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Leben

Die kleinen Dinge sind oft die entscheidenden, wenn es darum geht, lächelnd durchs Leben zu gehen.

Am Zeitungsstand im Supermarkt standen die Leser bei ihrer kostenlosen Morgenlektüre. Auch der kleine Junge war da, der damals in meinem Viertel wohnte. Er blätterte in einem Comic-Heft. Die Frau, die zu ihm gehörte, las eine der bunten Illustrierten. Der Junge war ein Sonnenschein, der allen Menschen zulächelte. Ich lungerte in der Kosmetikabteilung herum, um mich von dem Kind noch ein wenig bescheinen zu lassen.
Der Kleine, der auf dem Boden kniete, sah zu der Frau auf. Von seinem Blickwinkel aus sah er zweifellos kein Gesicht, sondern eine Illustrierte mit Beinen. Schmeichelnd fragte er: „Oma?“ Die Frau überflog die Affären der Prominenz. Länger als zehn Minuten konnte sie das kaum tun, sonst hätte sie die Zeitschrift kaufen müssen. „Oma“, sagte der Junge, „ich möchte dir was sagen.“ Die Frau blätterte. „Oma“, sagte das Kind, „ich hab dich lieb.“
Die Frau gab einen routiniert klingenden Laut von sich, ein seit Jahrhunderten bewährtes „Hmm“, das aufdringliche Kinder abwimmelt. Etwas aber musste durch das Papier gesickert sein, eine Energie, die sich zwischen Seitensprüngen und Scheidungsgerüchten hindurchgeschlängelt hatte. Verwirrt hielt die Frau im Lesen inne und schaute sich um auf der Suche nach dem, was da in ihr Leben gekommen war. Unter ihr wendete sich der Junge befriedigt wieder dem Comic zu. Er hatte gesagt, was er zu sagen hatte. Die Frau sah ratlos die Illustrierte an, schlug sie enttäuscht zu und stellte sie zurück ins Regal.

Die Welt ist voll von nicht empfangenen Liebeserklärungen.


Vielleicht gehörte der kleine Junge zu den seltenen Menschen, die von Kindheit an wissen, dass Geliebtwerden und Lebensfreude ihr Geburtsrecht sind, weil man es ihnen schon früh vermittelt hat. In meinem Bekanntenkreis gibt es leider niemanden, auf den das zutrifft. Auch ich erwartete in meiner Kindheit und Jugend von anderen eher Kritik als Freundlichkeit. Ich schaffte es sogar, liebevolle Worte misstrauisch zu wenden und umzudeuten in Ablehnung. Wie schmerzhaft damals alles war, wie eng sich jede Minute des Lebens anfühlte. Im Lauf der Zeit begriff ich, dass niemand mir Lebensfreude schenken kann. Ich musste mich selbst darum kümmern. So entdeckte ich die Praxis der Freude.


Dr. Gustav Dobos, Professor für Naturheilkunde und Integrative Medizin und Chefarzt an den Kliniken Essen-Mitte, sagt: „Das Gehirn braucht vierzig bis fünfzig Wiederholungen, um zu realisieren, dass man es wirklich ernst meint.“ Deshalb gibt es Meditations- und Yogaprogramme für Anfänger, die acht Wochen umfassen. Den Teilnehmern wird geraten, eine tägliche Praxis aufzunehmen. In der Meditation ist das zumeist das regelmäßige Sitzen. Die Länge ist nicht entscheidend. Zehn Minuten reichen anfangs völlig aus. Wichtig ist nur, dass man sich wirklich jeden Tag zur selben Zeit an denselben Platz setzt. Wenn wir dann irgendwann nicht dazu kommen, uns auf das Kissen zu setzen, wird uns das Gehirn signalisieren: Moment, hier fehlt etwas, das dir gutgetan hat.

Niemand kann mir Lebensfreude schenken. Ich muss mich selbst darum kümmern.


Eine herrlich paradoxe Frage: Meinen wir es ernst mit der Lebensfreude? Dann sollten wir das unserem Gehirn mitteilen, indem wir sie regelmäßig praktizieren. Über kurz oder lang werden wir feststellen, welch eine Kraftquelle wir da bisher übersehen haben. Es ist doch so: Nach dem Sektempfang zur Feier der Beförderung wird schnell klar, wie schwer die neue Verantwortung wiegt. Der ersehnte Umzug in das neue Haus ist der Beginn einer Serie von Herausforderungen, die mit so trivialen Dingen wie falsch verlegten Rohren und der Abzahlung von Krediten zu tun haben. Euphorie und Begeisterung sind nicht stabil genug, um die Ernüchterungen, die der Alltag bereithält, zu überstehen. Wenn wir jetzt nicht in depressive Stimmung verfallen wollen, brauchen wir eine andere Kraft, die uns durch die alltäglichen Schwierigkeiten tragen kann.


Für ein Rundfunk-Feature sprach ich einmal in den Zen-Klausen in der Eifel mit der Zen-Meisterin Judith Bossert und ihrer Partnerin Adelheid Meutes-Wilsing, die inzwischen leider verstorben sind. Gastfreundlich hatten mich die beiden in einer ihrer Klausen untergebracht, in der es als Heizquelle nur einen Kaminofen gab. Draußen war es kalt, und ich kämpfte mit Holzscheiten, Anzündern und Streichhölzern. Das Feuer loderte entweder heftig auf und brach schnell zusammen, oder es schwelte dumpf vor sich hin. Erst am Tag meiner Abreise begriff ich, wie man ein Holzfeuer sorgfältig aufbaut und pflegt, damit es lange wärmt.

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Das ist meine Metapher für die Lebensfreude. Auch sie muss bewusst gepflegt werden. Die auflodernde Euphorie, der Spaß und das Vergnügen dürfen ihren Platz im Leben haben, aber sie wärmen nicht nachhaltig. Das kann allein die Lebensfreude, die still und ruhig im Hintergrund immer präsent ist. Aber man darf sie nie für längere Zeit aus den Augen verlieren, dann wird es nämlich kalt und dunkel in uns. Wie also sieht eine tägliche Praxis der Freude aus?


Am Anfang wird sie sich gewöhnungsbedürftig anfühlen. Wer vielleicht Jahrzehnte damit verbracht hat, in jeder Situation das Haar in der Suppe zu finden, muss sich erst damit vertraut machen, die Suppe zu genießen. Dafür müssen die Sinne weit geöffnet werden, es darf geschaut, geschnuppert, gekostet werden. Ich empfehle, am Anfang ein Freude-Buch zu führen und jeden Tag ein paar Momente, Beobachtungen und Begegnungen zu notieren, die Freude gemacht haben: die Tasse Kaffee am Morgen, das erste Veilchen im Garten, ein Satz in einem Buch. Mitten im coronabedingten Lockdown schickte unser Vermieter uns einen Maler ins Haus. Während dieser in meinem Flur eine Stunde lang pinselte, sang er hinter seiner Maske leise und melodisch vor sich hin. Ich freute mich noch am Abend darüber. Freude kann schlichtweg alles machen, denn Freude ist keine Eigenschaft, die den äußeren Dingen des Lebens innewohnt. Sie ist eine Geisteshaltung.

Man darf nichts für selbstverständlich halten, denn alles verändert sich unaufhörlich.


Aber ist das nicht nur eine Variante des „positiven Denkens“? Ignorieren wir damit nicht Ungerechtigkeit, Gewalt und Schmerz in uns und der Welt? Im Gegenteil. Mit unseren jetzt weit geöffneten Sinnen nehmen wir sogar mehr davon wahr – aber die Praxis der Freude hilft uns, auf heilsame Weise damit umzugehen. Zehn Minuten, nachdem mein jüngerer Bruder verstorben war, suchte ich eine stille Fensternische im Flur der Klinik auf, um allein zu sein. Der Parkplatz lag in der glühenden Augustsonne. Hier drinnen war es angenehm kühl. Eine Frau betrat die Klinik mit Blumen, die ein Lebender entgegennehmen würde. Eine andere Frau wiegte ihr Neugeborenes in den Armen. Es gab meinen messerscharfen Schmerz über einen viel zu frühen Verlust. Aber gleichzeitig gab es das Leben, das weiterging und für einige gerade erst begann. Ich sah die Freude im Gesicht der Mutter und in den Augen der Frau mit den Blumen. Die Freude war nicht gestorben, sie hatte in anderen Menschen eine Wohnung genommen. Ich, die stille Zuschauerin am Fenster, konnte an ihr teilhaben in einem Moment, in dem ich zur eigenen Freude nicht fähig war. Weil ich mich nicht in meinem Schmerz verlor, blieb ich verbunden mit dem großen Ganzen, in dem der Tod meines Bruders ein winziger Mosaikstein war.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 116: „Leben, lieben, lachen"

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Shantideva, der Mönchsgelehrte des 8. Jahrhunderts, sagte: „Was immer an Freude ist in der Welt, entspringt dem Wunsch für das Glück aller anderen; was immer an Leiden ist in der Welt, entspringt dem Wunsch nach nur eigenem Glück.“ Damals stand ich an der Kasse im Supermarkt und sah der Frau nach, die mit gebeugten Schultern hinausging. Neben ihr tänzelte ihr kleiner buddhistischer Lehrer, die Verkörperung von Shantidevas Weisheit. Ich hätte die Frau gern am Ärmel gezupft und ihr gesagt: Das Leben hat dir einen Schatz geschenkt. Pass auf, dass du ihn nicht übersiehst. Man darf nichts für selbstverständlich halten, denn alles verändert sich unaufhörlich. Diesen Moment wirst du nie wieder erleben: Du trittst auf die sonnenbeschienene Straße, köstliche Dinge in der Einkaufstasche, die Vögel zwitschern, und dein Enkel neben dir fasst nach deiner Hand. Wann willst du mit der Praxis der Freude beginnen, wenn nicht jetzt?

Margrit Irgang, Schriftstellerin und Meditationslehrerin, praktiziert Zen seit 1984, seit 1992 bei Thich Nhat Hanh. Sie leitet Retreats, schreibt Bücher und Rundfunksendungen zu den Themen Spiritualität und Achtsamkeit und bloggt auf www.margrit-irgang.blogspot.de.

 

Illustrationen © Francesco Ciccolella
Foto © unsplash

Margrit Irgang

Margrit Irgang

Margrit Irgang, Schriftstellerin und Meditationslehrerin, praktiziert Zen seit 1984, seit 1992 bei Thich Nhat Hanh.Sie leitet Retreats, schreibt Bücher und für Rundfunksendungen zu den Themen Spiritualität und Achtsamkeit und bloggt auf:www.margrit-irgang.blogspot.de.
Kommentare  
# Isolde Schnorbach 2021-06-10 05:16
Wunderbarer Artikel ! Genau so ist es. Gassho :-)
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# Diana Micelli 2021-06-13 11:22
Wunderbarer Artikel!
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