Alles, was es auf der Welt gibt, hat Leben in sich. Man sollte sie spüren, habe ich in einem Einführungskurs zum Schamanismus gelernt – ein Erfahrungsbericht aus Schweden.
Es ist 6:21 Uhr an einem ruhigen Samstagmorgen. Ich befinde mich auf dem Weg nach Rättvik, einer kleinen Stadt in Schweden, um eine Einführung in den Schamanismus zu erhalten. Ich nutze die Fahrt, um mich auf den heutigen Tag vorzubereiten, und beginne meine Recherche.
Was ist Schamanismus eigentlich? Was erwartet mich bei dieser Einführung?
Schamanen gibt es seit über 40.000 Jahren. Die meisten Schamanen waren als Heiler, Berater oder Medizinmänner und -frauen tätig. Im Weltbild des Schamanismus gibt es drei übereinanderliegende Ebenen. In ihrer traditionellen Funktion als Heiler reisen Schamanen zwischen diesen Welten, um Geister zu beruhigen, Balance wiederherzustellen, oder Wesen zu heilen.
Meine Lehrerin heißt Tekla Drakfrände. Sie holt mich vom Bahnhof ab. Seit 1996 arbeitet sie als Schamanin. Während der Fahrt erzählt sie mir von ihren Reisen um die Welt, bei denen sie viele andere Schamanen kennenlernte. Sie zeigt mir auch gleich, wo unser Kurs stattfinden wird. Es gibt hier bei ihr in Rättvik sogar ein Schamanismus-Museum. Sie macht eine kleine Führung für mich.
Dann beginnt die Einführung, für die ich mich angemeldet habe. Sie findet in einem Zimmer statt, das im mittelalterlichen Stil dekoriert ist. Wir sitzen auf dem Boden, um mich herum verschiedene Felle, Teppiche, Malereien und Trommeln. Tekla sitzt mit dem Rücken zur Wand. Hinter ihr befindet sich ein Spiegel, der fast die ganze Wand bedeckt. Ich nehme gegenüber Platz und befinde mich nun in der Mitte des Raums. Sie beginnt zu erklären, dass im Schamanismus alles, was es gibt, ein Leben und damit auch eine Seele hat. „Respektiere alles und frage immer um Erlaubnis“, wird der wichtigste Rat sein, den sie mir mit auf den Weg gibt. Sie erzählt über Regeln, die man befolgen sollte, über Götter und auch von den Gefahren in der Geisterwelt. Obwohl ich nicht an Übernatürliches glaube, versuche ich, mich darauf einzulassen. Tekla erklärt mir, dass man nicht an Götter glauben müsse, um eine Schamanin zu sein, denn Schamanismus könne man auch als einen Lebensstil betrachten.
Dann machen wir Übungen, die mich in die Welt der Geister einführen sollen. Ziel ist es, nicht nur Kontakt mit der Geisterwelt aufzunehmen, sondern auch mit dieser zu interagieren. Ich soll durch die verschiedenen Welten reisen, um mir einen sicheren Ort zu schaffen, mein Krafttier und auch meinen Berater zu finden. Bei diesen Übungen liege ich auf dem Boden. Dies sind die Grundlagen, um später allein schamanische Rituale durchführen zu können.
Ich liege also auf einem Tuch, halte die Augen geschlossen. Dann fängt Tekla zu trommeln an. Den Auftakt bilden sieben langsame Schläge, danach wird es immer schneller. Die erste Übung fällt mir ziemlich leicht. Ich stelle mir einen Ort vor, an dem ich mich sicher fühle. In Gedanken male ich mir alles bis ins kleinste Detail aus. Ich finde die Übung durchaus angenehm, weil es mir Spaß macht, an meinen sicheren Ort verschiedene Zimmer einzurichten. Teklas Trommeln wird wieder langsamer, dann wieder die sieben Schläge, bevor der Rhythmus unregelmäßig wird und mich so aus meiner Konzentration bringt.
Die zweite Aufgabe: mein Krafttier finden. Es soll quasi mein bester Freund in der Geisterwelt sein. Tekla fordert mich auf, zurück an meinen sicheren Ort zu gehen, um dort nach einem Tunnel in die untere Welt zu suchen, denn dort würde ich mein Krafttier treffen. „In dieser Ebene findet man alle Arten von Kraft, nicht nur körperliche“, sagt Tekla.
Ich finde den Tunnel, der mich aber eher an einen schlechten Horrorfilm erinnert. So wirklich geheuer ist mir das Ganze nicht mehr, doch ich begegne meinem Krafttier. Wie dieses Krafttier aussieht, darf ich jedoch nicht verraten, sagt Tekla, die immerfort trommelt. Wenn ihre Schläge unregelmäßig werden, ist die Übung vorbei.
Jetzt fordert sie mich auf, mit meinem Krafttier auf der Wiese zu tanzen, weil das meine Verbindung stärken würde. Ich versuche, mich darauf einlassen. Aber alles in mir sträubt sich. Ständig öffne ich meine Augen, habe Angst zu stolpern. Meine Konzentration ist wie weggeblasen. Ich weiß von Videos, die ich gesehen habe, dass sich Schamanen in Ekstase tanzen. Ich selbst bin von dieser Art von Bewegung, die sich auch Trancetanz nennt, weit entfernt.
Nachdem ich mein Krafttier gefunden und mich mit ihm verbunden habe, soll ich mich nun in der oberen Welt auf die Suche nach meinem Berater begeben. Tekla sagt, dass man in der oberen Welt oft ältere Menschen treffe. Für viele würden ältere Menschen Weisheit verkörpern.
Tiere, Steine, Bäume, Autoreifen: Einfach alles sei am Leben, und man könne somit auch mit allem interagieren, sagt Tekla. Daher soll ich bei einer weiteren Übung mit einem Baum sprechen. Ich suche mir eine kleine Tanne aus und beginne in Gedanken eine Unterhaltung mit ihr. Inwiefern die Tanne tatsächlich meine Fragen beantwortet kann, ist mir unklar. Aber meine Wahrnehmung hat sich während der Übung verändert: Ich habe mir die Tanne genau angeschaut und Details bemerkt, die ich sonst sicher übersehen hätte – die Spinnweben zum Beispiel oder ihre zarten, kleinen Knospen.
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 113: „Grenzen überschreiten"
Nach dem Mittagessen fahren wir zu einem Opferstein, bei dem heute noch Rituale durchgeführt werden. Mir fällt es schwer zu glauben, dass auch dieser Stein am Leben sein könnte. Ich berühre den Stein, und ein Schauer fährt durch meinen Körper. „Der Stein kommuniziert auf diese Weise mit dir“, ist Tekla überzeugt und meint, ich müsse jedoch noch lernen, den Stein zu verstehen. Menschen kommen heute noch an diesen Ort, um die Geister um etwas zu bitten. Die letzte Übung ist Singen. „Lieder haben eine sehr starke Wirkung“, sagt Tekla. Und dann ist die Einführung beendet. Ich verfüge nun über das Basiswissen, um alleine durch die verschiedenen Welten zu reisen.
Mehrere Wochen sind seitdem vergangen. Das Ergebnis ist eher ernüchternd. Die einzige Veränderung, die ich feststellen konnte, ist, dass ich etwas aufmerksamer geworden bin. Beim Wandern achte ich darauf, nicht auf Insekten zu treten, oder ich breche Äste nur ab, wenn ich sie wirklich brauche. Einmal habe ich versucht, mit meiner Topfpflanze zu sprechen. Eine Woche später war ihr Zustand so schlecht, dass sie auf dem Kompost gelandet ist. Ob dabei böse Geister ihr Hände im Spiel hatten? Ich weiß es nicht.
Informationen zu Tekla und ihren Kursen: www.lakegarden.se
Bilder Text © Verena Pichler
Bild Header & Teaser © Pixabay