Wie aus großem Unglück langes Glück werden kann – eine Alltagsgeschichte. Plus: Ein Lob der Routine.
Der Wecker läutet. Es ist Montag, sechs Uhr früh. Lisa steht auf. Sie geht in die Küche, richtet sich in täglich praktizierter Wiederholung ihr Frühstück: Kaffee, zwei Scheiben Vollkornbrot, etwas Butter darauf, etwas selbst gemachte Marmelade. Sie setzt sich an den kleinen Küchentisch, den sie immer nutzt, wenn sie alleine frühstückt, also jeden Morgen. Noch eine halbe Stunde, bis sie die Kinder wecken muss. Ihr Blick geht ins Narrenkästchen. Ein Bissen Brot, kauen, ein Schluck Kaffee, schlucken.
Lisa geht im Kopf alle organisatorischen Punkte des Tages durch: Kinder wecken um 6:30 Uhr, sie antreiben zum Frühstück, sie antreiben zum Anziehen, sie antreiben, die Schultaschen fertig herzurichten. Um sieben Uhr mit ihnen zur Tür hinaus, sie im Auto nach vorne, die zwei nach hinten. Die kurze Fahrt zur nächsten Busstation. Um 6:42 geht der Bus. Kinder aussteigen lassen, alleine weiterfahren zur Arbeit, eine Stunde nach Graz, wo sie um 7:40 Uhr, wenn der Verkehr ihr keinen Strich durch die Rechnung macht, in der firmeneigenen Garage ankommt. Arbeit bis 17 Uhr mit einer kurzen Mittagspause. Zur Garage, zum Auto, in einstündiger Fahrt wieder nach Hause, wo sie um etwa 18 Uhr ankommt.
Die Kinder sind dann schon daheim, gemeinsam Abendessen kochen, meist warm, damit die Kinder einmal am Tag etwas Warmes bekommen. Heute gibt es Reisfleisch, das lieben sie. Beim Abendessen erzählen die Kinder, was alles passiert ist. Tratsch über die Lehrer, die Mitschüler, wer mit wem gerade geht. Lisas Töchter sind 14 und 16 Jahre alt. Hausübungen nachbesprechen, bevorstehende Schularbeitsvorbereitungen abklären, um 20:30 sollen die Kinder im Bett liegen. Da ist Lisa unter der Woche streng, am Wochenende nicht so, bis dahin ‚freies Beschäftigen‘.
Lisa macht den Haushalt, räumt Teller weg, saugt Wohn- und Schlafbereich, das macht sie täglich, wegen der Stauballergie der Älteren. Dann liest sie, hört Musik und wenn die Kinder im Bett liegen, sieht sie ein bisschen fern. Um 22 Uhr ist dann Schluss.
Am nächsten Tag das gleiche Prozedere. Noch 15 Minuten bis zum Wecken der Kinder. Lisa ist glücklich. Sie lächelt ins Narrenkästchen. Alles ist so passiert, wie sie es sich immer erträumt hatte: Zwei gesunde Kinder, sie selbst ist auch gesund, ein schönes Haus auf dem Land und wenn ihr Mann am Freitagabend aus Wien kommt, dann hat sie auch wieder einen wunderbaren Ehemann.
Mehrmals am Tag telefonieren sie, sie und ihr Mann, der erste Anruf im Auto auf der Fahrt nach Graz, das erste SMS schon gleich nach dem Aufstehen. „Gut geschlafen, Liebling?“, liest sie gerade nebenbei, tippt – in ihrem Tagtraum verhaftet – leichtfingrig wie hundert Mal davor „Wie ein Stein, wie immer, und Du? Eh nicht zu lang ferngeschaut?“ ins Handy. Anrufe und SMS begleiten sie dann durch den ganzen Tag. Ihr Mann ist in Gedanken immer bei ihr, ebenso wie sie in den Gedanken ihres Mannes ist.
Was könnte man sich mehr wünschen vom Leben als genau das? Lisa weiß, dass die meisten mit einem Leben wie diesem unzufrieden wären: Täglich die gleiche Leier, die gleichen Handlungen, der gleiche Zeitdruck, der gleiche Stau. Das stört sie nicht, denn sie hat ihre Lektion gelernt, den Wink des Schicksals verstanden. Es war dieser eine Moment vor drei Jahren gewesen, der fast alles zerstört hätte, der Autounfall. Den Nachrang nicht beachtend, war er ihr, sie mit den Kindern gerade auf dem täglichen Weg nach Graz, an der Stelle noch vor dem Aussteigen der Kinder an der Busstation, mit voller Wucht rechts seitlich in ihr Auto gekracht, hatte Nora, die Jüngere, eingeklemmt und sie schwer verletzt. Der Notarzthubschrauber war innerhalb von fünf Minuten da gewesen, hatte Nora in die Unfallklinik nach Wien gebracht, sie, die Mutter, gleich auch mitgenommen, Alice, ihre Ältere, war – Gott sei Dank unverletzt – bei der gleich eingetroffenen Nachbarin zurückgelassen worden.
Die Operation hatte sechs Stunden gedauert. Neben Milzriss und viel Blut im Bauchraum, neben zwölf Knochenbrüchen und Prellungen an Gehirn- und Gesichtsschädel hatte dieser eine Moment des Unfalls ihrer Tochter auch noch einen Schnitt quer über ihre linke Wange gesetzt. Sechs Stunden Operation, sechs Monate Rehabilitation. Heute kann Nora wieder normal laufen, sich ganz normal bewegen. All das Metall in ihren und um ihre Knochen ist auch schon wieder entfernt. Wie durch ein Wunder kein bleibender Schaden, Nora glücklich und unbeschwert.
Die eine Narbe auf ihrer linken Wange wird bleiben. Sie erinnert Lisa täglich an das Geschehene. „Die kannst du dir einmal kosmetisch wegoperieren lassen!“, sagte Lisa kürzlich zu Nora. „Das will ich gar nicht, Mama!“, antwortete Nora. „Ich will nicht vergessen, Mama! Ich will nicht vergessen, wie du sofort bei mir warst, als ich in dem Autowrack eingeklemmt war. Du bist hineingeklettert über den Vordersitz, hast dich zu mir gesetzt, mich gestreichelt und beruhigend auf mich eingeredet, warst da, jede Sekunde, und ich wusste, mir konnte nichts passieren. Und als mich die Feuerwehrmänner dann aus dem Wrack geschnitten hatten, hieltest du meine Hand, hast keine Sekunde losgelassen, mich immer angelächelt, bist mit mir dann mitgelaufen, ich auf der Trage, mit in den Hubschrauber hinein.
Ich habe das gespürt, was du die ganze Zeit gesagt hast, dass wirklich alles gut ist. Ich will nicht vergessen, wie ihr, Papa, Alice und du, an meinem Bett gestanden habt, ganz nah, mich gefühlt überall gestreichelt habt, wie ich nach der Operation erwacht bin. Die Schmerzen waren vergessen beim Lachen eurer Gesichter! Ich wusste, dass mir nichts passieren konnte, weil ihr immer bei mir wart und immer bei mir sein werdet, vom ersten Tag meiner Geburt an bis zu dem Moment, wo einer von uns die Welt verlässt. Immer!
Und die lange Zeit der Rehabilitation: Wir haben sie gemeinsam durchgestanden. Ihr habt mich täglich überall hingebracht, zu den Physiotherapeuten und den Ergotherapeuten, den Schmerztherapeuten und der Psychologin. Papa war sogar jeden Tag nach Hause gekommen, hatte seine Arbeit in dieser Zeit vollkommen umgestellt. Es war mir vor dem Unfall nie bewusst gewesen, wie beschenkt ich bin, wie sehr Gott oder das Schicksal oder das Universum mich lieben musste! All das, was mir vor dem Unfall wichtig gewesen war, auf einmal vollkommen unbedeutend! All das neueste Gewand, die neuesten Schuhe, die neueste Schminke unwichtig und unbedeutend! Der Urlaubsort im Sommer – unbedeutend. Blöde Gerüchte und blöde Sprüche in der Schule – unbedeutend.
Bedeutend waren wir, das habe ich gespürt, bedeutend wir als Familie, bedeutend ich für euch, weil ihr das alles für mich gemacht habt! Und kein einziges Mal hat irgendwer von euch gejammert! Selbst Alice war da bei uns, die sich vorher immer absentiert hatte, ihr beiden ‚peinlich‘ für sie. Heute seid ihr Alice nicht mehr peinlich! Der Schock des Unfalls hatte sie auch wachgerüttelt. Heute weiß sie, was für besondere Menschen ihr seid! Selbstlos, fröhlich, voller Liebe, voller Kraft und immer da für uns! Ich will das alles nicht vergessen, Mama, weil es mich ausmacht, weil der Unfall fortan ein Teil meines Lebens ist, weil ihr mich ausmacht.
Und auch wenn das Ganze ganz anders ausgegangen wäre, wenn ich heute im Rollstuhl sitzen würde, was die Ärzte ja befürchtet hatten, weiß ich, würden wir das genauso schaffen! Ein paar kaputte Beine könnten uns doch nicht unterkriegen! Solange du da wärst, mit deinem Lächeln hinter deinen tränenden Augen, mit deiner Hand an meiner Wange, meine Tränen abwischend, könnte mir nichts passieren!“
Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 108: „Anleitung zum Glücklichsein"
Und Lisa hat ihre Tochter lange angesehen. Tränen in allen vier Augen. „MEINE Tochter“, hatte sie gesagt, „ein Buddha!“ Wie hatte sie selbst das alles nur vergessen können, vor dem Unfall, es nicht wertschätzen können, ihr Leben, ihre Familie. Hatte das wirklich alles sein müssen, der Unfall und alles danach ...?
Ja, es hatte sein müssen! Es hatte so sein müssen, weil es einen großen Plan gibt, dachte Lisa, einen, den wir alle nicht verstehen. Nora versteht ihn. Sie ist noch ein Kind, gerade noch, und hat noch diesen direkten Zugang zu sich und der Schöpfung, jenen Zugang, den unsere Gesellschaft konsequent zerstört, alles nur, um funktionierende, manipulierbare Jungwesen zu schaffen, Kinder der Konsumgesellschaft. All das nur, um desillusionierte, traumlose Wesen in eine Welt zu setzen, in der Wert an Verkaufszahlen und ‚Likes‘ gemessen wird.
Es ist Zeit, an diesem einen Morgen kurz vor 6:30, die Kinder zu wecken. Lisa geht, wie immer, zuerst zu Alice. Sie braucht länger, um wach zu werden. Lisa küsst sie auf die Stirn, flüstert ein leises „Guten Morgen, mein Engel!“ und ignoriert das „Waaas, schon?“. Dann zieht sie eine Türe weiter, zu Noras Bett. „Guten Morgen, Buddha!“, ist der ‚Running Gag‘ zwischen Lisa und Nora. „Mama!“, grunzt Nora zurück und grinst. „Ich hab’ dich lieb, Mama!“, sagt Nora. „Ich hab’ dich auch lieb, Nora!“, entgegnet Lisa.
Sie löst sich aus den Armen ihrer Tochter, streicht ihr noch einmal liebevoll über die linke Wange mit der Narbe, geht in die Küche, bereitet das Frühstück, darauf gefasst, sie auch diesen Morgen antreiben zu müssen. Lisa lächelt. Sie ist glücklich! „Das wird ein wunderbarer Tag!“, denkt Lisa. „Mindestens so wunderbar wie jeder Tag unseres kleinen Lebens!“
Georg Weidinger, Der Klang der Mitte – Geschichten eines musikalischen Chinesenarztes, OGTCM Verlag 2019
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