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Leben

Die Zen-Nonne Kankyo Tannier zeigt, wie man im stressigen Alltag Ruhe finden kann.

Vor über zwanzig Jahren beschloss Kankyo Tannier als junge Frau, in ein Zen-Kloster in Frankreich zu ziehen und Nonne zu werden. Heute ist sie als „Nonne 2.0“ bekannt – hält TED-Talks, betreibt einen Blog und betreut den Social-Media- Auftritt des Klosters, in dem sie lebt. Soeben ist ihr neues Buch, „Unterwegs ins Hier und Jetzt“, erschienen, in dem sie erklärt, wie Spiritualität in den Alltag integriert werden kann. Ursache\Wirkung hat sie per Skype erreicht – am Vormittag, Kankyo schaltet am Nachmittag als Teil ihrer Praxis sämtliche Netzzugänge ab.

Sie sind über ein Buch des Dalai Lama zum Buddhismus gekommen – was hat Sie daran so beeindruckt?
Ich habe es als junge Studentin Anfang der 1990er-Jahre in meiner Stadtbibliothek entdeckt. Plötzlich habe ich das Cover mit seinem Gesicht gesehen und gedacht: „Das ist gut, das sollte ich nehmen.“ Auf einer Terrasse habe ich begonnen, es zu lesen. Die Idee der Interdependenz, also dass alles in Verbindung steht, war beeindruckend. Vorher war ich alleine in meiner Welt, aber nachdem ich das Buch gelesen hatte, hat alles begonnen, sich zu öffnen. Die Welt ist plötzlich groß geworden. Es gab viel Platz, viel Raum. Wir sind alle Wellen in einem großen Ozean, aber gleichzeitig auch der Ozean. Ich war neunzehn Jahre jung, ein bisschen verloren, da ging das sehr tief.

Das war der Anfang, und was kam dann?
Ich habe dann viele Bücher über Buddhismus gelesen, später habe ich im Kloster Studienretreats gemacht. Dann habe ich das Zen-Kloster von Meister Deshimaru Roshi in Frankreich entdeckt. Ich habe mit der Zazen-Praxis, einer Art der Zen-Meditation im Kloster, begonnen. Bei dieser Übung habe ich die gleichen Ideen von Raum und Präsenz wiederentdeckt, die mich ursprünglich so beeindruckt hatten.

Sie entschieden sich, Nonne zu werden. Hatten Sie keine Ängste?
Ich wurde nicht sofort Nonne, sondern lebte erst einmal nur im Kloster. Es gab überhaupt kein Gefühl von Angst. Es war so einfach. Mir war klar: Das ist das Leben, das ich möchte. Schon zuvor hatte ich eine sehr spirituelle Umgebung, ich bin katholisch aufgewachsen, Klöster und Nonnen haben mich immer fasziniert. Und dann kam diese Religion in mein Leben. Sie war ein bisschen fremd, sie war nicht die Religion meiner Eltern. Sie weckte eine Lust in mir, sie zu entdecken. Es gab keine Angst. Erst zwei Jahre danach wurde ich Nonne. Die Schwierigkeiten kamen erst später.

Inwiefern?
Ich war anfangs sehr idealistisch. Das Spirituelle, das Zusammenleben war wie eine Art Wunschtraum für mich. Im Kloster lebt man in einer engen Gemeinschaft zusammen, in der es sehr viele verschiedene Personen und Charaktere gibt. Es war ein Abenteuer, und ich musste lernen, Geduld zu haben und die eigenen Emotionen zu beruhigen. Anfangs war ich sehr schlecht darin. (lacht)

Wie hat Ihr Leben als Nonne die Beziehung zu Ihrer Familie geändert?
Am Anfang war meine Familie über meinen Weg überrascht, doch keiner war gegen meine Entscheidung. Sie haben mich ein Jahr nach meinem Eintritt sogar besucht und eine Woche lang in der Gemeinschaft gelebt und praktiziert. Da haben sie verstanden, dass es wie ein katholisches Kloster ist, mit Regeln und einem Tagesablauf. Sie waren sehr zufrieden mit meiner Entscheidung. Meine Geschwister haben mittlerweile eigene Familien. Sie stellen viele Fragen. Wenn es Probleme gibt, wie zum Beispiel Tod oder schwere Krankheiten, wissen alle, dass sie zu mir kommen können. Ich bin mit meinem buddhistischen Support für sie da.

Wirkt Ihr Leben im Vergleich zu dem Ihrer Familie nicht manchmal altmodisch?
Das spirituelle Leben ist sehr modern. Manchmal denken wir, Spiritualität ist altmodisch. Aber eigentlich ist sie sehr wichtig, ja notwendig für unsere Gesellschaft. Gerade in Zeiten des Klimawandels, der unsere Zukunft sehr beängstigend macht, sollten wir dringend mehr Spiritualität in unsere Leben bringen.

Was ist Spiritualität für Sie?
Oft glaubt man, Spiritualität bedeutet automatisch, ins Kloster zu gehen oder spezielle Orte der Praxis schaffen zu müssen. Aber meine Idee ist, dass man in seinem Leben immer – bei der Arbeit, in der Familie, egal wo – den Tropfen der Spiritualität destillieren kann. Jedes Mal, wenn man das macht, ist es eine Gelegenheit, sich dem Universum gegenüber zu öffnen. Damit meine ich: die Geräusche wieder hören, sehen, was rundherum passiert. Viele Leute leben nur im Kopf, im Gefängnis des eigenen Gehirns. Sie denken, sie seien am Leben, aber sie leben nicht wirklich. Es gibt viele kleine Übungen, die helfen, sich der Gegenwart zu öffnen und im Hier und Jetzt zu sein.

Spiritualität
Was bringt das Im-Hier-und-Jetzt-Sein?
Man kann sich zum Beispiel aktiv entschieden, einen Menschen anzuschauen. Wenn man jemandem wirklich in die Augen schaut, schafft man eine Verbindung, die es erlaubt, nicht nur im eigenen Kopf zu bleiben. Diese Verbindung kann man aktiv suchen. In der Familie kann man sich zum Beispiel vor dem Essen ein paar Momente nehmen, um Stille zu praktizieren oder ein paar Worte der Dankbarkeit zu sprechen, denn die Handlungen während der Mahlzeit sind so wertvoll wie ein Diamant. Man kann aber auch einfach nur das Handy ausschalten und wieder bewusst riechen, hören oder die eigene Atmung fühlen. Dann kommt die Spiritualität, die Öffnung, von alleine. Sie entsteht nicht im Kopf. Es ist Dasein. Wenn wir wirklich präsent sind, öffnet sich das Leben zu höheren Ebenen.

Wie findet man Zeit und die Ruhe für solche spirituellen Momente?
Auch inmitten des Chaos im Alltag gibt es sehr ruhige Räume. Stimmt: Frauen und Männer mit Kindern haben sehr viel zu tun. Vielen denken, dass es gut wäre, jetzt mit den Kindern auch noch Aufmerksamkeit und Spiritualität zu üben – als Extra-Aufgabe neben Musikunterricht und Sport sozusagen. Jetzt also sollen sie auch noch mit einem Frosch meditieren! (lacht)
Das ist zu viel. Spiritualität kann aber wie ein Geschenk für die Eltern sein. Sie können zum Beispiel mit ihren Kindern sein, aber dabei auf ihre eigene Atmung achten – bei sich bleiben also, auch wenn rundum viel passiert. Das ist ein Geschenk, das sich jeder selbst machen kann.

Und dann?
Nun ja, das hat Auswirkungen. Die meisten Erwachsenen möchten tolle Eltern sein, wollen alles für ihre Kinder tun. Der dahinterliegende Gedanke ist: Wenn man selbst innerlich gut ist, werden die eigenen Kinder auch einmal gut und folglich sehr gute Eltern werden. Das ist aber gefährlich, weil das schnell Schuldgefühle wecken kann.

Was stattdessen?
Ich plädiere dafür, dass man sich im täglichen Leben des Elternseins kleine Lichter gönnt. Kleine Übungen, die sehr einfach und unbemerkt durchgeführt werden können – wie eben wieder zu hören, wieder zu atmen. Das eigene Kind muss das nicht wissen. Man macht das nur für sich. Ansonsten ist die Gefahr groß, dass die Spiritualität als große Last auf unseren Schultern empfunden wird.

Man lehrt Kinder schwimmen, damit sie später nicht ertrinken. Gibt es denn auch spirituelle Übungen, die man seinen Kindern beibringen sollte?
Es gibt zwei wichtige Dinge. Erstens muss man lernen, wie man atmet. Viele Menschen atmen ganz falsch, viel zu weit oben. Das ist eine sehr stressige Atmung. Bevor ich Nonne wurde, war ich Gesangslehrerin. Die Atmung aus dem Bauch fördert eine gute Haltung, bringt Energie und Selbstvertrauen ins Leben. Das gilt übrigens für Kinder genauso wie für Erwachsene. Zweitens ist es wichtig, ein Bewusstsein für die Gedanken zu schaffen, die wir haben. Die geschaffene Distanz zu unseren Gedanken macht das Leben leichter. Es ist so wichtig, zu lernen: Ich bin nicht dieser oder jener Gedanke. Auch Kinder können das lernen, es gibt sehr lustige Methoden dafür.

Das Internet und das Handy haben eine dominante Rolle eingenommen. Hast du als „Nonne 2.0“ Tipps, wie man damit umgehen soll?
Je länger ich mit diesen Themen arbeite, umso mehr wird mir klar, wie schwierig sie sind. Vor einigen Monaten habe ich mich dazu entschlossen, mein Leben zu teilen: Morgens arbeite ich mit dem Computer, am Nachmittag kümmere ich mich um meine Pferde. Ansonsten, wenn wir so viel Zeit vor einem Screen verbringen, sind wir wie hypnotisiert. Ich habe viel probiert, um bei meiner Arbeit fokussiert zu bleiben. Aber ich muss sagen: Es ist fast unmöglich, weil alles so schnell läuft. Also würde ich Menschen raten, so oft wie möglich ihre Geräte einfach abzuschalten. Wenn die Arbeit vorbei ist: Mach etwas anderes! Schau dir die Bäume an, verbringe Zeit mit Tieren, sprich mit Menschen. 

Kankyo Tannier ist eine buddhistische Zen-Nonne. Sie unterrichtet Zen-Meditation, gibt Seminare, Retreats und tritt auf Konferenzen als Rednerin auf. Ebenso arbeitet sie als Hypnosetherapeutin. www.dailyzen.fr
 
Tipp zur Vertiefung: Kankyo Tannier: Unterwegs ins Hier und Jetzt, Lotos 2019 

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Foto © Manuela Böhme
Dr. Anna Sawerthal

Dr. Anna Sawerthal

Dr. Anna Sawerthal ist Tibetologin und Journalistin. Sie studierte in Wien, Nepal, Lasha und Heidelberg. Sie lebt in Wien.
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