und dann hat er auch, in Form von sozialer Isolation, familiären Konflikten, beruflicher Ungewissheit oder Zukunftsangst, viel Leid gebracht. All das soll an dieser Stelle auf keinen Fall gegen etwaige Vorteile aufgewogen werden: Der Lockdown selbst hatte ganz und gar nichts Gutes an sich. Aber so manch eine seiner unverhofften Auswirkungen vielleicht doch.
Einmal kurz den Atem anhalten
Ja nun, was denn zum Beispiel? Zunächst einmal war der Lockdown ein ziemlich einzigartiger Moment in unser aller Lebensgeschichte: Das ganze enorme Getriebe unserer Zivilisation wurde für kurze Zeit drastisch heruntergefahren, hielt sozusagen den Atem an – eine leicht surreale Situation. So etwas kommt sehr selten vor, am ehesten noch an Zeitenwenden oder nach Katastrophen, und so gut wie nie auf globaler Ebene.
Man konnte Dinge erleben, die man sonst nicht erlebt: Die Wiener Innenstadt beispielsweise war annähernd menschenleer, man hörte seine eigenen Schritte und sah Hausfassaden und Geschäfte unverstellt, die man zuvor nie bemerkt hatte. Im Volksgarten zwitscherten Spatzen in Schwärmen drauflos und schienen selbst erschrocken, dass sie nicht vom Verkehrslärm übertönt wurden. Auch Menschen, die nicht romantisch veranlagt sind, schwärmten, dass sie noch nie einen so klaren, tiefblauen und ungetrübten Himmel gesehen hätten. Die Flugzeuge waren daraus verschwunden. Der Straßenverkehr war angenehm reduziert und mit ihm auch der Lärm in den Städten. Wer sich einmal in einen Wald verirrte, fand ihn, abgesehen von den Geräuschen der Natur selbst, totenstill vor, wie zuletzt vielleicht in den 1950er-Jahren. Es waren keine Hintergrundgeräusche von Autos oder landwirtschaftlichen Geräten zu hören. Die Straßenbahnen und Züge waren fast leer. Dafür füllten sich die Parks. Man traf sich statt in Lokalen zu gemeinsamen Spaziergängen und nahm – ein völlig neues Verhalten – die Thermoskanne mit. All das fühlte sich sehr eigenartig und ein wenig unheimlich an. Es handelte sich um einen speziellen geschichtlichen Moment. Das spürten alle.
Bereit sein ist alles
Und er war auch nicht ohne Dramatik, denn das Memento mori, das üblicherweise eher abstrakt ist, war plötzlich ganz konkret: Man wusste wenig über COVID-19. Es konnte jeden erwischen. Jeder konnte in ein paar Wochen oder Monaten schwerkrank oder nicht mehr am Leben sein. Das waren schreckliche Vorstellungen. Aber war es nicht zugleich auch eine gute Gelegenheit, sich das grundlegende Mantra aller Weisheitslehren, im „Hier und jetzt“ zu leben, tatsächlich einmal zu eigen zu machen? Und für den Ernstfall eventuell das hamletsche „In Bereitschaft sein, ist alles“?
Die Bedrohung durch COVID-19 war das eine. Ein zweiter Punkt, den der Lockdown bewirkte und der uns zu einer philosophischeren Grundhaltung anstupsen konnte, war, dass uns unser Alltag plötzlich abhandenkam. Wir hatten tendenziell mehr Zeit für uns selbst. Die Abfolge von Privat- und Berufsleben, unsere Tagesstrukturen und Gewohnheiten haben etwas ungemein Stabilisierendes; andererseits lullen sie uns ein. Durch ihren Wegfall waren wir nun sozusagen auf uns selbst zurückgeworfen. Das wiederum kann zutiefst verunsichernd sein, aber auch Anstoß, das ewig Gleiche infrage zu stellen.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 118: „Zufriedenheit"
Haben wir uns mit solchen und ähnlichen Fragen konfrontiert? Das hängt ganz von der eigenen Lebenssituation ab. Viele waren so sehr mit dem Aufbau neuer Strukturen, wie Homeoffice oder Homeschooling, beschäftigt, dass ihnen mögliche philosophische Erwägungen wie ein schlechter Witz vorgekommen sind. Andere füllten die plötzlich entstandene Leere durch maximale Ablenkung durch Netflix und Co. Und wieder andere wurden mit ganz neuen Problemen konfrontiert: Manch eine Beziehung, die uneingestandenermaßen nur deshalb noch funktionierte, weil die Partner wenig Zeit miteinander verbrachten, konnte jetzt, wo man quasi eingesperrt war, rasch implodieren. Das mag man gut oder schlecht finden – es wurde durch den Lockdown jedenfalls offengelegt.
Was bleibt vom Lockdown?
Das gängige Narrativ geht in etwa so: Dadurch, dass wir nicht shoppen gehen konnten, keine Veranstaltungen besuchen, nicht in den Urlaub fliegen durften, ist uns erst klargeworden, wie wenig wir das alles brauchen. Das war uns eine Lehre, künftig weniger zu konsumieren! Ist das so? Zweifel sind angebracht. Wenn der ganze Pandemiespuk einmal vorbei ist, ist eher mit einem desto stärkeren Rebound zu rechnen. Was also bleibt vom Lockdown? Vielleicht das: Die erzwungene Distanzierung von Verwandten und Freunden hat uns mit Nachdruck vor Augen geführt, wie sehr wir doch soziale Wesen sind und menschliche Nähe suchen. Auch auf einer ganz elementar physischen Ebene. Wenn wir einander zukünftig mehr berühren, fester umarmen und bewusster herzen, hätte Corona doch noch einen Nebensinn gehabt.
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