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Leben

Wie Väter ihre Söhne beeinflussen, was daran gut und generationenübergreifend ist.

„Familie ist ein Erkennungszeichen der Freiheit, denn die Familie ist die einzige Sache, die ein freier Mensch durch sich und für sich gestaltet“. Dies schrieb der englische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton in seinem Buch „On Lying in Bed and Other Essays“ und sah dabei vor allem die persönliche Verantwortung und aktive Arbeit für das Gelingen dieser Form der Lebensgemeinschaft. Dem gegenüber steht die oft zu hörende Lebensweisheit: „Freunde kann man sich aussuchen, seine Familie aber nicht", die das klaustrophobe Gefühl beschreibt, wenn man sich mit Leuten, die einem eigentlich fremd sind, verbunden fühlen sollte.

Der Aufgabe, über die persönliche Beziehung zu einem Familienmitglied zu schreiben, muss aber zuerst eine Begriffsklärung vorangehen. Wer gehört eigentlich zur Familie? Je nach fachlicher Betrachtung gibt es dazu verschiedene Definitionen: Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler subsumieren unter diesem Begriff all jene Personen, die in einem gemeinsamen Haushalt zusammenleben. Dazu können auch biologisch oder rechtlich nicht verwandte Personen zählen. Aus Sicht der Juristen geht es vielmehr darum, ob jemand ein ‚Angehöriger‘ einer anderen Person ist. Dadurch entstehen Rechte und Pflichten, die zum Beispiel Erbfolgen regeln, Fürsorgeaufgaben beschreiben oder auch das Eheverbot in der Verwandtschaft festlegen.

Historisch leitet sich der lateinische Begriff „familia“ von „famulus“ (Diener, Sklave) ab. Familie und die damit unmittelbar verbundene Position des „pater familias“ waren Herrschaftsbezeichnungen, die Machtverhältnisse beschrieben. Der männliche, biologische Erzeuger, also der Vater, wurde hingegen „genitor“, nicht „pater“ genannt.
Diese kleinste, hierarchische Sozialstruktur der Großfamilie mit Angehörigen mehrerer Generationen und Seitenlinien dominierte viele Jahrhunderte die europäische Gesellschaft.
Erst im Laufe der industriellen Revolution, mit dem Zuzug in die Städte und dem Aufkommen bürgerlicher Familien, entstand auch der Begriff der Kernfamilie, bestehend aus Vater, Mutter und Kindern.

In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entwickeln sich ausgehend von Westeuropa weitere Formen, die zunehmend zur Auflösung der primär durch Ehepartner geformten „Gattenfamilie“ beitrugen. Heute sind uns Wohngemeinschaften mehrerer Generationen, gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Alleinerzieherhaushalte bis hin zur sogenannten Patchworkfamilie vertraut. Kinder haben dabei oft mehrere, verschiedene Bezugspersonen, mit denen sie in unterschiedlicher Intensität und zeitlicher Dauer emotional verbunden sind.
Auch die Gesetzgebung hat mittlerweile auf diese Änderung der Lebensverhältnisse reagiert und nicht eheliche Verbindungen durch die eingetragene Lebenspartnerschaft oder das gemeinsame Sorgerecht unverheirateter Paare legalisiert.

Heute sind uns Wohngemeinschaften mehrerer Generationen, gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Alleinerzieherhaushalte bis hin zur sogenannten Patchworkfamilie vertraut.

Und genau diese Transformation der gesellschaftlichen Familienverhältnisse konnte ich mit meinem Vater erleben. Er wurde 1935 kurz vor den Wirren des Zweiten Weltkriegs geboren. Sein Vater wurde 1940 zur Wehrmacht eingezogen, und nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft zerbrach die Ehe. Die Erziehung dieser Kriegskindergeneration erfolgte fast ausschließlich durch Frauen. Durch den Blutzoll des Kriegs fehlten Männer weitgehend als Identifikationsfiguren bei dieser Aufgabe. Das hatte für mich den Vorteil, dass ich ohne die üblichen patriarchalen Dominanzrituale und unbedroht von körperlicher Gewalt aufwachsen konnte.

Eine „g‘sunde Watsch’n“ gehörte damals zu den allgemein anerkannten und sogar eingeforderten pädagogischen Methoden. Nur ein einziges Mal bekam ich von meinem Vater am Höhepunkt meiner Pubertät und im Zuge eines heftigen Wortwechsels eine Ohrfeige, die allerdings mehr einem sanften Backenstreich glich. Seine unbeherrschte Reaktion war ihm sofort unangenehm, wir standen uns direkt gegenüber und brachen dann beide ob der absurden Situation in lautes Gelächter aus. Gewalt lehnte er in jeder Form ab, und mein Geburtstagswunsch nach einem Kapselrevolver wurde von ihm strikt mit dem Hinweis abgelehnt, dass es kein Spiel sei, andere Menschen mit einer Pistole zu bedrohen.

Andererseits bedauerte ich in manchen Situationen den Mangel meines Vaters an traditioneller Maskulinität. Andere Kinder gingen sonntags mit ihren Vätern zum Fußballmatch, ein Sport den er als grob und unintelligent ablehnte. Manche Männer in unserer Wohnhausanlage beeindruckten uns gerne mit einer Zurschaustellung ihrer körperlichen Kräfte, indem sie ein parkendes – kleines – Auto an der Stoßstange anhoben, mit einem „Karateschlag“ einen Ziegel zertrümmerten oder die Halbwüchsigen mit großmäuligen Geschichten aus ihrem Wirtshausleben abfüllten.

Väter


Nur Wissen war und ist für meinen Vater eine legitime Form, von der Welt Besitz zu ergreifen. Wenn meine Mutter beim Sonntagsspaziergang den schönen blauen Himmel bewunderte, dann erklärte er uns, dass sich das Sonnenlicht an den kleinen Staubkörnchen und Wassertröpfchen in der Luft in Strahlen in einzelne Farben wie Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau und Violett zerlegt. Und da blaues Licht energiereicher als rotes Licht sei, würde es in der Atmosphäre stärker gestreut, weswegen wir den Himmel in dieser Farbe wahrnehmen. Sein technisch-nüchterner Blick auf die Welt hat sicherlich auch einige romantische Sonnenuntergänge für meine Mutter entzaubert.

Als ich dann – aus meiner damaligen Sicht endlich – aus der elterlichen Wohnung auszog, führte die räumliche Distanz sogar zu größerer emotionaler Nähe. Ich konnte nach Überwindung der jugendlichen Sturm-und-Drang-Zeiten mit unbelastetem Blick auf unsere Vater-Sohn-Beziehung blicken. Er freute sich immer, mich zu sehen, und ich schätzte seine Anleitung in handwerklichen Dingen, die mir ermöglichten, selbst Wände zu tapezieren, Steckdosen zu verlegen und Bücherregale zu bauen.

Es wurde mir aber auch möglich, mich in ihm zu erkennen. Nicht nur in der Biologie, sondern auch in Geisteswissenschaften wie Psychologie und Soziologie ist eine der zentralen Fragen zum Verständnis unserer Existenz, ob menschliches Verhalten, körperliche und charakterliche Merkmale und Fähigkeiten biologisch vererbt oder umweltbedingt erworben sind. Seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ist es unbestritten, dass an der Entwicklung unserer Fähigkeiten immer beide Faktoren beteiligt sind. Gegenwärtig fokussiert sich die wissenschaftliche Diskussion darauf, in welcher Weise Anlage und Umwelt die individuelle Entwicklung beeinflussen. Über etwa 20.000 Gene verfügt ein Mensch. Dieser Bauplan legt nicht nur die Augenfarbe und den Körperbau, sondern auch Eigenschaften wie Musikalität oder Sportlichkeit und fest.


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 110: „Familienbande"

UW 110 cover


Bei manchen meiner Vorlieben und Abneigungen bin ich mir nicht sicher, ob ich sie von meinem Vater übernommen habe: So halte ich Fußball ebenso wie er für eine grobe und unintelligente Sportart. Vielleicht aber waren für diese Einstellung vielmehr meine groben Mitschüler in der Volksschule verantwortlich, die mich in den Schwitzkasten nahmen und wissen wollten, zu welcher Fußballmannschaft ich hielt. Andererseits verblüffen mich immer wieder manche unerwarteten gemeinsamen Merkmale, etwa die Fähigkeit, die genaue Anzahl von Dingen blitzschnell zählen zu können. Familie ist, wie in einen Zerrspiegel zu schauen. Manchmal erscheint mir der Anblick grotesk und fern von meinem „wirklichen“ Selbst. Und manchmal erschrecke ich über das mich zur Kenntlichkeit entstellende Spiegelbild.

Die Auseinandersetzung mit Familie ist oft herausfordernd, aber sie ist – um den eingangs zitierten Spruch G.K. Chestertons abzuwandeln – zugleich auch ein Erkennungszeichen bedingungsloser Liebe. Freunde hingegen sucht man sich aus.

Peter Iwaniewicz ist Biologe und Journalist. Er unterrichtet an der Universität Wien Wissenschaftskommunikation und ist Autor zahlreicher Bücher.


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Dr. Peter Iwaniewicz

Dr. Peter Iwaniewicz

Peter Iwaniewicz ist Biologe, Journalist und Kulturökologe. Er unterrichtet an der Universität Wien Wissenschaftskommunikation und ist Autor zahlreicher Bücher.
Kommentare  
# Dirk 2020-06-26 13:57
Bin ein großer fan
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# Avi 2020-06-26 14:00
liber Peter, mein Vater war jahrgang 32, leider haben wir ihn vor 22 Jahren verloren. und wenn ich Deine Beschreibung lese, sehe ich meinen Vater vor mir. Sehr ähnlich....hmmmm. eine schwierige generation. viel Unsicherheit, mein Vater war noch dazu auch mit einer früh verwitweten und eher nicht-mütterlichen Mutter aufgewachsen, scheu, liebesbedürftig...Alles Libe, Peter. ich lese immer wieder gerne von Dir. auch auf faceboook, wo ich eigentlich kaum unterwegs bin...Ava Phoenix/Avi
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